Die Rassentheorie des Grafen Joseph Arthur de Gobineau. Eine Analyse des 'Essais', seiner Vorläufer und seiner Folgen


Diplomarbeit, 1998

140 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Aufbau der Arbeit

2. Verwendete Literatur und aktueller Forschungsstand

3. Problematik des Rassenbegriffs
3.1. Herleitung des Rassenbegriffs
3.2. Biologischer und soziologischer Rassenbegriff
3.3. Herausbildung der Anthropologie bis Gobineau
3.4. Entwicklung der anthropologischen Methoden bis Gobineau
3.5. Lamarckismus und Darwinismus
3.6. Bildung von Rassenhierarchien bis Gobineau

4. Rassenkonflikte, Rassismus und Rassentheorien
4.1. Einige Ausführungen zum Rassismus
4.2. Euroamerikanischer Rassismus im Kontext des arischen Mythos
4.3. Rassenkonflikte – In Wahrheit nur Gesellschaftskonflikte?
4.4. Funktionen von Rassentheorien

5. Historische Betrachtung der Entwicklung bis Gobineau
5.1. Allgemeine Vorbemerkungen
5.2. Geschichte des Rassismus bis Gobineau
5.3. Entwicklung der Rassenkonzepte bis Gobineau
5.4. Entwicklung der Rassentheorien bis Gobineau

6. Zusammenfassung

7. Die Rassentheorie Gobineaus
7.1. Allgemeines und Aufbau des „Essais“
7.2. Ausführungen Gobineaus zu den „Hauptrassen“
7.3. Ausführungen Gobineaus zur Rassenvermischung
7.4. Ausführungen Gobineaus zur Degeneration
7.5. Zu den positiven Aspekten der Rassenvermischung
7.6. Ausführungen zu der Ungleichheit der „Menschenrassen“
7.7. Ausführungen Gobineaus zu den verschiedenen „Rassen“
7.8. Zur Rassenvermischung und zum Niedergang der Zivilisationen

8. Wissenschaftlichkeit, Fatalismus und Pessimismus des „Essais“

9. Wirkung des „Essais“ und seine Beurteilung in der Literatur

10. Schlußbetrachtung

Literatur- und Quellenverzeichnis

Einleitung

Seit Ende des 18. Jahrhunderts, spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts, entwickelte sich in Mittel- und Westeuropa ein „rassisches Denken“, durch das die verschiedenen Menschen der Erde in „Rassen“ eingeteilt wurden. Neu war dies freilich nicht, fanden sich doch schon bei Aristoteles ähnliche Elemente wie in den Rassentheorien des 19. Jahrhunderts.[1] Das „rassische Denken“ erreichte nun aber eine neue Dimension.

Dieses war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur in einzelnen Fragmenten und Ansätzen vorhanden. Es existierte bis zu diesem Zeitpunkt keine allumfassende Theorie, keine Rassentheorie, in der die verschiedenen Vorstellungen und „Kenntnisse“ über „Rassen“ zusammengefaßt und „wissenschaftlich“ begründet waren. Solch eine Theorie wurde erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Joseph Arthur Graf von Gobineau entworfen.

In dieser Theorie trat als eine Art Rassenphilosophie zum ersten Mal klar hervor, was bei Ernst Moritz Arndt und „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn noch unklar angedeutet war: Der biologische Materialismus verkündete die völlige Abhängigkeit des Menschen von seinen Erbanlagen und damit in letzter Konsequenz seine Willensunfreiheit.[2]

Joseph Arthur Graf von Gobineau[3] wurde am 14. Juli 1816 in Ville d’Avray bei Paris geboren und verstarb am 13. Oktober 1882 in Turin. Gobineau wurde in Frankreich und in der Schweiz erzogen. Er diente der zweiten und dritten Republik sowie dem zweiten Kaiserreich als Diplomat; daneben widmete er sich der Schriftstellerei. 1849 wurde er „Chef de Cabinet“ unter Tocqueville während dessen kurzer Amtszeit als Außenminister. 1851 wurde er Gesandtschaftssekretär in Bern und bekleidete später diplomatische Posten in Hannover, Frankfurt, Teheran, Athen, Rio de Janeiro und Stockholm. Seit 1877 lebte er zurückgezogen und widmete sich ausschließlich seiner schriftstellerischen Arbeit. Diese umfaßte neben seinem ‚Rassenwerk‘ „Essai sur l’inégalité des races humaines“[4] orientalische Studien, kulturgeschichtliche Darstellungen und eine Reihe schöngeistiger Schriften.[5]

Gobineau gehörte dem Kreis um Richard Wagner an. Mit seiner Abhandlung „Essai sur l’inégalité des races humaines“, in der er die Gleichwertigkeit der Menschen verschiedener „Rassen“ leugnete und die Überlegenheit der „arischen Rasse“ demonstrieren wollte, übte er auf Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain, Friedrich Nietzsche und die imperialistische Bewegung, die auch im Zusammenhang mit der Theorie des Sozialdarwinismus[6] zu sehen ist, entscheidenden Einfluß aus. Des weiteren lieferte er mit seiner Abhandlung Argumente für den Rassenfanatismus des Nationalsozialismus. In den „Gestalten der Renaissance“ sah er den Ausnahmemenschen, den er verherrlichte, verkörpert. Mit dieser Verherrlichung nahm er Nietzsches Vorstellung vom Übermenschen[7] vorweg.

1. Aufbau der Arbeit

„Die Ungleichheit der Menschenrassen“, ein Werk, das zunächst ohne große Resonanz blieb, gilt als das Hauptwerk Gobineaus und steht im Mittelpunkt dieser Arbeit. Bevor jedoch auf die Rassentheorie Gobineaus eingegangen wird, wird im Vorfeld untersucht, was unter „Rasse“ – auch aus heutiger Sicht – zu verstehen ist. Es geht hierbei vor allem um die Problematik des biologischen und des soziologischen Rassenbegriffs sowie dessen Wandel.

Das 19. Jahrhundert war auch eine Epoche des Übergangs. Hierbei erfuhren die Wissenschaften eine ungeahnte Steigerung. Sie wurden getragen vom Bewußtsein der „Berechenbarkeit“ aller Dinge (Rationalismus) und zielten auf eine reine und exakte Feststellung und Erforschung von Tatsachen (Positivismus).[8] Somit hinterließ auch der Positivismus im Denken Gobineaus seine Spuren.

Da darüber hinaus neben dem „Essai“ von Gobineau oder allgemein neben den historischen Rassentheorien die positivistische Anthropologie sowie die verschiedenen biologischen Theorien über Vererbung, zusammengefaßt in den beiden Hauptströmungen Lamarckismus und Darwinismus, sowie ihre die menschliche Gesellschaft betreffenden Ausdeutungen als ideen- oder wissenschaftsgeschichtliche Wurzeln der späteren Rassentheorien gelten, werden an dieser Stelle auch einige Ausführungen zur positivistischen Anthropologie, zur Entwicklung der anthropologischen Methoden sowie zum Lamarckismus und Darwinismus[9] vorgenommen.

Damit soll gewährleistet werden, daß die damaligen wissenschaftlichen Konzeptionen der Anthropologie, Biologie und Soziologie/Sozialwissenschaft in bezug auf „Rasse“, „Abstammung“ und „menschliche Entwicklung“ zumindest in groben Zügen angerissen und nähergebracht werden. Es wird damit aufgezeigt, welchen Stand sie bis dahin in diesem Bereich erlangten.

In diesem Zusammenhang erfolgt auch eine Darstellung der Gefahren und Auswirkungen, die sich durch die Einteilung der Menschen in „Rassen“, „wissenschaftlich“ untermauert durch die neue (naturwissenschaftliche) Anthropologie des 18. und 19. Jahrhunderts, ergaben.

Darüber hinaus wird auf das Problemfeld von Rassismus und Rassentheorien eingegangen. Ausgehend von einigen allgemeinen Ausführungen über Rassismus wird dann zum euroamerikanischen Rassismus übergegangen und zu dessen Verbindungen mit dem Arier-Mythos. Außerdem wird der Frage nachgegangen, ob sich Rassenkonflikte in Wahrheit nicht doch nur als Gesellschaftskonflikte erweisen. Dabei werden auch die Hintergründe und Intentionen für die Erarbeitung und Entstehung von Rassentheorien benannt.

Da es sich zeigen wird, daß Gobineau durchaus Vorläufer und Wegbereiter hatte, er also lediglich jene Gedanken verdichtete, die in Werken anderer Autoren kursierten, werden im folgenden diese Vorläufer dargestellt.

So wird zuerst auf die Vorgeschichte des Aufbaus eines rassistischen Weltbildes und damit auf die Entwicklung rassischer Vorstellungen eingegangen. Hierbei soll bis auf Aristoteles zurückgegangen werden, um zu verdeutlichen, daß sich das „Denken“ in rassischen Kategorien keineswegs erst im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte. Es wird sich zeigen, daß es in der langen Geschichte dieser Entwicklung Veränderungen im Erklärungsmuster gab, um Unterschiede zwischen Menschen zu begründen. Begründete Aristoteles die Rangunterschiede zwischen den Menschen letztlich nicht biologisch, sondern kulturell, so verkündete die neue (naturwissenschaftliche) Anthropologie des 18. und 19. Jahrhunderts, daß solche Unterschiede vor allem biologisch zu erklären seien.

Nach dieser näheren Betrachtung der Geschichte des Rassismus wird dann die Entwicklung der verschiedenen Rassenkonzepte aufgezeigt und die Geschichte der Rasentheorien dargestellt, bevor in einem kleinen Zwischenresümee nochmals jene Konzepte, Ansätze und Theorien zusammengefaßt aufgezeigt werden, die sich bis zu Gobineau finden lassen.

Vor diesem Hintergrund erfolgt die Darstellung der Rassentheorie Gobineaus. Dabei werden die wesentlichsten Thesen Gobineaus sowie die Erklärungsmuster für seine Annahmen und Aussagen in seinem „Essai“ herausgearbeitet. In Anbetracht des Umfangs des Werkes wird die Analyse auf die wesentlichen Kernaussagen Gobineaus beschränkt bleiben. Hierbei werden auch mehrere Auszüge aus seinem Werk „Die Ungleichheit der Menschenrassen“ wiedergegeben, damit man sich einen Eindruck darüber verschaffen kann, wie Gobineau argumentierte und seine Theorie begründete. Dies soll auch einen Einblick in das „Gedankengut“ dieser Zeit ermöglichen.

Im folgenden wird der Frage nach der Wissenschaftlichkeit des „Essais“ nachgegangen sowie dessen fatalistischer und pessimistischer Charakter herausgearbeitet. Im vorletzten Kapitel dieser Arbeit werden dann die Auswirkungen dieses frühen Werkes einer Rassentheorie beleuchtet. Hierbei wird auch der Einfluß Gobineaus auf Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain, den „Bayreuther Kreis“ sowie auf die Rassenideologie des Dritten Reiches untersucht. Darüber hinaus wird untersucht, was Gobineau und sein „Essai“ bewirkt und verändert haben. In diesem Zusammenhang werden dann verschiedene Analysen Gobineaus aus der Literatur angeführt, die vor allem auch den Stellenwert Gobineaus im Bereich der Rassentheorie in den Blickpunkt rücken.

