Ein Volk, Ein Land, Zwei Diktaturen. Eine diktaturtheoretische Vergleichsperspektive der Herrschaftssysteme Drittes Reich und DDR.


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

46 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorien und Vergleichsmethodik
2-1. Geschichtliche Dimension des Diktatur-Begriffs
2-2. Totalitarismusforschung – Diskussion und Kontroverse
2-3. Ausgewähltes Theoriegerüst.
2-4. Besonderheiten zum Vergleich NS – DDR

3. Drittes Reich und DDR – Aspekte des Vergleichs
3-1. Herrschaftspolitisch
3-2. Gesellschaftlich

4. Zusammenfassung und Ausblick

5. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

27. Februar 2005. Hollywood, kurz nach 22:00h. Das festlich geschmückte Kodak Theatre ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Dutzende Kameras transportieren jeden Winkel des Raumes und jede Emotion seiner Gäste in Millionen Wohnzimmer rund um den Globus. Eine junge Frau haucht ein ersticktes „ thank you all “ ins Mikrofon und verlässt zu Tränen gerührt das Podium in Richtung Zuschauer. Es ist der Höhepunkt ihrer Karriere. Es ist OSCAR – Nacht.

Eine Männerstimme durchbricht den rauschenden Applaus und richtet die Augen der wohl bedeutendsten Menschen des Filmgeschäfts erneut auf die Bühne. „… And here are the nominees for best foreign language film! “ Unter den fünf internationalen Produktionen erscheint auch ein deutscher Beitrag: „ Downfall – Der Untergang “.

Der Film entführt den Zuschauer ins Frühjahr 1945. Berlin steht unter schwerem Beschuss, das Ende des 2. Weltkriegs steht kurz bevor. Ort des Geschehens ist der Führerbunker. Auf eindrucksvolle und fast dokumentarische Weise vermittelt er die letzten Tage Adolf Hitlers und das Ende des Dritten Reiches.

Der Film lockte allein im ersten Monat seiner Veröffentlichung über 3 Millionen Zuschauer in die deutschen Kinos – ein immenser Erfolg! Fast 60 Jahre nach Ende der NS-Diktatur scheint das breite Interesse an ihr ungebrochen.

Erfolgreicher war nur ein anderer deutscher Film: „ Goodbye Lenin“ im Jahr 2002. Weit mehr als 6 Millionen Menschen sahen ihn allein in Deutschland. In Frankreich und England wurde er mit über 1 Million Zuschauer und einem Einspielergebnis von mehr als 1 Million britischer Pfund gar erfolgreichster deutscher Film überhaupt. Er gewann den Europäischen Filmpreis und erhielt eine Nominierung der Golden Globe Awards 2003.

Er zeigt das Ende der DDR – und wie eine Hand voll junger Menschen in den turbulenten Monaten nach dem Mauerfall versuchen, für eine erkrankte Verfechterin des SED-Staats ein Stückchen DDR-Alltag am Leben zu halten. Auch diesen Film beherrscht die über weite Strecken dokumentarische Betrachtung und Verarbeitung deutscher, ja europäischer Geschichte.

Fast 15 Jahre nach ihrem Zusammenbruch erscheint die DDR in der Öffentlichkeit lebendiger denn je. Im Sommer 2004 produzierte der deutsche Privatsender RTL die 3-teilige „ DDR-Show: Von Ampelmännchen bis Zentralkomitee “. Durchs Programm führten ein junger Moderator und Katharina Witt, Ausnahmesportlerin und Vorzeigeathletin des DDR-Regimes. Inhaltlich ließ die Sendung kaum eine kritische Perspektive zu. „Das passe auch nicht […]“, erklärte Witt selbstbewusst, „die DDR ist schließlich ein Teil unserer Geschichte, den muss man annehmen.“[1] Der Moderator ergänzte: „Es hat natürlich keinen Zweck, […] einen Grenzer einzuladen, um ihn zum Schießbefehl zu befragen.“[2] So regierten fast ausschließlich Nostalgie und Niedlichkeit. Katharina Witt: „Ich bin stolz auf die DDR. […] Es gab Thüringer Rostbratwürste und Spreewaldgurken, es war eine schöne Zeit.“[3]

Deutschland befindet sich in einer Umbruchphase. Anhaltender Reformeifer, wirtschaftliche Krisen und eine gewisse Neuorientierung von Werten dominieren die Tagespolitik. In diesem Umfeld bestimmt zunehmend auch eine idealisierte Darstellung der DDR-Wirklichkeit die politischen Debatten. Die Themen „Arbeitsmarktpolitik“ und „Kinderbetreuung“ sind hier nur zwei Beispiele. Auf der anderen Seite zeigt das jüngste Erstarken der NPD und ihr Einzug in den sächsischen Landtag im September 2004, wie ähnliche Thematiken mit „Fakten“ aus Zeiten des Nationalsozialismus öffentlich verzerrt werden. Unwissenheit und Halbwissen sowohl über die DDR, als auch über das Dritte Reich bilden stets den Kern solch polemischer Argumentationen. Die ideologische Verblendung dieser Regime scheint offenbar heutzutage immer noch nicht ausreichend erkannt.[4] Für Lothar Fritze, Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts in Dresden, ist dies eine bleibende Gefahr des Totalitarismus.

Im Zentrum dieser Arbeit stehen daher die theoretische Einordnung beider politischen Systeme als Diktaturen und ihr Vergleich anhand ausgewählter Beispiele. Dies erscheint bereits „[…] aus Gründen der politischen Bildung unverzichtbar […].“[5]

Ausgehend von Karl-Dietrich Brachers Definition einer Diktatur werden im ersten Teil der Arbeit mit Hilfe ausgewählter Totalitarismus-Theorien verschiedene Kriterien aufgezeigt, die eine Diktatur kennzeichnen. Darüber hinaus wird eine geeignete wissenschaftliche Methodik des Vergleichs vorgestellt, sowie auf Risiken und Chancen des vorliegenden Falles hingewiesen. Darauf aufbauend werden schließlich im zweiten Teil einzelne Elemente beider Systeme exemplarisch und vertiefend verglichen. Hierbei werden vor allem Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der DDR und dem Nationalsozialismus erarbeitet. Im Fazit soll dargelegt werden, in wiefern beide Staatsformen einer Diktatur entsprechen, ob es legitim ist, sie als solche zu bezeichnen und welche Bedeutung ein solcher Vergleich für die politische und öffentliche Debatte hat.

2. Theorie und Vergleichsmethodik

„Wer die Anstrengung des Begriffs scheut, findet sich nur allzu schnell in der nächtlichen Umgebung wieder, die alle Kühe grau macht.“

(Georg Wilhelm Friedrich Hegel)[6]

Zentraler Begriff dieser Arbeit ist die Diktatur. Da jedoch im Volksmund fast jede Staatsform einer Diktatur entspricht, die nicht eine funktionierende parlamentarische Demokratie ist, bedarf es zunächst einer begrifflichen Einordnung. Diese wird auf der Grundlage zentraler Totalitarismustheorien geschehen. Darüber hinaus wird eine geeignete Methodik zum Vergleich von Drittem Reich und DDR vorgestellt. Kern dieses Kapitels stellt also die Beantwortung folgender Was-Fragen dar:

1) Was ist eine (moderne) Diktatur und welche Merkmale zeichnen sie aus?
2) Was ist beim politikwissenschaftlichen Vergleich dieser zwei Staatsformen zu beachten?

Dieses Kapitel bildet somit das Fundament, auf dem der spätere Vergleich beider Herrschaftssysteme vorgenommen wird.

2-1. Geschichtliche Dimension des Diktatur-Begriffs

Um die Herrschaftssysteme Drittes Reich und DDR als Diktaturen klassifizieren zu können, ist zunächst eine Klärung des Diktatur-Begriffs nötig.