Dabei wird jedoch zunächst zu thematisieren sein, ob er überhaupt als Rassentheoretiker gelten kann. Denn woher hatte er sein Wissen? Woher hatte er die Einteilung in Arier und Semiten, die Einstufung (mit Rangordnung) in schwarze „Rasse“, gelbe „Rasse“ und weiße „Rasse“? Außerdem wird an dieser Stelle beleuchtet, ob man Gobineau als (Rasse-) Antisemiten bezeichnen darf, ob man mit dieser Einschätzung seinem Wirken, seinen Zielsetzungen sowie seiner Selbsteinschätzung überhaupt gerecht wird.

In der Schlußbetrachtung der Arbeit werden die wesentlichsten Aspekte dieser Arbeit zusammengefaßt und ein Resümee über das Wirken Gobineaus und die Bedeutung seines „Essais“ gezogen. Damit wird in der Schlußbetrachtung der Stellenwert Gobineaus für die Rassentheorien und -theoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, für den (Rasse-) Antisemitismus sowie für den Nationalsozialismus und dessen Ideologie zusammenfassend dargestellt.

Anzumerken bleibt noch, daß aufgrund der ebenso ambivalenten wie problematischen Anwendung des Begriffs „Rasse“ auf Menschen, „Rasse“ in Anführungszeichen erscheint und mithin nur eingeschränkt und relativiert gilt.[10]

2. Verwendete Literatur und aktueller Forschungsstand

Durch die in den letzten Jahren neu entfachte Rassismusdebatte erschien zu diesem Themenkomplex eine Vielzahl neuerer Literatur, die Probleme wie „Rasse“, Rassismus, Rassenkonflikte oder Rassentheorien aufgriff, sei es aus geschichtlicher, sozialwissenschaftlicher oder biologisch-humangenetischer Sicht.

Als grundlegende Literatur für den ersten Teil der hier vorliegenden Arbeit, der sich mit diesen oben genannten Punkten auseinandersetzt, dienen dabei einige Autoren, deren Werke das Thema „Rassismus“ umfassend behandeln. Dementsprechend häufig wird auf diese Autoren immer wieder zurückgegriffen.[11]

Das Werk „Verschieden und doch gleich“ von Luca und Francesco Cavalli-Sforza behandelt das Thema „Rassismus“ aus humanbiologischer, genetischer und evolutionsgeschichtlicher Sicht und legt auf diese Weise die Absurdität von Rassismus dar. Eckhard J. Dittrich greift den Rassismus in seinem Buch „Das Weltbild des Rassismus“ vor allem aus soziologischer Perspektive auf. Er betrachtet einerseits die „Rasse“ als biologisches und als sozialwissenschaftliches Problem und beschreibt andererseits die Entwicklung rassischer Vorstellungen im gesellschaftstheoretischen Denken seit Aristoteles und das Weltbild des wissenschaftlichen Rassismus. Dabei stellt er die These auf, daß gerade das westlich-abendländische Denken systematische Begründungen für soziale Ungleichheit und damit für eine weltbildliche Fundierung des Rassismus geliefert hat.

Immanuel Geiss liefert mit seiner „Geschichte des Rassismus“ dagegen ein Werk, welches das Phänomen des Rassismus aus der historischen Perspektive heraus beleuchtet. Er unterscheidet dabei zwei Hauptformen – den antijüdischen/antisemitischen und den antinegriden Rassismus – die sich zwar parallel, aber weitgehend unabhängig voneinander entwickelt hätten. Bei seiner Rassismusbetrachtung spannt er dabei den Bogen von der weiteren Vorgeschichte des Rassismus (1500 v. Chr.-1492 n. Chr.) über die engere Vorgeschichte des Rassismus (1492-1775), die Formierung des Rassismus (1775-1914), den Rassismus der Zwischenkriegszeit und der Zuspitzung des Rassismus in Deutschland während des Dritten Reiches bis hin zum Rassismus der Neuzeit.

Patrick von zur Mühlens Werk „Rassenideologien“ liefert eine umfassende Darstellung der Geschichte und Hintergründe von Rassenideologien und Rassentheorien. Von zur Mühlen kommt es in dieser verschiedene Länder vergleichenden Studie nicht darauf an, eine bestimmte Ideologie in einem begrenzten Zeitraum zu untersuchen, sondern eine bestimmte ideologische Thematik und deren Durchführung in einzelnen historischen Etappen, beginnend mit der Restaurationsepoche und endend mit der faschistischen Bewegung und dem Zweiten Weltkrieg.

Weitere Autoren, die an dieser Stelle zu nennen wären, sind Léon Poliakov, Christian Delacampagne und Patrick Girard mit ihrer Abhandlung „Über den Rassismus“, die die Anatomie und Geschichte des Rassenwahns beschreiben und darüber hinaus Deutungs- und Erklärungsversuche dieses Rassenwahns vornehmen, sowie Léon Poliakov mit seinem Buch „Der arische Mythos“, welches die Quellen von Rassismus und Nationalismus untersucht. Diese kulturgeschichtliche Betrachtung geht den Ursprungsmythen zentraler europäischer Nationen nach, um die mythischen Gründe des modernen Nationalverständnisses in Europa und des europäischen Rassismus offenzulegen.

Findet sich zu „Rassismus“ aufgrund des neu erwachten Interesses an diesem Thema sehr viel Literatur und ist hierbei zum einen die Forschungsdiskussion über die Ursachen von Rassismus sowie zum anderen dessen geschichtliche Aufarbeitung schon seit längerem im Gange, so wurde Gobineau und seinem Wirken in letzter Zeit dagegen eher weniger Interesse entgegengebracht.

Nennenswert als neuere Literatur über Gobineau sind hierbei vor allem die Studien von E. Y. Young „Gobineau und der Rassismus“ sowie das englischsprachige Werk vom Michael Denis Biddiss „Father of Racist Ideology“. Young, der Gobineau in seiner Arbeit geistesgeschichtlich deutet, versucht die anthropologisch-rassenbiologische Geschichtsauffassung und ihre Stellung im Rahmen der geschichtsphilosophischen Systeme abzugrenzen, um sodann die verschiedenen Strömungen aufzuzeigen, die zu Gobineau hinführen und auf denen er aufbaut. Schließlich untersucht Young die Wirkungen der Gobineauschen Lehre in Frankreich und Deutschland. Biddiss beschäftigt sich vor allem mit den gesellschaftlichen und politischen Ansichten Gobineaus. Weitere Monographien über Gobineau sind in neuerer Zeit nicht erschienen.

Neben diesen Einzelwerken über Gobineau lassen sich jedoch bei genauerer Sichtung der Literatur weitere Analysen Gobineaus und seiner Bedeutung finden. Diese Ausführungen über Gobineau erfolgen zumeist im Rahmen von Darstellungen der Geschichte der Rassentheorien oder der Vorläufer des modernen Rassismus in Büchern, die sich in irgendeiner Weise mit „Rasse, Rassismus oder Rassentheorien“ beschäftigen.

Nennenswert sind hierbei zunächst die Analysen im Werk von Detlev Claussen „Was heißt Rassismus“ sowie in der Abhandlung von Annegret Kiefer „Das Problem einer jüdischen Rasse“. Dabei untersucht Kiefer das Problem einer jüdischen „Rasse“ im Zeitraum von 1870 bis 1930 in der traditionellen Anthropologie, bevor sie auf den biologischen Antisemitismus sowie auf das antisemitische Denken in der Anthropologie und der Eugenik eingeht und damit auf den Prozeß der wissenschaftlich sanktionierten Unterdrückung der Juden.

Weitere Analysen finden sich in der strukturellen Untersuchung von Nicoline Hortzitz „Früh-Antisemitismus in Deutschland“ zu Wortschatz, Text und Argumentation in antijüdischen Texten, die zwischen 1789 und 1871/72 erschienen sind sowie in dem Buch von Georg L. Mosse „Die Geschichte des Rassismus in Europa“, welches versucht, die Geschichte des Rassismus in den Zusammenhang mit der europäischen Geschichte zu stellen. In diesem Buch stellt Mosse die These auf, daß Rassismus keine Seitenerscheinung, sondern ein grundlegendes Element der europäischen Kulturentwicklung gewesen ist. Der moderne Rassismus würde denselben Quellen entspringen, die auch die Grundströmungen moderner europäischer Kultur gespeist haben.

Darüber hinaus sind die Analysen in den schon erwähnten Werken von Patrick von zur Mühlen „Rassenideologien“ und Léon Poliakov/Christian Delacampagne/Patrick Girard „Über den Rassismus“ zu beachten.

Über die Gründe hierfür, daß es keine neueren Monographien über Gobineau gibt, kann nur spekuliert werden. Zum einen könnte es daran liegen, daß man bei der Suche nach den Vorläufern des modernen Rassismus und der späteren Rassenideologie des Dritten Reiches eher den Einfluß Chamberlains und Wagners als den Gobineaus untersucht hat. Zum anderen könnte es aber auch daran liegen, daß, ohne etwas vorwegzunehmen, sich die heutigen Autoren über Gobineau und seine Bedeutung im großen und ganzen einig sind. Gerade deswegen erscheint es aber lohnenswert, sich mit Gobineau auseinanderzusetzen.

Neben der bisher aufgeführten Literatur wird weiterhin die im Literaturverzeichnis angegebene Literatur herangezogen. Der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehende „Essai“ liegt dabei als deutsche Übersetzung von R. Kempf aus dem Jahr 1935 vor.

3. Problematik des Rassenbegriffs

3.1. Herleitung des Rassenbegriffs

Das Wort „Rasse“ existierte schon lange in der Umgangssprache, bevor der erste Versuch unternommen wurde, das Wort wissenschaftlich zu definieren. Aus diesem Grund hatte die Unschärfe des Rassenbegriffs Tradition. Heute ist man der Ansicht, daß sich das Wort „Rasse“ etymologisch herleiten läßt.[12][13]

Es geht auf entsprechende Formen in romanischen Sprachen seit dem 13. Jahrhundert zurück. Etymologisch betrachtet, stammt der Rassenbegriff vom lateinischen ‚ratio‘, vermittelt über das italienische Wort ‚razza‘[14], was auch soviel wie ‚Sorte‘ oder ‚Art‘ bedeutet. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts existierte ‚race‘ im Französischen, von wo aus es später auch ins Englische und Deutsche mit gleicher Schreibweise gelangte. Die Rezeption des französischen Begriffs in Deutschland begann dabei im 18. Jahrhundert.[15] Doch scheint es so, daß er sich erst seit Kant wirklich in die deutsche Sprache eingebürgert hat.