Historisch gesehen liegt der Ursprung dieses Herrschaftstyps in der griechischen Tyrannis und dem römischen Cäsarismus[7]. Hierbei handelte es sich um eine spezielle Regierungsform, die herrschaftstypologisch etwa einer Krisenregierung entsprach und sich meist auf einen gewissen Zeitraum beschränkte. Im römischen Sinne durfte diese verfassungsmäßige Notstandsmaßnahme nicht länger als 6 Monate andauern.[8] Franz Neumann liefert in seinen „Notizen zur Theorie der Diktatur (1954)“ eine allgemeine Definition der Diktatur und bezeichnet sie als: „Herrschaft einer Person oder einer Gruppe, die […] die Macht im Staat […] monopolisiert und ohne Einschränkung ausübt.“[9] Ihm zufolge entspricht die frühgeschichtliche Despotie einer „einfachen Diktatur“, da sie sich allein auf die damals üblichen Herrschaftsinstrumente (Armee, Polizei, Bürokratie) beschränkte. Otto Stammer charakterisiert diese Ausprägung auch als „konstitutionelle Diktatur“ und sieht sie als ursprünglichste Form an.[10]

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts verändert sich durch die stark zunehmende Industrialisierung und Technisierung der Gesellschaften auch die Gestalt von Diktaturen. Zwar versteht Karl-Dietrich Bracher die Beschaffenheit der modernen Diktatur „nachdrücklich von den historischen Formen […] der unbeschränkten Selbstherrschaft seit der Antike abgehoben“, dennoch existiert eine Rückbezüglichkeit zu früheren Ausprägungen.[11] Er versteht ihren wesentlichen Unterschied im Anspruch auf permanente Herrschaft, sowie durch die konstante Politisierung der Gesellschaft im Sinne eines autoritären Einheitsstaates.[12] Speziell die neuen Entwicklungen auf technischem Gebiet (Massenkommunikationsmittel wie Radio und Film, sowie Transportmittel, insbesondere das Flugzeug) erlauben eine viel stärkere ideologische Durchdringung und Manipulation der Bevölkerung durch gezielte Propaganda als früher.[13] Dies wird ebenfalls durch die zunehmende Verbreitung von Bildung in der Bevölkerung vereinfacht: mittlerweile sind Mitglieder aller sozialen Schichten in der Lage, Lesen und Schreiben zu können.

Für moderne diktatorische Regime ist seit der Französischen Revolution und der dadurch hervorgerufenen „Politisierung der Massen“ eine Berufung auf den Volkswillen, eine pseudo-legale Machtergreifung, eine pseudo-demokratische und plebiszitäre Verkleidung als Rechtfertigung der Alleinherrschaft, sowie eine breite propagandistische Fundierung einer „Volksdiktatur als wahre Demokratie“ unverzichtbar.[14] Eine völlige Kontrolle und Erfassung, sowie die ideologische Gleichschaltung des Lebens und Denkens der Staatsbürger bildet hierbei nach Bracher die Grundlage dieser neuen Ausprägung.[15] Diese Merkmale werden auch autorenübergreifend als wesentliche Elemente einer „modernen Diktatur“ des 20. Jahrhunderts angesehen. Otto Stammer setzt den Begriff der modernen Diktatur auch mit „totalitärer Herrschaft“ gleich.[16] Im Folgenden entsprechen die Begriffe der „modernen Diktatur“ und „totalitären Herrschaft“ also diesen angeführten Eigenschaften.

2-2. Totalitarismus - Diskussion und Kontroverse

In der theoretischen Untersuchung „moderner Diktaturen“ des 20. Jahrhunderts steht ihre herrschaftspolitische Wirkung auf den gesellschaftlichen Alltag der Bevölkerung viel stärker im Vordergrund, als es bei der Analyse historischer Formen der Fall ist. Dies ist auch nicht verwunderlich, liegen die hierfür erforderlichen zeitgenössischen Daten heutzutage auch in erheblich größerer Zahl vor, als aus jahrhunderte alten Quellen zu entnehmen ist. So ergibt sich bei der Auswertung und Interpretation in gewissen Punkten fast zwangsläufig ein ambivalentes Bild. Bekanntestes Phänomen ist wohl die Debatte über die Totalitarismus-Forschung an sich.

Der Begriff des Totalitarismus besitzt seinen Ursprung im Italien der 1920er Jahre. Benito Mussolini benutzte die Bezeichnung des „totalitäre Systems“ als faschistische Selbstdefinition und in Abgrenzung zum allgemeinen Begriff der Totalität.[17] In der faschistischen Konzeption entsprach der „totalitäre Staat“ einem Sinnbild ungeteilter und absoluter Macht. Dieses Verständnis wurde später auch von den deutschen Nationalsozialisten übernommen. Seine Begriffsverwendung fand seinen (kritischen) Höhepunkt wohl in der Formulierung Josef Göbbels vom „Totalen Krieg“.

Angesichts der neuen Qualität von Diktatur im 20. Jahrhundert formuliert Harald Franke den Anspruch einer Totalitarismustheorie folgendermaßen: sie „[…] soll wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die totalitären Wesenszüge faschistischer und kommunistischer Systeme liefern.“[18] Dabei soll der Forschungsschwerpunkt sowohl auf Herrschaftstechniken und –Instrumenten liegen, als auch die Rolle des Individuums im Unterdrückungssystem berücksichtigen. Karl-Dietrich Bracher betont hierbei die zusätzliche Erarbeitung diktatorischer Strukturprinzipien im Gegensatz zu pluralistischen Mehrparteiendemokratien.[19]

Von 1920 bis 1939 beschäftigte sich die internationale Forschung erstmals mit der Erstellung einer so genannten „Totalitarismustheorie“ bezüglich Hitler und Stalin. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Ausbruch des Kalten Krieges hatten Totalitarismustheorien bis in die 1960er Jahre primär die Betrachtung faschistischer gegenüber kommunistischer Herrschaftsformen im Blickfeld.

Doch gegen Ende der 1960er Jahre und mit dem Beginn einer allgemeinen „Marxismus-Renaissance“ auch in westlichen Ländern, geriet die einheitliche Behandlung faschistischer und kommunistischer Regime stark in die Kritik. Forscher, die dem politisch Linken Spektrum nahe standen, ersetzten den Begriff der Totalitarismustheorie seitdem durch „Faschismustheorie“. Sie warfen dieser Tradition zu starre und grobe Schemata vor, welche besonders die Singularität des jüdischen Massenmords während der Nazi-Herrschaft nicht erklärbar machten. Schließlich fand eine solch planmäßige Vernichtung von Minderheiten in kommunistischen Systemen auf diese Weise nicht statt.[20] Darum war es nach Wolfgang Wippermann berechtigt, „[…] alle vorhandenen Totalitarismustheorien daran zu messen, ob sie in der Lage sind, den Holocaust zu erklären.“[21] Trotz des Vorwurfs der Verharmlosung von NS-Verbrechen und der Vernachlässigung unterschiedlicher Ziele und Inhalte von Diktaturen, wiesen viele Wissenschaftler allerdings den Begriff der „Faschismustheorie“ zurück. Für Wolfgang Kraushaar stellte er lediglich ein ideologisiertes Produkt und einen „Kampf- bzw. Oppositionsbegriff“ zur Freund-Feind-Konstellation im Kalten Krieg dar.[22] Karl-Dietrich Bracher sieht darüber hinaus das Problem in der bewussten Ausklammerung einer vergleichenden Betrachtung faschistischer und kommunistischer Herrschaftsformen allein aus ideologischen Gesichtspunkten.[23] Detlef Schmiechen-Ackermanns Beschreibung als Diskussion im „verminten Begriffsgelände“[24] beschreibt die gesamte Situation sehr treffend. Knapp 20 Jahre später keimte der Disput durch den „Historikerstreit“ 1986/87 erneut auf. Bemerkenswert war hierbei, dass er durchaus in allgemeinen Publikationen (DIE ZEIT, FAZ) ausgefochten wurde.[25] Auslöser waren drei von Ernst Nolte veröffentlichte Thesen: a) unter die „NS-Vergangenheit, die nicht vergehen will“ einen Schlussstrich zu ziehen, b) das eine Kausalität zwischen dem kommunistischen Klassen- und nationalsozialistischen Rassenmord bestehe, sowie c) die NS-Verbrechen mit denen anderer Regime vergleichbar seien.[26] Hinzu kam der geäußerte Widerspruch, ob eine Totalitarismus-Theorie überhaupt benötigt würde, um liberale Demokratien zu schützen und von diktatorischen Regimes abzugrenzen? „Schon der Begriff der autoritären Herrschaft beschreibt ausreichend den Gegensatz zur westlichen Demokratie.“[27] Daher erfülle die Dichotomie von Diktatur und Demokratie schon alles.