Indessen findet man in früheren französischen Wörterbüchern eine ganz andere Etymologie, verbunden mit einem anderen Inhalt, einer anderen Bedeutung des Wortes. Der „Thrésor de la langue française“ von François Tant aus dem Jahr 1606 leitet ‚race‘ vom lateinischen ‚radix‘ her:

„Race vient de radix, racine, et fait allusion à l’extraction d’un homme, d’un chien, d’un cheval; on les dit de bonne ou de mauvaise race.“[16]

Und im „Dictionnaire universel“ von Furetière aus dem Jahr 1727 heißt es:

„Race: lignée, tous ceux qui viennent d’une même famille; génération continuée de père en fils; se dit tant des ascendants que des descendants; vient de radix, racine, pour indiquer la généalogie.“[17]

Damit beinhaltete das Wort „Rasse“ von Anfang an zwei verschiedene Bedeutungen. Man konnte das Wort einmal verwenden, um zu klassifizieren. In diesem Zusammenhang bezeichnete man mit „Rasse“ eine Sorte oder Art. Andererseits konnte man dieses Wort auch verwenden, um zu genealogisieren. Verwandte man das Wort „Rasse“ in diesem Kontext, so konnte man es gleichsetzen mit Abstammung, Herkunft oder Wurzel.

In bezug auf den Menschen schien der Begriff der „Rasse“ zunächst nur in der zweiten Bedeutung anwendbar gewesen zu sein, also im Sinne von Abstammung, Stamm, Familie, Geschlecht. Verstand man „Rasse“ in diesem Sinne, konnte man den Begriff auch mit Werturteilen verbinden. Dabei wurde der Begriff zu einem wesentlichen Bestandteil des Adels, und zwar sowohl der einzelnen adeligen Familien als auch des Adels als Stand selbst. Die Qualität der Zugehörigkeit zu einer guten oder edlen „Rasse“ folgte dabei einem maskulinen, patriarchalischen Prinzip, da sich diese Qualität, zusammen mit dem Namen der Familie, vom Vater auf den Sohn vererbte.

Für die historischen Rassentheorien war, wie man später noch sehen wird, dieser genealogische Aspekt des Wortes konstitutiv. Für die Herausbildung der Anthropologie spielte jedoch der erste Aspekt, der klassifikatorische, die Hauptrolle. Der Arzt und Reisende François Bernier (1620-1688) war wohl der erste Autor, der den Rassenbegriff in diesem Sinne auf den Menschen anwandte. So erschien 1684 im Journal des savants seine „Nouvelle division de la terre, par les différentes espèces ou races d’hommes qui l’habitent“. Bernier unterschied vier „Rassen“, nämlich die Europäer, die Afrikaner, die Asiaten und die Lappländer. Seine Rasseneinteilung sollte Grundlage einer neuen geographischen Einteilung der Erde sein.[18]

Eine noch weiter über die romanischen Anfänge zurückgehende Etymologie ist umstritten, so daß nur Hypothesen möglich sind. Der realhistorische Zusammenhang legt die Ableitung aus dem arabischen Wort ‚Ras‘ nahe – Kopf, Haupt, (Ober-) Haupt eines Clans oder Stammes, übertragen auch Abstammung. Die älteste bekannte europäische Wurzel des Wortes „Rasse“ im Spanien der Reconquista (1064-1492) ‚raza‘ würde sich damit zwanglos als Hispanisierung des arabischen ‚Ras‘ erweisen und das vielfältige Spektrum seiner Bedeutungen erklären, nämlich Abstammung, zunächst meist vornehmen, adligen Geschlechts, auch Dynastie, Königshaus. Im weiteren Sinn stand ‚raza‘/‚race‘ als Synonym für Generation innerhalb einer adeligen Familie zum Nachweis adeliger Abstammung.

3.2. Biologischer und soziologischer Rassenbegriff

In vielen antisemitischen Reden oder Druckwerken wird Bezug genommen auf die Begriffe „Rasse“[19] und Kultur, die so unbestimmt und allumfassend klingen. Ohne auf alle bisher vorgelegten Definitionen eingehen zu können, sieht die Soziologie die Kultur als ein komplexes Ganzes an, in dem alles enthalten ist, was Menschen denken, tun, fühlen oder besitzen. Nach Silbermann[20] lassen sich deshalb heraufbeschworene Unterschiede im Niveau der Fertigkeiten verschiedener Gruppen nur kulturell und nicht biologisch in der Form von Rassenunterschieden erklären.

Die „Rasse“ ist im Vergleich dazu (in bezug auf die biologische Sichtweise zur Rassenfrage) eine Gruppe von Menschen, denen gewisse vererbte physische Charakteristika zu eigen sind, die dazu dienen können, sie von anderen Gruppen zu unterscheiden. Dabei dürfen Kultur und „Rasse“ nicht verwechselt werden. Wenn nämlich im Begriff Kultur ausschließlich Bestrebungen nach Veredelung, Verfeinerung und Formung der Persönlichkeit unter Bändigung und Sublimierung der menschlichen Triebnatur gesehen werden, dann ist es ein nächster Schritt, fälschlicherweise zu unterstellen, daß sich Rassenunterschiede im Typ der Kultur, in nationalen Anschauungsweisen und anderen Eigenschaften des sozialen Verhaltens widerspiegeln.

Es ist zwar richtig, daß Bevölkerungsgruppen in gewissen Graden Unterschiede bezüglich physischer Charakteristika aufweisen und auch ihre kulturellen Praktiken offensichtlich verschieden sind – aber der Beweis, daß eine Kultur von den angeborenen Qualitäten einer menschlichen „Rasse“ abhängig ist, konnte bisher nicht erbracht werden. Denn wenn es wirklich so wäre, würde es in der Welt nicht so viele unterschiedliche Gruppen geben, die sich im wesentlichen der gleichen Kultur erfreuen. Andererseits gäbe es dann auch nicht in verschiedenen geographischen Teilen der Welt Mitglieder der gleichen „Rasse“, die gänzlich unterschiedliche kulturelle Muster aufweisen.

Dabei stellt sich die Frage, ob wir in Anbetracht heutiger Erkenntnisse von Anthropologen, Biologen und Humangenetikern überhaupt noch von „Rassen“ im biologischen Sinne sprechen sollten (dürfen) oder ob es nicht richtiger ist, den Rassenbegriff nur in soziologischer Sichtweise zu benutzen. Wippermann[21] kommt in Anlehnung an die Erkenntnisse heutiger Anthropologen und Humangenetiker zu dem Schluß, daß keine verschiedenen „Menschenrassen“ existieren. So schreiben auch Cavalli-Sforza:

„Tatsächlich ist bei der Gattung Mensch eine Anwendung des Begriffs ‚Rasse‘ völlig unsinnig.“[22]

Grund hierfür sei, so Cavalli-Sforza, daß alle Menschen in genetischer Hinsicht so unterschiedlich und doch gleichzeitig so ähnlich seien.[23]

Wenn wir heute also von „Rassen“ sprechen, meinen wir vor allem den Rassenbegriff in seiner soziologischen Ausdeutung, da es nach heutiger Erkenntnis keine verschiedenen biologischen „Menschenrassen“ gibt und es somit falsch ist, den Rassenbegriff in seiner biologistischen Bedeutung zu gebrauchen.[24]

In diesem Falle bedeutet der Ausdruck „Rasse“ eine Gruppe von Menschen, denen man einen gemeinsamen Ursprung und infolgedessen gemeinsame Züge – geistige wie körperliche – zuschreibt. Hierbei tritt in der Regel das Problem auf, daß man diese Merkmale, insbesondere wenn es sich um geistige handelt, bei der „Rasse“, der man sich selbst zugehörig glaubt, als gut, bei anderen „Rassen“ aber als tadelnswert oder sogar verabscheuungswürdig einschätzt.[25]

Es geht im Grunde also darum, daß man das, was man von sich selbst oder einem anderen hält, auf seine eigene Gruppe bzw. andere Gruppen ausdehnt. Was man in Wirklichkeit auf diese Weise bezeichnet, ist eine politische oder kulturelle Gegebenheit, zum Beispiel eine Nation, die aber vom biologischen Standpunkt aus keinerlei Einheitlichkeit aufweist. So schreibt Poliakov:

„Was jedoch vom soziologischen Standpunkt aus zählt, ist der Glaube an einen gemeinsamen und besonderen Ursprung, ein Glaube, der häufig eine Haltung der Feindseligkeit oder der Verachtung in bezug auf eine andere Gruppe mit sich bringt – und eben das ist Rassismus.“[26]

Poliakov betont, daß dieser Glaube leicht aus Konflikten jeder Art entstehen könne. Als solche Konflikte führt er Rivalitäten, Kriege oder sogar Revolutionen an. So sei die französische Revolution mitunter als Aufstand des gallischen Dritten Standes gegen den fränkischen Adel gewertet worden.[27]

Aufgrund der Tatsache, daß Gobineau den Rassenbegriff in seiner biologischen Bedeutung verwendete,[28] wird im folgenden auf diesen nochmals eingegangen. Der Rassenbegriff in der biologischen Bedeutung[29] meint im Gegensatz zum soziologischen als „Rasse“ eine sich selbst reproduzierende Population, welche die Gene anderer Populationen gar nicht oder nur in geringfügigem Maße aufnimmt. Es geht dabei also um den Versuch, in der ungeheuren Vielfalt der Menschen Gruppen aufzuspüren und zu isolieren, die einen gemeinsamen Ursprung aufweisen und sich infolgedessen durch die diesen Gruppen zugehörigen Erbanlagen von anderen Gruppen unterscheiden.

Dennoch kann eine neue „Rasse“ entstehen, sofern sehr viele fremde Gene aufgenommen werden, wie dies bei einer großen Einwanderungswelle der Fall sein kann. In diesem Zusammenhang sollte man sich jedoch daran erinnern, daß die Menschwerdung, also das Auftreten der Gattung Mensch (Homo) nur ein einziges Mal, vermutlich in der Gegend der großen afrikanischen Seen, stattgefunden hat.[30] Im Laufe der Zeit haben sich diese Menschen über den gesamten Erdball ausgebreitet und mehr oder weniger voneinander isoliert.[31] Jede hat sich dann, im Rahmen der natürlichen Selektion oder im Fall von kleinen Gruppen durch genetische Abweichungen, die vom Zufall determiniert wurden, auf ihre eigene Weise biologisch entwickelt.[32] Cavalli-Sforza benennt in diesem Zusammenhang drei Evolutionsfaktoren, die wie folgt zusammenhängen:

„Die Mutation schlägt vor, die Auslese wählt aus; der Zufall aber ist ein zusätzlicher Faktor, der sozusagen die Karten neu mischt.“[33]

Unter diesen Bedingungen haben die Gruppen von Menschen begonnen, sich bis zu einem gewissen Grad voneinander zu unterscheiden – einem sehr geringen Grad, da sich ja alle Gruppen miteinander vermischen können – und „Rassen“ zu bilden.[34] Die physische Anthropologie wollte die so entstandenen „Rassen“ bestimmen und klassifizieren.[35]

3.3. Herausbildung der Anthropologie bis Gobineau

Wie schon angeführt, war der genealogische Aspekt des Wortes „Rasse“ für die historischen Rassentheorien konstitutiv. Für die Herausbildung der Anthropologie spielte jedoch der klassifikatorische Aspekt die Hauptrolle. Bernier war der erste Autor, der den Rassenbegriff in diesem Sinne auf den Menschen anwandte.[36] Mit seiner Unterscheidung der „Rassen“ nach bestimmten anatomischen Kriterien kündigte sich die Vorgehensweise der späteren rassentypologischen Anthropologie an.[37]

Mit den Versuchen einiger Naturforscher, alle Lebewesen in einem einheitlichen Ordnungssystem unterzubringen, erlebte die Methode der Klassifikation im 18. Jahrhundert ihren großen Aufschwung.[38] Der Schwede Carl von Linné (1707-1778) schuf das bekannteste und für die Biologie einflußreichste System.[39] Zugleich führte er die binäre lateinische Nomenklatur in Zoologie und Botanik ein. Linné sprach allerdings nicht von verschiedenen „Menschenrassen“, sondern nannte sie Varietäten.[40] Deren unterschied er vier: den Europäer, den Amerikaner, den Asiaten und den Afrikaner. Seine Unterscheidungskriterien waren dabei nicht allein morphologischer, sondern auch kultureller Art.

Den Begriff der „Menschenrasse“ benutzte hingegen der französische Naturforscher G. de Buffon (1707-1788). Darüber hinaus war er der erste, der diesen Begriff als naturwissenschaftlichen Fachterminus eindeutig zu definieren versuchte. Bei ihm waren „Rassen“ relativ stabile Varietäten ein und derselben Art, die unter bestimmten gleichbleibenden Milieueinflüssen entstanden seien.

Obwohl Buffon sich etwas dynamischere Vorstellungen von der Natur machte als sein ausschließlich in feststehenden Kategorien denkender schwedischer Kollege, galten auch ihm prinzipiell die Kluften zwischen den biologischen Arten (espèces) als unüberbrückbar. Führte er doch, wie Linné, der biblischen Überlieferung folgend, deren Entstehung auf einen göttlichen Schöpfungsakt zurück. Damit wurde der Spezies als solcher ein quasi übernatürlicher Status zugesprochen.

Beide, Buffon und Linné, waren die Wegbereiter der klassischen monogenetischen[41] Anthropologie.[42] Diese zunächst mehrheitliche Richtung ging von einer gemeinsamen Abstammung aller „Menschenrassen“ und von ihrer Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens aus. Das hieß in letzter Konsequenz und sofern ihre Anhänger ausdrücklich bibeltreu waren, daß alle Menschen von dem Urpaar Adam und Eva und dem Patriarchen Noah abstammten.[43]

Von Noah führte der Stammbaum zu Japhet, Sem und Ham, zu denen sich manchmal noch ein vierter Bruder, Jonithon oder Manithon, gesellte. Dabei wurde Europa den Kindern Japhets, Asien den Kindern Sems und Afrika den Kindern Hams vorbehalten. Dies war die vorherrschende Strömung der Erzähler der „Mythen“, entsprach aber den in der Bibel enthaltenen etymologischen Andeutungen.[44]

Die Entstehung der einzelnen „Rassen“ mit ihren beharrlich forterbenden Eigentümlichkeiten wurde von den Monogenisten dann durch den Degenerationen oder Abartungen[45] bewirkenden Umwelteinfluß erklärt. Zu den herausragenden Vertretern des Monogenismus zählten dabei Immanuel Kant (1724-1804), Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) und der Brite James C. Prichard (1786-1848).

Blumenbach[46] entwickelte eine Rassenklassifikation, die den fünf Kontinenten entsprach. In seinem 1790 in Göttingen erschienen Werk „Decas quarta collectionis suae craniorum diversarum gentium illustrata“ schuf er eine in der Anthropologie lange gültige Einteilung der Menschen. Er unterschied Kaukasier, Mongolen, Äthiopier, Amerikaner und Malaien. Diese Rassenklassifikation war besonders in Deutschland bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein maßgebend.

In Frankreich dagegen geriet der Monogenismus[47] indes schon sehr früh in die Defensive. Er wurde bedrängt durch die von der Mehrzahl der französischen Anthropologen bald übernommene konkurrierende Hypothese des Polygenismus.[48] Indem sie eine vielheitliche Abstammung der Menschheit und mehr als eine menschliche Spezies annahmen, stellten sich die Anhänger der Polygenese gegen das biblische Dogma.[49] Empirische Grundlage ihrer Theorie war die beobachtete „Permanenz“ der „Rassen“. Darunter verstanden sie die Tatsache, daß sich Rassenmerkmale von jeher ebenso konstant vererben wie Artmerkmale.[50]

Der Rassenbegriff und der Begriff der Spezies waren damit für die Anhänger dieser Hypothese, u. a. Julien-Joseph Virey und Jean-Baptiste Bory de Saint Vincent[51], weitgehend gleichwertig. Sie leugneten die Relevanz der Fruchtbarkeit als artbegründendes Kriterium und hielten es durchaus für möglich, daß Individuen verschiedener Arten miteinander fruchtbare Nachkommen erzeugen können. Das erlaubte ihnen, etwa Afrikaner und Europäer als zwei verschiedene Arten anzusehen, obwohl es zwischen ihnen offensichtlich eine unbeschränkte Fertilität gibt.

Die Ursprünge der These eines Polygenismus finden sich indes schon im 16. und 17. Jahrhundert wieder.[52] Infolge der Entdeckung Amerikas und der Frage, ob die Indios von Adam abstammten oder nicht, ließen sich doch in der Bibel keinerlei Hinweise auf sie finden, wurden Überlegungen über eine vielheitliche Abstammung der Menschheit aufgeworfen.[53]

Es war ein französischer Hugenotte jüdischen Ursprungs, zum Katholizismus bekehrt, der in einer Schrift über die Prä-Adamiten[54] die These eines Polygenismus der Menschen vertrat: Isaac de La Peyrère (1596-1676).[55] Gemäß seiner Schrift hatten die Menschen verschiedene Ursprünge und nicht nur einen. Unter Berufung auf die Genesis behauptete er, nur die Juden stammten von Adam ab, alle anderen Völker der Erde jedoch von vor ihm geschaffenen Menschen, den Prä-Adamiten.

So wurde La Peyrère zum Urheber einer neuen Anthropologie, die die polygenetische These verwandte, um eine Aufteilung der Menschheit in verschiedene „Rassen“ zu etablieren. Dies hatte auch Bernier auf seine Weise durch seine Veröffentlichung des schon erwähnten Artikels im Journal des savants versucht.[56] In diesem Artikel schrieb Bernier unter anderem:

„Ich habe festgestellt, daß es vor allem vier oder fünf Arten oder Rassen von Menschen gibt, die sich so sehr voneinander unterscheiden, daß diese Unterschiede als tragfähiges Fundament für eine neue Aufteilung der Erde dienen können.“[57]

Der Polygenismus wirkte noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der dann – nicht allein in Frankreich – vorherrschenden positivistischen Anthropologie Paul Brocas[58] und seiner Schule nach. Paul Broca (1824-1880), französischer Chirurg, erhob durch sein Wirken diese positivistische Anthropologie in den Rang einer anerkannten Wissenschaft. Durch ihn kam es 1859 in Paris zur Bildung der ersten anthropologischen Gesellschaft, der Société d’Anthropologie, eine Gelehrtenversammlung, die für ähnliche Gründungen in London (1863), Moskau (1863), Berlin (1869) und anderen Ländern beispielgebend war.

Broca formte diese Wissenschaft nach seinen eigenen Vorstellungen und zog viele junge Forscher aus der ganzen Welt an. In Frankreich selbst gab es bald überhaupt nur noch einen namhaften Anthropologen, der eine von Broca unabhängige Position bekleidete. Dies war Armand de Quatrefages (1810-1892), einer der letzten klassischen Monogenisten unter den Anthropologen.[59] Jedoch stand vor allem die nachwachsende Wissenschaftlergeneration ganz unter Brocas Einfluß.[60]

3.4. Entwicklung der anthropologischen Methoden bis Gobineau

Schon lange vor Broca erschöpften sich die anthropologischen Methoden nicht mehr einfach in der Lektüre von Reiseberichten und der anschließenden Aufstellung von Rassenklassifikationen. Die Methoden hatten sich seit den Anfängen der Anthropologie weiterentwickelt. Dabei rückte der Kopf des Menschen als Unterscheidungskriterium immer mehr in den Mittelpunkt des anthropologischen Interesses.[61]

Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert diskutierte man das Problem der physiologischen, anatomischen, aber auch der moralischen Unterscheidbarkeit menschlicher Gruppen und beschäftigte sich mit der Frage, nach welchen Kriterien eine solche Differenzierung vorzunehmen sei. Das Streben nach einem objektiven Verständnis der Naturgeschichte des Menschen und der Andersartigkeit fremder „Rassen“ und Völker bestimmte Denken und Forschen der Gelehrten dieser Zeit.

Unter der Vorstellung, daß die menschliche Natur mit derselben Genauigkeit studiert werden müsse wie Tiere und Pflanzen, konzentrierte man sich auf die systematische und möglichst exakte Beschreibung der menschlichen Physis. Die vergleichende Anatomie gewann zur Erforschung der körperlichen Eigenarten von Menschen verschiedener Abstammung zunehmend an Bedeutung.[62]

Für diese Entwicklung gab es zwei Gründe. Zum einen existierten tatsächlich nicht unbeträchtliche Verschiedenheiten in der äußeren Kopf- bzw. Schädelform unter den Menschen. Diese ließen sich zudem viel exakter messen und klassifizieren als etwa die Farbnuancen der menschlichen Haut. Zum anderen war das menschliche Gehirn als Nervenzentrum und eigentlicher Sitz des menschlichen Gefühls- und Geisteslebens identifiziert worden. Dies verleitete die positivistischen Anthropologen zu dem Schluß, daß sich intellektuelle und charakterliche Eigenschaften in der Form des Gehirns und seiner knöchernen Schale ausdrücken müßten.[63]

Damit folgten sie dem Beispiel des deutschen Arztes Franz Joseph Gall (1758-1828), das er durch seine Phrenologie[64] gegeben hatte. Seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts war Gall bemüht gewesen, eine Charakterwissenschaft als Schädellehre zu entwickeln. Er wollte also den Charakter eines Menschen aufgrund anatomischer Grundlagen feststellen. Obwohl er kaum wirkliche Erkenntnisse gewinnen konnte, hatte er mit seinen Hypothesen, vor allem in Frankreich, großen Erfolg.[65]

Ähnlich wie die Physiognomik seines Vorgängers Johann Caspar Lavater[66] (1741-1801), die statt aus der Schädelform den Charakter aus den Gesichtszügen eines Menschen ablesen wollte, war Galls Phrenologie integraler Bestandteil des bürgerlichen Allgemeinwissens des 19. Jahrhunderts. Und obwohl sich beide, die Physiognomik sowie die Phrenologie, aufgrund mangelnder Seriosität als Wissenschaft nicht etablierten, zeigten sich doch zahlreiche Wissenschaftler von ihnen beeinflußt. In erster Linie galt dies für die Anthropologen.