Die Crux am bis dato nicht enden wollenden Begriffsstreit scheint wohl der begriffliche Doppelcharakter der „Totalitarismus-Theorie“ zu sein: er vereint sowohl die Bedeutung einer „Theorie zur Analyse von Diktaturen“, als auch eine ideologische Aufladung durch die Bezeichnung „Totalitarismus“, welche durch die Definition der Faschisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine negative Aufladung bekam. Detlef Schmiechen-Ackermann ergänzt in seinem Buch „Diktaturen im Vergleich“, dass der Begriff der „Totalitarismus-Theorie“ zwar einen wissenschaftlich etablierten Begriff zur Diktaturanalyse darstellt, dieser allerdings nicht empirisch fundiert und abgesichert ist.[28]

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Anfang der 1990er Jahre erlebte die Totalitarismusforschung jedoch eine Renaissance und gilt bis heute als führende diktatur-theoretische Forschungsdisziplin. Hannah Arendt und Carl-Joachim Friedrich gelten hierbei mit ihren Ansätzen als die klassischen Theoretiker.

Auch wenn heutzutage die Diskussion um die Begrifflichkeit beendet scheint, so existieren dennoch unterschiedliche Meinungen zum Forschungsziel. Karl-Dietrich Bracher zählt zu den Hauptkritikern einer allgemeinen Totalitarismus-Theorie. Seine Argumente sind im Wesentlichen: 1) die historisch-empirischen Erkenntnisse jener Regime durch fundierte Einzelanalysen seien noch mangelhaft; und 2) existieren vielfältige Grenzen der Anwendung einer einzigen Theorie, besonders hinsichtlich a) der wahrnehmbaren Erscheinung, b) der jeweiligen sozialen und ideologischen Voraussetzungen, sowie c) der individuellen Ausprägung.[29]

Ein weiteres Argument ist der oft angeführte „umfassende Herrschaftsanspruch“ eines diktatorischen Regimes, obwohl nur begrenzte Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten einer Gesellschaft existieren, oder mit den Worten von Heinz Hürten zu sprechen: „ein Monopol auf Öffentlichkeit ist schlicht unmöglich zu gewährleisten.“[30] Außerdem bleibt die Theorie einen stichhaltigen Ansatz zur Erklärung eines Systemwandels aus sich heraus schuldig.

Doch ist eine „entweder / oder“ –Diskussion unbedingt nötig? Es scheint wie die Suche nach der einen, einzig gültigen Formel zur Erklärung aller Diktaturen gleichermaßen. Hier stößt man scheinbar auf ein altes Problem der Wissenschaft an sich: der Erklärung von Phänomenen durch „Modelle“. Ein Modell kann nun einmal nicht exakt und präzise, und gleichzeitig all umfassend sein. Durch eine Rahmensetzung bleiben automatisch manche Aspekte der Thematik ausgeklammert. Außerdem wirkt es, als suchten einige Forscher oftmals nur nach einer Bestätigung oder Widerlegung eigener Annahmen, anstatt übergreifende Aspekte mit einzubeziehen. Dies wurde im Disput um die Vergleichbarkeit kommunistischer und faschistischer Systeme deutlich erkennbar. Eine sich ergänzende Forschung auf dem Gebiet erscheint sicherlich fruchtbarer. Schließlich lassen sich die unterschiedlichen Ansätze wunderbar auf eine gemeinsame Basis stellen. Karl-Dietrich Bracher zur Folge ist nämlich allen modernen Diktaturen – sei es der Nationalsozialismus, Stalinismus oder Kommunismus – ihre antidemokratische Haltung, sowie die Ausprägung totalitärer Hauptmerkmale gemeinsam.[31]

Diese totalitären Hauptmerkmale sind es auch, die dem angestrebten Vergleich des Dritten Reichs und der DDR als Kriterien dienen sollen und bilden somit auch den Kern des folgenden Abschnitts.