Auch wenn Gall das Individuum und nicht die „Rasse“ als Bezugsmittelpunkt hatte, wurde doch die Grundüberzeugung, daß die inneren Werte eines Menschen irgendwie mit seiner Kopfform in Korrelation stehen mußten, von den Anthropologen stillschweigend übernommen.[67]

Schon Blumenbach[68] hatte das Messen von Schädeln betrieben und die Kraniologie, die Lehre vom Schädelbau, als anthropologische Unterdisziplin begründet. Mit seinen Arbeiten wurde der Göttinger Naturforscher in dieser Zeit richtungsweisend für die weitere Entwicklung der naturwissenschaftlichen Anthropologie. Seine anatomischen Studien zeichneten sich durch eine exakte Beobachtung und durch Vollständigkeit in der Beschreibung, insbesondere am knöchernen Schädel, aus. Er gilt als der eigentliche Begründer der menschlichen Rassenkunde und führte die Kraniologie als rassenklassifizierendes Meßverfahren in der Anthropologie ein. Diese sollte die Rassenforschung des gesamten 19. Jahrhunderts entscheidend und schließlich auch einseitig prägen.[69]

Grundlegende Untersuchungen über Wachstum, stammesgeschichtliche Entwicklung und individuelle Ausgestaltung des menschlichen Schädels, aber auch Ansätze zur Beschreibung der rassenmäßigen Unterschiede der Kopfform gingen mit der Entwicklung und dem Ausbau der Kraniologie in den folgenden Jahrzehnten einher. Umfangreiche Schädelsammlungen wurden angelegt, die Meß- und Beobachtungstechnik verfeinert. Dabei wurde selten die einseitige Konzentration auf den Schädel näher begründet. Unausgesprochen scheint dabei eine Rolle gespielt zu haben, daß dem Kopf des Menschen als Sitz des Gehirns, des menschlichen Geistes und Spiegel der Persönlichkeit eine besondere Rolle zukam.[70]

Durch den sogenannten Kopf- oder Schädelindex, mit welchen die Menschheit in langköpfige (dolichocephale) und kurzköpfige (brachycephale) „Rassen“ eingeteilt werden konnten, bereicherte der Schwede Anders Retzius[71] (1796-1860) im Jahr 1842 die kraniologische Methodik.[72] Dieser sogenannte Längen-Breitenindex gewann rasch typen- bzw. rassenspezifische Bedeutung und zwar aus den kraniologischen Vergleichsstudien, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts häuften. Dadurch erhoffte man sich, die Kopfform als ein konstantes Völker und Stämme unterscheidendes Rassenmerkmal bestimmen zu können.[73]

Das lebhafte Interesse der Anthropologen an der Kraniologie drängte zeitweise das Interesse an den Lebenden vollständig in den Hintergrund. Durch die Vereinheitlichung der Meß- und Beobachtungstechniken gewann die Kraniologie endgültig den Stellenwert einer gesicherten Forschungsmethode. Die Auseinandersetzung mit theoretischen Problemen rückte in den Hintergrund. Man konzentrierte sich nunmehr auf die exakte Materialsammlung, Beobachtung und die Darstellung zahlreicher Daten und Fakten, ohne diese jedoch in einen größeren Zusammenhang einordnen und deuten zu können.[74]

Die Kraniologie/Kraniometrie entwickelte sich zu einer Wissenschaftsdisziplin von hoher gesellschaftlicher Relevanz, strebte diese doch an, auf Basis eben dieser Schädelmessungen, bewertende Einordnungen von Menschengruppen mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden vorzunehmen. In der Kraniometrie verbanden sich somit gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen mit quantitativen Daten auf der Basis einer vorherrschenden weltbildlichen Orientierung. Schon damals galten Zahlen als das Nonplusultra wissenschaftlicher Objektivität.[75]

Diese Entwicklung erreichte mit der Entfaltung des Positivismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt.[76] Methodik und Technik wurden eins. Die Suche nach Erkenntnis führte, so glaubte man, über die Analyse, Detailkenntnis, Quantifikation und Summierung möglichst vieler einzelner Daten gleichsam von selbst zur Erfassung des Menschen in seiner Ganzheit, Abstammung, Entwicklungsgeschichte und rassischen Verschiedenheit.[77]

Damit verengte sich die Anthropologie des positivistischen Zeitalters zu einer Anthropometrie, welche wegen ihres selbst verordneten, nahezu vollständigen Verzichts auf fundierte Fragestellungen kaum etwas anderes produzierte als ein immenses Datenmaterial von gemessenen Knochen und Schädeln. Damit umschreibt die Kombination von Messen und Zählen, von Anthropometrie und statistischer Auswertung, einen Großteil der Arbeit der Rassenanthropologie im 19. Jahrhundert.[78]

3.5. Lamarckismus und Darwinismus

Zwei zentrale Begriffe der Abstammungslehre sind die der Selektion und der Vererbung. Die Theorie über die Vererbung geht dabei auf Lamarck und die der Selektion auf Darwin zurück.[79] Die Selektionstheorie Charles Robert Darwins (1809-1882) war von der Abstammungstheorie Lamarcks kaum beeinflußt. Sein Hauptwerk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl“ (1859) stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der Biologie dar.[80]

Darwin nahm die Übervölkerungsthese des Nationalökonomen Thomas Robert Malthus, nach welcher jede Bevölkerung dazu tendiere, sich ungeachtet der Begrenztheit der ihr zur Verfügung stehenden Nahrungsmitteln zu vermehren, zum Ausgangspunkt seiner Selektionstheorie. So schrieb er:

„Da also mehr Individuen ins Leben treten als bestehen können, so muß auf jeden Fall ein Kampf ums Dasein stattfinden, entweder zwischen Individuen derselben oder verschiedener Arten oder zwischen Individuen und äußeren Lebensbedingungen.“[81]

Dabei betonte Darwin, daß jede natürliche Variation, wie gering sie auch sein mag und unabhängig davon, wie sie entstanden sei, zur Erhaltung des Individuums beitragen und sich auf seine Nachkommen vererben würde. Diese hätten dann mehr Chancen, am Leben zu bleiben.[82]

Dieses Prinzip, das jede geringfügige, wenn nur nützliche Veränderung, konserviert, nannte Darwin natürliche Selektion. Der eigentliche Kern des Darwinismus liegt dabei in der Annahme, daß die Herausbildung neuer Arten und damit die gesamte natürliche Entwicklungsgeschichte durch das Selektionsprinzip und damit durch die natürliche Auslese zu erklären sei. Die Variation sah Darwin dabei als gegeben an, die Selektion entscheide dann im Kampf ums Dasein, welche sich durchsetzt und welche nicht.

Die Darwinsche Evolutionstheorie war lange Zeit sehr umstritten, da sie eine Ablehnung der biblischen Schöpfungsgeschichte sowie der Sonderstellung des Menschen im biologischen System beinhaltete.

Im Lamarckismus dagegen entstehen die richtigen Variationen aufgrund der Milieueinflüsse und Lebensgewohnheiten. Diese würden dann durch Vererbung bewahrt.[83] Diese erste Abstammungstheorie stammte von Jean-Baptiste de Monet Chevallier de Lamarck (1744-1829) und wurde schon ein halbes Jahrhundert vor Darwins Selektionstheorie formuliert. Der französische Naturforscher begründete eine transformistische Entwicklungslehre, die ganz auf dem Begriff der Vererbung aufbaute.

Kernstück des Lamarckismus ist die (heute als unhaltbar erwiesene) Annahme, daß gewohnheitsmäßige funktionelle Anpassungen der Individuen direkt auf die Nachkommen weitervererbt würden. Eine Akkumulation von immer besseren individuellen Anpassungen über Generationen führe zur Entstehung neuer Arten. Artgemäße Anpassung könne nach Lamarck auf eine erbbedingte Kumulation individueller Anpassungen zurückgeführt werden.

Im lamarckistischen Verständnis der Entwicklungsgeschichte sei daher kein Platz für Mutation und Selektion. Die Hauptfaktoren der natürlichen Variation und ihrer Bewahrung seien die direkte Einwirkung des Milieus, der Lebensgewohnheit und die Vererbung auch erworbener Eigenschaften. Durch Herbert Spencer, der die These der Vererbung erworbener Eigenschaften unter dem Dach seiner allgemeinen Evolutionstheorie in der Biologie verwendete und in die Soziologie überhaupt erstmals einführte, erlangte diese These am Ende des 19. Jahrhunderts eine ungeheure Verbreitung.[84]

3.6. Bildung von Rassenhierarchien bis Gobineau

Schon im Zeitalter der Aufklärung hatte sich die Anthropologie als Wissenschaft zu konstituieren begonnen. Zunächst machten sich die Wissenschaftler – wie oben ausgeführt – an die Klassifizierung der Menschen, an die Katalogisierung im Geiste der erwachenden Naturwissenschaften. Aus diesen Klassifizierungen ging fast immer hervor, daß der Vorrang der weißen „Rasse“ gebührte. So wurden im 18. Jahrhundert erstmals Rassenhierarchien aufgestellt.[85]

Das große Problem und damit auch die Gefahr bei der Bildung von Rasseneinteilungen lag darin, daß die Anthropologen des 18. und 19. Jahrhunderts sich nicht darauf beschränkten, die Menschengruppen nur nach ihren physischen Merkmalen zu gliedern, sondern daß sie daraus weitere Schlüsse zogen. Diejenigen, die die Klassifikation vornahmen, maßten sich das Recht an, den zu definierenden Menschengruppen verschiedene Eigenschaften zuzuordnen. Von den physischen Merkmalen schlossen sie auf geistige oder moralische. So stellten sie Hierarchien von „Rassen“ auf. Die eigene „Rasse“ war die „Rasse“ des Fortschritts und der Wissenschaft. Die anderen „Rassen“ wurden als minderwertig oder sogar als degeneriert bezeichnet.[86]

Bei der Bildung von Rassenhierarchien spielte auch der Glaube an angeblich nicht oder nur langfristig veränderbare „Rassen“ eine Rolle. Da diese „Rassen“ mit bestimmten Charaktereigenschaften verknüpft wurden, die höchstens durch biologische Prozesse der Rassenvermischung zu verändern seien, galten die Rassenhierarchien in der Regel als nicht veränderbar. Außerdem gehörte nach damaliger Ansicht zu den zentralen Eigenschaften von „Rassen“ ihr Status als entweder überlegene und/oder unterlegene „Rasse“.[87]

Diese neue Anthropologie war damit auch die Rechtfertigung für die Sklaverei und koloniale Expansion. So waren die führenden amerikanischen Anthropologen überzeugte Anhänger der Sklaverei. Um ihren Ansichten in dieser Frage ein wissenschaftliches Fundament zu geben, machten sie sich daran, die natürliche Minderwertigkeit der Schwarzen zu beweisen. Der Kolonialismus fand nunmehr seine Rechtfertigung in der Anthropologie.[88]

[...]


[1] Vgl. hierzu auch Kapitel 5 dieser Arbeit.

[2] Vgl. WESTPHALEN, L. GRAF VON: Geschichte des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (Quellen und Arbeitshefte zur Geschichte und Gemeinschaftskunde), Stuttgart 1971, S. 42.

[3] Vgl. zur Person und zum Werk Gobineaus MÜHLEN, P. VON ZUR: Rassenideologien: Geschichte und Hintergründe (Internationale Bibliothek; Bd. 102), Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 52 f, GOBINEAU, J. A. GRAF DE: Die Ungleichheit der Menschenrassen, übersetzt von R. Kempf, Kurt Wolff-Verlag Berlin, Berlin 1935, S. VII f, YOUNG, E. J.: Gobineau und der Rassismus. Eine Kritik der anthropologischen Geschichtstheorie (Archiv für vergleichende Kulturwissenschaft; Bd. 4), Meisenheim am Glan 1968, S. 107 sowie MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON in 25 Bänden, 9. Auflage, Mannheim/Wien/Zürich, „Gobineau“. Vgl. darüber hinaus die, wenn auch „propagandistisch eingefärbte“, ausführliche Biographie Gobineaus von Ludwig Schemann. SCHEMANN, L.: Gobineau. Eine Biographie, 2 Bde., Straßburg 1913/16.

[4] Zum ersten Mal im Original erschienen in 4 Bänden 1853-55. Die erste deutsche Übersetzung der Abhandlung „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ erschien in 3 Bänden 1898-1901 von Ludwig Schemann.

[5] Zu nennen wären hier u. a. Reiseerlebnisse (Novellen, 1872; dt. 1945), Das Siebengestirn (Roman, 1874; dt. 1909, 1964 unter dem Titel „Die Plejaden“), Asiatische Novellen (1876; dt. 1923), Die Renaissance (Dichtung, 1877; dt. 1896) sowie Alexander (Drama; dt. 1902). Vgl. für einen kleinen Einblick in das Werk Gobineaus GOBINEAU, J. A. GRAF DE.: Gobineau. Auswahl aus seinen Schriften, herausgegeben von Fritz Friedrich. In: Jeannot von Grotthuss (Hrsg.): Bücher der Weisheit und Schönheit, Stuttgart 1906.

[6] Unter Sozialdarwinismus versteht man die nach Ch. R. Darwin benannte soziologische Theorienrichtung aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Darwins Lehre von der natürlichen Auslese (Selektionstheorie, Darwinismus) auf die Entwicklung von Gesellschaften übertrug und die eng mit Evolutionismus, Biologismus und der Organismustheorie verbunden ist. Im Sozialdarwinismus, der auf Ideen H. Spencers zurückgriff, wird die menschliche Gesellschaft als Teil der Natur und den Naturgesetzen unterworfen angesehen. Die Menschen seien von Natur aus ungleich. Diese Ungleichheit führe zur Bildung gesellschaftlicher Hierarchien, denn im Lebenskampf, in den sozialen Konflikten („Kampf ums Dasein“) setzten sich die „Tauglichsten“ durch, während sich die weniger Geeigneten unterordneten. Die gesellschaftliche Entwicklung sei daher gleichsam ein biologisch notwendiger, natürlicher Ausleseprozeß sowohl zwischen Individuen als auch zwischen verschiedenen Gruppen, Gesellschaften, „Rassen“ oder Völkern. Eine solche Auffassung rechtfertigt jeweils bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten als natürlich und unumgänglich und lehnt sozialstaatliche Eingriffe scharf ab. Vgl. MEYERS, „Sozialdarwinismus“, KOCH, H. W.: Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken (Beck’sche Reihe; Bd. 97), München 1973 sowie zu den darwinistischen Rassentheorien u. a. auch MÜHLEN VON ZUR, S. 74 ff. Vgl. weiterhin die kritischen Bemerkungen von Marco Schütz zum „inflationären“ Gebrauch des Begriffs Sozialdarwinismus, der leicht dazu führen könne, daß „echte“ Sozialdarwinisten nicht mehr von solchen Autoren zu unterscheiden seien, deren sozialwissenschaftliches oder politisches Denken sich weitgehend unabhängig von jener Theorie entwickelt habe, die sich aber hier und da in ihren Schriften auf Darwin berufen oder populäre darwinistische Begriffe verwenden würden. SCHÜTZ, M.: Rassenideologien in der Sozialwissenschaft (Collection Contacts, Série II – Gallo-germanica; Vol. 11), Bern/Berlin u. w. 1994, S. 13 ff.

[7] So beschreibt Nietzsche in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ den Weg des Menschen zum Übermenschen. Vgl. NIETZSCHE, F.: Also sprach Zarathustra, 2. Auflage, Atlas-Verlag Köln, Köln o. J. Zur Kurzbiographie über das Leben und Werk Nietzsches: MEYERS, „Nietzsche“.

[8] Vgl. KINDER, H./HILGEMANN, W. (Hrsg.): dtv-Atlas zur Weltgeschichte. Karten und chronologischer Abriß. Band II (Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart), 18. Auflage, München 1983, S. 11, 64.

[9] Auch wenn der Darwinismus zeitlich nach dem „Essai“ Gobineaus einzuordnen ist.

[10] Vgl. hierzu auch GEISS, I.: Geschichte des Rassismus, Frankfurt 1988, S. 17 f, dessen diesbezüglichen Ausführungen ich mich an dieser Stelle anschließen möchte.

[11] Zu den vollständigen Titeln der im folgenden aufgeführten Werke siehe Literaturverzeichnis.

[12] Bevor auf die Problematik des Rassenbegriffs sowie auf die Themenbereiche Rassismus und Rassenkonflikte (Kapitel 4 dieser Arbeit) eingegangen wird, sollte man sich vor Augen halten, daß „jeder Versuch, eine Geschichte des Rassismus zu schreiben, [...] vor den Problemen [steht], die sich beim gegenwärtigen Forschungs-, Wissens- und Reflektionsstand mit einem schmalen Band einführenden Charakters nicht lösen lassen. So ist sich die Fachliteratur einig, daß eine befriedigende Definition von «Rasse» und Rassismus noch nicht gefunden ist.“ GEISS, S. 9. Diese Aussage beweist auch heute noch Gültigkeit.

[13] Vgl. hierzu und im folgenden SCHÜTZ, S. 34 ff, GEISS, S. 14 ff sowie YOUNG, S. 31 ff.

[14] Im Spanischen heißt es ‚raza‘, im Portugiesischen ‚raça‘.

[15] Erst im 19. Jahrhundert wurde das Wort ‚race‘ als „Rasse“ eingedeutscht.

[16] TANT, F. (1606), zit. nach Schütz, S. 34.

[17] FURETIÈRE (1727), zit. nach ebenda, S. 35.

[18] Vgl. diesbezüglich die Ausführungen in Kapitel 3.3 und 3.4 dieser Arbeit.

[19] „Die Absurdität des Rassismus erhöht sich noch durch die Unmöglichkeit, sich irgendwie auf eine allgemeingültige Definition für »Rasse« festzulegen: Fast jeder der zahlreichen Autoren und Theoretiker hat seinen eigenen »Rassen«-Begriff.“ GEISS, S. 38. Darüber hinaus reicht bei der Klassifizierung der „Rassen“ durch diverse Autoren die Anzahl dieser von einer „Rasse“ bis zu dreiundsechzig verschiedenen „Rassen“. Vgl. EBENDA, S. 38 f. Poliakov geht bezüglich der Anzahl der möglichen „Rassen“ sogar noch einen Schritt weiter: „Nun zeigt eine Überschlagsrechnung, daß, wenn man nur etwa zwanzig der erblichen Merkmale nimmt – ihre Anzahl ist unendlich viel größer –, die verschiedenen Kombinationen, die sie miteinander bilden können, beinahe eine Million erreichen, und daraus müßte man auf eine Million von „Menschenrassen“ schließen.“ POLIAKOV, L./DELACAMPAGNE, C./GIRARD, P.: Über den Rassismus: 16 Kapitel zur Anatomie, Geschichte und Deutung des Rassenwahns. Mit einer Einleitung von Philipp Wolff-Windegg, Frankfurt/Berlin/Wien 1984, S. 17. Und die Soziologin Colette Guillaumin schreibt: „Im Grenzfall bildet jedes Individuum mit seiner spezifischen Zusammensetzung von Rassenmerkmalen eine Rasse für sich.“ GUILLAUMIN, C., zit. nach ebenda.

[20] Vgl. hierzu und im folgenden SILBERMANN, A.: Der ungeliebte Jude. Zur Soziologie des Antisemitismus (Texte + Thesen; 134), Zürich 1981, S. 23 ff, 63 ff.

[21] Vgl. WIPPERMANN, W.: Was ist Rassismus? Ideologien, Theorien, Forschungen. In: Barbara Danckwortt/Thorsten Querg/Claudia Schöningh (Hrsg.): Historische Rassismusforschung: Ideologen, Täter, Opfer. Mit einer Einleitung von Wolfgang Wippermann (Edition Philosophie und Sozialwissenschaft; 30), Hamburg/Berlin 1995, S. 9. Wippermann bezieht sich dabei u. a. auf CAVALLI-SFORZA, L./CAVALLI-SFORZA, F.: Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage. Aus dem Italienischen von Sylvia Hofer, München 1994.

[22] CAVALLI-SFORZA, S. 367. Darüber hinaus betonen sie nochmals, daß die Menschen zwar sichtbare Unterschiede aufweisen, sie sich aber bezüglich ihrer übrigen genetischen Konstitution nur geringfügig voneinander unterscheiden. Vgl. EBENDA, S. 203.

[23] Vgl. EBENDA.

[24] So taucht u. a. in England und Amerika das Wort „Rasse“ in bezug auf den Menschen in einigen neueren Lexika und Nachschlagewerken gar nicht mehr auf. Vgl. WIPPERMANN, S. 31. Es wurde auch in der Soziologie der diffuse Begriff der „Rasse“ mehr und mehr durch den Terminus der ethnischen Gruppe ersetzt, wodurch zumindest die Betonung physischer Unterschiedlichkeiten zugunsten der Erkenntnis vom Menschen als einem vorherrschend kulturellen Geschöpf beseitigt wurde. Vgl. SILBERMANN, S. 24.

[25] Vgl. hierzu und im folgenden POLIAKOV, Über den Rassismus, S. 12 ff.

[26] EBENDA, S. 13.

[27] Wie später noch gezeigt wird, interpretierte Gobineau die Französische Revolution in ähnlicher Weise. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Poliakov zu dem Streit der zwei „Rassen“, Gallier und Franken, in Frankreich. Hierbei geht es um die Frage der Abstammung der Franzosen (und deren Wandel im Laufe der Geschichte) aus Sicht der Franzosen, d. h., es wird der Frage nachgegangen, auf welche Genealogien sich die Franzosen im Laufe ihrer Zeit bezogen, auch unter Heranziehung von Ursprungsmythologien. Infolge dieser Genealogien wurden dann sowohl die Revolution von 1789 als auch die Julirevolution von 1830 von vielen als ein Sieg der Gallier, also ein Sieg der Besiegten, der Eroberten, der Unfreien, der Bauern und Bürgerlichen, über die Franken, also über die Sieger, die Eroberer, die Freien, den Adel interpretiert. POLIAKOV, L.: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Aus dem Französischen von Margarete Venjakob und Holger Fliessbach, Hamburg 1993, S. 33-52, insbes. S. 44 ff.

[28] Genauer gesagt verwandte Gobineau einen genealogischen bzw. anthropologischen Rassenbegriff.