2-3. Ausgewähltes Theoriegerüst

„Sicher deutet nicht das bloße Vorhandensein eines Kriteriums gleich auf eine totalitäre Diktatur hin; es ist vielmehr eine Kombination von Merkmalen und Strukturen […].

(Karl-Dietrich Bracher)[32]

Dieses Zitat spiegelt das Anliegen seines Autors hervorragend wider. Darüber hinaus dient es gleichzeitig als inhaltliche Zielsetzung dieses Kapitels. Dem angestrebten Vergleich beider deutscher Diktaturen des 20. Jahrhunderts werden nämlich im Folgenden vier Theoretiker mit ihren diktaturtheoretischen Ansätzen als Grundlage dienen. Schließlich soll eine Kombination dieser unterschiedlichen Modelle zur Ableitung konkreter Kriterien für den differenzierten Vergleich der Herrschaftssysteme bilden. Somit soll nicht nur Brachers angestrebtem Wunsch nach „Modellpluralismus“ innerhalb der Diktaturforschung Rechnung getragen werden; sein Ansatz dient gleichzeitig als Ausgangspunkt und Herzstück der theoretischen Einordnung dieser Arbeit.

Karl-Dietrich Bracher wurde 1922 in Stuttgart geboren. Er erhielt 1959 den Ordinarius für die Wissenschaft von Politik und Zeitgeschichte an der Universität Bonn und lehrte darüber hinaus in Oxford, Princeton, Washington und Tel Aviv. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen unter Anderem die 1960 und 1969 erstmals erschienenen, grundlegenden Werke „ Die Nationalsozialistische Machtergreifung “ und „ Die deutsche Diktatur “. Sein Ziel ist es, durch eine historisch differenzierte Bestandsaufnahme ein theoretisches Fundament totalitärer Herrschaft zu entwickeln.[33] Seiner Ansicht nach liegt in der historischen Genese und Ausprägung des NS-Staats die Grundlage für moderne Totalitarismus-Theorien. Wie er 1962 schreibt, fehle „den Theorien […] noch belebende Konkretisierung durch intensive Forschung über das Dritte Reich.“[34] Der mittlerweile erimitierte Professor für Politik und Zeitgeschichte liefert zumindest „[…] bis heute die quellennahesten und unübertroffenen Gesamtdarstellungen über die Ursachen der NS-Machtergreifung und Auflösung der Weimarer Republik […].“[35] Er sieht die historisch-empirische Erkenntnis durch fundierte Einzelanalysen jener Systeme als Schlüssel zum Wesen umfassender Totalitarismus-Theorien. An dieser Stelle erntet Bracher allerdings auch Kritik. So hält ihm z.B. Hans Mommsen trotz allem eine Verengung des Blickfeldes auf die Grundlagen der NS-Herrschaft vor.[36]

In der 2. Auflage seines Werkes „ Die Nationalsozialistische Machtergreifung “ von 1962 definiert Karl-Dietrich Bracher eine moderne totalitäre Diktatur als „ […] die systematisch organisierte, alle Bereiche des Lebens erfassende Gewaltherrschaft einer praktisch unkontrollierbaren, allen Rechtsbindungen entzogenen Minderheit […].“[37] Darüber hinaus ist einem Aufsatz von Harald Franke eine Typologisierung nach Bracher zu entnehmen, in der er folgende Kriterien für eine moderne Diktatur nennt:

1) Eine offizielle Ideologie mit Ausschließlichkeitscharakter.
2) Eine zentralisierte und hierarchisch organisierte Massenbewegung.

[...]


[1] http://www.stern.de/unterhaltung/film/?eid=512223&id=512202&nv=ex_rt (24.02.2005).

[2] Ebenda.

[3] http://www.katharinawitt.de/index_de.html (24.02.2005).