[29] Vgl. POLIAKOV, Über den Rassismus, S. 13 ff sowie des weiteren zur Problematik der „Rasse“ DITTRICH, E. J.: Das Weltbild des Rassismus (Reihe: Migration und Kultur), Frankfurt 1991, der insbesondere auf den Seiten 9-40 auf die „Rasse“ als biologisches und als sozialwissenschaftliches Problem eingeht. Vereinfacht läßt sich festhalten, daß sich nach seiner Ansicht biologische Arten durch Vererbung genetischer Eigenschaften, die menschliche Gattung aber durch die Sozialisation ihrer Nachkommenschaft reproduziere. Vgl. hierzu auch WIPPERMANN, S. 30 f. Hier thematisiert Wippermann, unter Bezugnahme auf die Thesen verschiedener englischer und französischer Autoren, wonach heute in Deutschland an die Stelle des bisherigen biologischen Rassismus ein „kulturalistisch“ oder „differentialistisch“ argumentierender „Neorassismus“ getreten sei, im Rahmen der Frage „Was ist Rassismus?“ die Begriffe der „biologischen“ und „kulturellen Rasse“. Die „kulturelle Rasse“ basiere dabei auf den kulturellen Unterschieden der Völker, also der kulturellen Differenz. Dabei könne man die einzelnen Völker nach ihrem kulturellen Wert differenzieren. Genau wie der biologische gehe dabei der kulturelle Rassismus von einer unterschiedlichen Wertigkeit der Völker bzw. der „Rassen“ aus, so daß man folglich dann auch den Begriff der „kulturellen Rasse“ finde.

[30] Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Immanuel Geiss zur Einheit der Menschheit. In Wirklichkeit seien alle rezenten Menschen Homo sapiens sapiens, spätestens seit dem Auftreten des Cro-Magnon-Menschen, ein relativ später Vertreter des Jetztmenschen vor ca. 40.000 Jahren. Alle hätten als intellektuelle Grundausstattung die Fähigkeit zu artikulierter Sprache, gedanklicher Abstraktion und gezieltem Lernen. Darüber hinaus würden nur 1 bis 2 % der an der Fortpflanzung beteiligten Gene die äußerlichen Merkmale eines Menschen generieren. Deshalb sei trotz der vielfältigen Ausdifferenzierungen der Menschheit die grundsätzliche Einheit der Menschheit und des historischen Prozesses zu betonen, auch wenn dies der Rassismus hartnäckig leugne. Dieser behaupte, daß – physisch und äußerlich durchaus unterschiedliche – „Rassen“ (Großgruppen, Großpoole) auch in ihren geistigen Fähigkeiten biologisch, d. h. im Prinzip unveränderbar erscheinen. Daraus würden sich Abstufungen geistiger und moralischer Wertigkeiten für „höhere“ und „niedere“ „Rassen“ ergeben. Unterschiedliche geistige Fähigkeiten verschiedener Menschen seien jedoch einerseits auf unzählige individuelle Unterschiede in den Begabungen zurückzuführen. Andererseits böten verschiedene Gesellschaften dem Individuum unterschiedliche Chancen, seine Begabungen wirklich zu entfalten, und zwar in Abhängigkeit des unterschiedlichen kulturellen Entwicklungsstands einer Gesellschaft. Die Gründe für diese Entwicklungsdifferenzen würden dabei nicht auf Rassenunterschieden beruhen, sondern seien das Ergebnis zahlreicher verschiedener Faktoren. GEISS, S. 20 ff.

[31] Vgl. CAVALLI-SFORZA, S. 81, 89 f.

[32] Für die Aufspaltung in größere und kleinere Groß-Gruppen gibt es bezüglich des Wann, Wie und Warum jedoch keine bzw. kaum Anhaltspunkte. Die größten Großgruppen lassen sich als Europiden, Mongoloiden und Negriden unterscheiden. Die Europiden teilen sich vor allem in zwei Hauptzweige auf – Semiten (Araber, Juden) und Indoeuropäer bzw. -germanen mit ihren zahlreichen Verzweigungen, die ebenso vage wie unzutreffend oft auch als Arier bezeichnet werden. Vgl. CAVALLI-SFORZA, S. 50 f, 55, 75 ff sowie S. 200, auf der in einer Karte die wahrscheinlichen Routen des modernen Menschen bei seiner Ausbreitung von Afrika auf die anderen Kontinente dargestellt sind, GEISS, S. 22 ff sowie REHORK, J.: Urgeschichte. In: Heinrich Pleticha (Hrsg.): Weltgeschichte in 14 Bänden. Band 1 (Morgen der Menschheit. Vorgeschichte und Frühe Hochkulturen), Berlin/Darmstadt/Wien 1988, S. 25 ff.

[33] CAVALLI-SFORZA, S. 168 f. Vgl. diesbezüglich auch in demselben Werk die detaillierte Darstellung „Warum sind wir verschieden? Die Theorie der Evolution“. EBENDA, S. 127-174.

[34] Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Immanuel Geiss zur Fiktion der „Rassenreinheit“ und der Willkür des „Rassen“-Begriffs, GEISS, S. 38 ff sowie die diesbezüglich Ausführungen über „Rassismus und reine Rassen“ von CAVALLI-SFORZA, S. 367 ff.

[35] An dieser Stelle möchte ich aber nochmals darauf hinweisen, daß die Unterscheidung in biologische „Rassen“ und soziologische „Rassen“, wie sie früher von den Wissenschaftlern vorgenommen wurde, als überholt gilt, da der biologische Rassenbegriff in der neuesten Forschung abgelehnt wird.

[36] Bernier verwandte den Begriff „Rasse“ als Bezeichnung für eine der großen Menschheitsgruppen. In diesem Sinne verstand er „Rasse“ als Synonym für „espèce“ (Spezie, Art, Gattung) und wertfrei als Instrument analysierender Klassifizierung. Erst mit der Zuordnung positiver bzw. negativer geistiger und moralischer Eigenschaften zu biologisch angeblich konstanten „Rassen“ Ende des 18. Jahrhunderts begann der moderne Rassismus im engeren Sinn. Die Wortschöpfung Rassismus dagegen ist sehr viel jünger. Sie tauchte erst in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts in westlichen Ländern auf und verbreitete sich dann vor allem als Folge des wachsenden Antisemitismus in Deutschland und der Nürnberger Gesetze in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts. Vgl. GEISS, S. 17 f, S. 24 sowie POLIAKOV, Über den Rassismus, S. 44 f.

[37] Vgl. hierzu SCHÜTZ, S. 34 ff, mit seinen Ausführungen zur positivistischen Anthropologie sowie Blanckaert, C.: On the origins of french ethnology. In: Georg W. Stocking jr. (Hrsg.): Bones, Bodies, Behavior. Essays on biological anthropology (History of anthropology; Bd. 5), Madison/London 1988, S. 18-55.

[38] Ausgehend von der anfangs durchaus sinnvollen Aufteilung der Menschheit in Groß-Gruppen nach äußeren Merkmalen, von Bernier bis Kant, verengte sich die Definition von „Rasse“ immer weiter, über Unterteilungen der Europiden, die an sich nur sprachlich zu unterscheiden waren (Indoeuropäer/Arier; Semiten), bis zur nationalen völkischen Ebene. Vgl. GEISS, S. 39.

[39] Vgl. hierzu auch EBENDA, S. 24.

[40] Auf ihn geht auch die heute noch übliche Nomenklatur zurück, nach der ein lebender Organismus mit zwei lateinischen Namen bezeichnet wird: Der erste ist der Name der Gattung, das heißt einer Gruppe von verwandten Arten, der zweite ist der Name der Art, die definiert wird als die Gesamtheit jener Individuen, die fähig sind, Nachkommen hervorzubringen, die ihrerseits wieder fruchtbare Nachkommen haben. Vgl. CAVALLI-SFORZA, S. 74.

[41] Monogenese ist die biologische Theorie von der Herleitung jeder gegebenen Gruppe von Lebewesen aus je einer gemeinsamen Urform (Stammform), im Gegensatz zur Polygenese, als biologische Theorie von der stammesgeschichtlichen Herleitung jeder gegebenen Gruppe von Lebewesen aus jeweils mehreren Stammformen.

[42] Hierbei ist anzumerken, daß die Geschichte, die Geographie, die Religionswissenschaft und die Ethnographie bestätigen, daß sich jede Gesellschaft auf eine Genealogie, auf einen Ursprung beruft. Es gibt keine Kultur, die sich nicht auf diese Weise eine „spontane Anthropologie“ schafft. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Vorgeschichte der Anthropologie lang, ebenso lang wie die Menschheitsgeschichte. Die Geschichte der Menschen muß daher mit der Menschwerdung begonnen haben. Dabei „stammen“ die Mitglieder einer Menschengruppe von einem Gott, einem Heros oder einem Tier ab. Der genealogische Mythos ist also die Urform des historischen Denkens. Vgl. POLIAKOV, Der arische Mythos, S. 17. Vgl. des weiteren zur Anthropologie der Aufklärung die Ausführungen Poliakovs zu den Monogenetikern EBENDA, S. 179 ff.

[43] Durch die moderne Archäologie und Frühgeschichtsforschung wird die damit implizierte Lehre der Monogenese bestätigt und ist heute Konsens aller ernstzunehmenden Wissenschaft. Nach unserem bisherigen Wissensstand sind die Anfänge der Menschheit in einer Region zu suchen, im südlichen Ostafrika, und alle bisherigen Funde menschlicher Überreste außerhalb dieses Ausgangspunktes sind jüngeren Datums. Auch der Vorfahre des rezenten Jetztmenschen, Homo sapiens sapiens, entstand vermutlich in einer Region, im Vorderen Orient. Bald danach müssen sich die verschiedenen Groß-Gruppen abgezweigt haben. Damit deutet auch für die Entstehung des Homo sapiens sapiens alles auf die Monogenese hin. Der biblische Schöpfungsbericht könnte daher den realhistorischen Prozeß der zweiten Stufe der Menschwerdung widerspiegeln, stilisiert und abstrahiert. Vgl. GEISS, S. 36 f.

[44] Vgl. POLIAKOV, Der arische Mythos, S. 22. Poliakov weist an dieser Stelle auch darauf hin, daß es bemerkenswert sei, daß die Abkömmlinge Hams nach den Worten der Bibel mit einem geheimnisvollen Fluch belegt wurden. Sie wurden verurteilt, ihren Vettern als Sklaven zu dienen. Immanuel Geiss führt dabei aus, daß der älteste schriftlich fixierte Versuch, sich die Aufspaltung der Menschheit zu erklären, dieser Fluch Noahs über Hams Sohn Kanaan war: „Verflucht sei Kanaan und ein Knecht aller Knechte unter seinen Brüdern!“ (1. Mose 9, 25-27). Wie schon erwähnt, galten in Kombination von Genealogie und Volksetymologie die drei Söhne Noahs als Stammväter der dem Alten Orient damals bekannten „Rassen“. Die Unterordnung der Nachfahren Hams (Negride) als Sklaven für die Nachfahren seiner beiden Onkeln Japhet (Japhetiten) und Sem (Semiten) ermöglichte später die Umdeutung des Noah-Fluchs im Talmud schon zu Beginn des jüdischen Exils (3./4. Jahrhundert), die später das Christentum und der Islam übernahmen: Schwarze sind von Geburt an zur Sklaverei verurteilt. Damit wurde seit der euroamerikanischen Neuzeit (wie zuvor schon im arabisch-muslimischen Mittelalter) der Noah-Fluch zur biblischen Grundlage der Rechtfertigung von Sklaverei und Inferiorität der Schwarzen. Vgl. GEISS, S. 23.

[45] Es war Immanuel Kant, der den Begriff der Abartung als Äquivalent zum Rassenbegriff vorschlug. KANT, I.: Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie. In: W. WEISCHEDEL (Hrsg.): Immanuel Kant. Werke in zehn Bänden; Bd. 8 (Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie), Darmstadt 1975, S. 144 f.

[46] Vgl. hierzu HORTZITZ, N.: Früh-Antisemitismus in Deutschland (1789-1871/72): Strukturelle Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation (Reihe germanistische Linguistik; 83), Tübingen 1988, S. 97, BITTERLI, U.: Die ‘Wilden’ und die ‘Zivilisierten’. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, 2. Auflage, München 1991, S. 211 ff sowie GEISS, S. 24, 142 f.

[47] Anzumerken ist hierbei, daß um die zwei evolutionstheoretischen Positionen herum, die monogenetische und die polygenetische, die Entwicklung der Naturwissenschaften und mit ihr die Entwicklung der Anthropologie kreist. Die Biologen, Anthropologen und Philosophen des 18. Jahrhunderts, so z. B. Herder, Kant, Montesquieu, Voltaire, Buffon, Camper, Sömmering und Blumenbach, waren zumeist Monogenisten, wenn auch die Argumentationsketten der einzelnen Autoren unterschiedlich waren. Vgl. BITTERLI, S. 327 ff.

[48] Die Kontroverse zwischen Monogenese und Polygenese ist grundlegend für die Frage nach der Einheit der Menschheit. Da der Rassismus grundsätzliche Gemeinsamkeiten der Menschheit leugnet und Menschen als außer- oder unterhalb der Menschheit stehend klassifiziert, spitzt sich alles auf die Frage zu: Was ist ein Mensch? Um dies zu beantworten, bedarf es der Kenntnis über die Abstammung der Menschheit. Vgl. hierzu auch GEISS, S. 35 ff. Auch wenn der Rassismus hinter dem Schleier angeblicher Andersartigkeit die Anderswertigkeit anderer „Rassen“ postuliert, so mag er doch ihr „Menschsein“ nicht bestreiten. Vgl. hierzu auch Kap. 4.1 dieser Arbeit.

[49] Die These der Polygenese versuchte die Existenz zahlreicher, bisher unbekannter Völker zu erklären, die jenseits des geographischen wie religiösen Einzugsbereiches des biblischen Gottes und seiner Schöpfung lebten. Dabei liefen die Schlußfolgerungen der Polygenese auf die Auflösung der prinzipiellen Einheit der Menschheit hinaus. Vgl. GEISS, S. 37.

[50] Die Annahme der Typenkonstanz beim Menschen wurde auch von Gobineau vertreten. Vgl. Kapitel 7.2 dieser Arbeit.

[51] Vgl. zur Anthropologie Saint-Vincents, der insgesamt zwischen fünfzehn separat erschaffenen Menschenarten unterschied, POLIAKOV, Der arische Mythos, S. 250.

[52] Vgl. hierzu POLIAKOV, Über den Rassismus, S. 69 ff.

[53] Vgl. hierzu auch die entsprechenden Ausführungen im Kapitel 5.2 dieser Arbeit.

[54] Jedoch existierten auch vor La Peyrère schon vereinzelt Überlegungen und Konzeptionen, die die biblische Doktrin der Einheit des Menschengeschlechts in Zweifel zogen und von Menschen ausgingen, die vor Adam gelebt hätten. Die Theorie der Einheit des Menschengeschlechts wurde somit schon so lange in Zweifel gezogen, wie es sie gab, und das bereits vor der Entdeckung neuer, exotischer Kontinente. Vgl. hierzu POLIAKOV, Der arische Mythos, S. 153 ff. Vgl. des weiteren zu den Polygenetikern zur Zeit der Anthropologie der Aufklärung EBENDA, S. 201 ff.

[55] Vgl. hierzu POLIAKOV, Über den Rassismus, S. 71 ff, POLIAKOV, Der arische Mythos, S. 155 f sowie BITTERLI, S. 327.

[56] Vgl. hierzu auch weiter oben.

[57] BERNIER, F. (1684), zit. nach Poliakov, Über den Rassismus, S. 72.

[58] Vgl. hierzu auch GOULD, ST. J.: Der falsch vermessene Mensch (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 583), Frankfurt 1988, S. 73 ff.

[59] Vgl. zu Quatrefages, der die Abschaffung der Sklaverei wünschte – allerdings wegen der Sittenlosigkeit, die sie bei den Weißen zwangsläufig mit sich bringen würde und nicht aufgrund irgendeiner „Sympathie“ für die schwarze „Rasse“, POLIAKOV, Der arische Mythos, S. 251.

[60] Vgl. zur weiteren Entwicklung der französischen positivistischen Anthropologie und deren Niedergang nach Brocas Tod, als deren theoretischen Defizite langsam offenbar wurden, SCHÜTZ, S. 39 ff.

[61] Vgl. EBENDA, S. 37.

[62] Vgl. HORTZITZ, S. 9.

[63] Durch das Aufkommen einer messenden und klassifizierenden Anthropologie mit wissenschaftlichem Anspruch spielten damit bei der Klassifizierung Umfang und Form des Schädels eine Rolle. Jedoch besagen quantitative Angaben über die Größe der Hirnschale noch nichts über inhaltliche Qualität, weder für die Individuen noch für „Rassen“. Darüber hinaus ist innerhalb einer gewissen individuellen Toleranz bei allen „Rassen“ die Gehirnmasse des Jetztmenschen durchschnittlich gleich groß. Vgl. GEISS, S. 39.

[64] Phrenologie ist die (heute) als irrig erwiesene Anschauung, daß aus den Schädelformen auf bestimmte geistig-seelische Veranlagungen zu schließen sei.

[65] Vgl. SCHÜTZ, S. 37 f.

[66] Vgl. zu Lavater auch BITTERLI, S. 356 ff.

[67] Vgl. SCHÜTZ, S. 38

[68] Vgl. zu Blumenbach auch BITTERLI, S. 349 ff.

[69] Vgl. HORTZITZ, S. 9.

[70] Vgl. EBENDA, S. 9 f.

[71] Vgl. RÖMER, R.: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, München 1985, S. 22.

[72] Dieses Unterscheidungsmerkmal verliert aber jede sinnvolle Unterscheidungskraft, wenn man bedenkt, daß es innerhalb jeder Groß-Gruppe sowohl „lang“- und „kurzschädelige“ Menschen als auch Zwischenformen gibt. Vgl. GEISS, S. 39 f.

[73] Vgl. HORTZITZ, S. 10, 171 (Anmerkung 3). Der Längen-Breitenindex drückt die Breite des Schädels in Prozent seiner Länge aus. Ein Wert bis 75 definierte die dolichocepahl-langköpfige Form, während die Brachycephalie (Kurzköpfigkeit) ab einem Quotienten von 80 beschrieben wurde. Die von Broca etwas später eingeführte Mesocephalie, Mittelköpfigkeit, bezeichnete die Indizes zwischen 75 und 80.

[74] So schreibt auch Gould: „Die Schädelmessung war während des 19. Jahrhunderts die führende Zahlenwissenschaft des biologischen Determinismus.“ GOULD, S. 20. Vgl. zu weiteren Einzelheiten der Kraniometrie EBENDA, S. 73 ff.

[75] Vgl. DITTRICH, S. 20.

[76] Vgl. hierzu auch Kapitel 3.3.

[77] Vgl. HORTZITZ, S. 10 f.

[78] Das Errechnen von statistischen Durchschnittswerten führte außerdem zu einem Verschwimmen des Rassenbegriffs mit dem Begriff des Typus. Vgl. hierzu SCHÜTZ, S. 38 f. Die Beobachtung, daß zwischen einzelnen lokalen Gruppen, in bezug auf die quantitativen Merkmalsunterschiede, keine scharfen Grenzen zu ziehen seien, trug zu den Schwierigkeiten bei, den Begriff der „Rasse“ klar zu definieren. Durch Erfassung konstant auftretender und genealogisch verfolgbarer Merkmalskombinationen, wobei eben nur diesen umweltstabilen und konstant vererbbaren Merkmalen rassenklassifikatorische Bedeutung zugemessen wurde, bestimmte man den anthropologischen Durchschnittstypus einer Population, ohne jedoch den Typusbegriff von dem der „Rasse“ eindeutig abzugrenzen. Im allgemeinen verstand man beim Menschen unter „Rassen“ theoretische Typen, die nach Analyse körperlicher Merkmalseigenschaften aus dem Gros der Individuen einer ethnischen Gruppe abgeleitet wurden, ohne aber – im Gegensatz zu den zoologischen Typen – an allen Individuen eben dieser Gruppe realisiert zu sein. Vgl. HORTZITZ, S. 11 sowie MÜHLMANN, W. E.: Geschichte der Anthropologie, 4. Auflage, Wiesbaden 1986, S. 98 ff.

[79] Vgl. SCHÜTZ, S. 28 ff. Vgl. zu Darwin auch SHIPMAN, P.: Die Evolution des Rassismus. Gebrauch und Mißbrauch von Wissenschaft. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel, Frankfurt 1995, S. 15 ff.

[80] Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Immanuel Geiss über Darwin und den Sozialdarwinismus. GEISS, S. 170 ff.

[81] DARWIN, C.: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (Reclams Universal-Bibliothek; Bd. 831). Aus dem Englischen von Carl W. Neumann, Leipzig 1990, S. 77.

[82] Vgl. EBENDA, S. 75.

[83] Vgl. SCHÜTZ, S. 31 ff.

[84] Vgl. EBENDA, S. 28 ff sowie POLIAKOV, Der arische Mythos, S. 244 f.

[85] Vgl. POLIAKOV, Über den Rassismus, S. 76 f sowie hierzu auch KIEFER, A.: Das Problem einer „jüdischen Rasse“: eine Diskussion zwischen Wissenschaft und Ideologie (1870-1930) (Marburger Schriften zur Medizingeschichte; Bd. 29), Frankfurt/Bern/New York/Paris 1991, S. 9 f. Vgl. außerdem Kapitel 5 dieser Arbeit.

[86] Vgl. POLIAKOV, Über den Rassismus, S. 20.

[87] Vgl. GEISS, S. 15.

[88] Vgl. POLIAKOV, Über den Rassismus, S. 105 ff.

Ende der Leseprobe aus 140 Seiten

Details

Titel
Die Rassentheorie des Grafen Joseph Arthur de Gobineau. Eine Analyse des 'Essais', seiner Vorläufer und seiner Folgen
Hochschule
Universität Mannheim
Note
1,0
Autor
Jahr
1998
Seiten
140
Katalognummer
V41817
ISBN (eBook)
9783638400060
ISBN (Buch)
9783638700207
Dateigröße
1123 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rassentheorie, Grafen, Joseph, Arthur, Gobineau, Eine, Analyse, Essais, Vorläufer, Folgen
Arbeit zitieren
Oliver Trey (Autor:in), 1998, Die Rassentheorie des Grafen Joseph Arthur de Gobineau. Eine Analyse des 'Essais', seiner Vorläufer und seiner Folgen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41817

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