[4] Lothar Fritze in: Heydemann; Jesse (1998), S. 118.

[5] Schmiechen-Ackermann (2002), S. 18.

[6] In: Kühnhardt; Leutenecker; et al. (1994), S. 25.

[7] Karl-Dietrich Bracher (1962), S. 6.

[8] Audunn Arnörsson, in: Kühnhardt; Leutenecker; et al. (1994), S. 200.

[9] Detlef Schmiechen-Ackermann (2002), S. 6.

[10] Otto Stammer, in: Sills (1968), S. 161-169.

[11] Karl-Dietrich Bracher (1962), S. 5.

[12] Ebenda, S. 6, S. 12.

[13] Benito Mussolini nannte in den 1920er Jahren als wesentliches Ziel einer „totalen Herrschaft“ die Regelung allen öffentlichen, wie privaten Lebens der Bevölkerung durch einen zentral geführten und organisierten Staat.

[14] Karl-Dietrich Bracher (1962), S. 7.

[15] Ebenda, S. 3.

[16] Detlef Schmiechen-Ackermann (2002), S. 8.

[17] Oliver Neun in: Kühnhardt, Ludger; Leutendecker, Gerd (1994), S. 186.

[18] Harald Franke in: Kühnhardt, Ludger; Leutendecker, Gerd (1994), S. 169.

[19] Walter Schlangen (1976), S. 118.

[20] Wolfgang Wippermann (1997), S. 98.

[21] Ebenda, S. 107.

[22] Ebenda, S. 43.

[23] Walter Schlangen (1976), S. 118.

[24] Detlef Schmiechen-Ackermann (2002), S. 48.

[25] Harald Franke in: Kühnhardt, Ludger; Leutendecker, Gerd (1994), S. 194.

[26] Wolfgang Wippermann (1997), S. 97.

[27] Harald Franke in: Kühnhardt, Ludger; Leutendecker, Gerd (1994), S. 197.

[28] Detlef Schmiechen-Ackermann (2002), S. 34.

[29] Walter Schlangen (1976), S. 117

[30] Detlef Schmiechen-Ackermann (2002), S. 101

[31] Karl-Dietrich Bracher (1962), S. 10.

[32] Harald Franke in: Kühnhardt, Ludger; Leutendecker, Gerd (1994), S. 184.

[33] Wolfgang Wippermann (1997), S. 109.

[34] Karl-Dietrich Bracher (1962), S. 5.

[35] http://www.buchtips.net/rez1199.htm (22.02.05).

[36] Detlef Schmiechen-Ackermann (2002), S. 44.

[37] Karl-Dietrich Bracher (1962), S. 9.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Ein Volk, Ein Land, Zwei Diktaturen. Eine diktaturtheoretische Vergleichsperspektive der Herrschaftssysteme Drittes Reich und DDR.
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Deutsche Diktaturen im Vergleich
Note
2,0
Autoren
Jahr
2005
Seiten
46
Katalognummer
V43249
ISBN (eBook)
9783638410922
Dateigröße
1093 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ausgehend von Karl-Dietrich Brachers Definition einer Diktatur werden mit Hilfe ausgewählter Totalitarismus-Theorien verschiedene Kriterien aufgezeigt, die eine Diktatur kennzeichnen. Mit Hilfe einer wissenschaftlichen Vergleichsmethodik werden Elemente beider Systeme exemplarisch und vertiefend verglichen. Hierbei werden vor allem Gemeinsamkeiten und Unterschiede erarbeitet. Schliesslich wird dargelegt, in wiefern beide Staatsformen einer Diktatur entsprechen.
Schlagworte
Volk, Land, Zwei, Diktaturen, Eine, Vergleichsperspektive, Herrschaftssysteme, Drittes, Reich, Deutsche, Diktaturen, Vergleich
Arbeit zitieren
Frank Brinkmann (Autor:in)Michael Holtschulte (Autor:in), 2005, Ein Volk, Ein Land, Zwei Diktaturen. Eine diktaturtheoretische Vergleichsperspektive der Herrschaftssysteme Drittes Reich und DDR., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43249

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