Wirkung von Kinderchorarbeit auf Persönlichkeitsentwicklung und soziale Kompetenz


Examensarbeit, 2001

127 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Wirkungen des Singens auf den Menschen
2.1 Physische Auswirkungen des Singens
2.1.1 Atmung als Träger der Lebensenergie
2.1.2 Sinnessysteme im Wahrnehmungsprozess
2.1.2.1 Die unterschiedliche Funktion der Gehirnhälften und die För­derung des inter­hemisphärischen Zusammen­spiels durch das Singen
2.1.3 Wahrnehmung als Grundlage der Intelligenz und Persön­lichkeits­entwick­lung
2.1.3.1 Konzentrationsschwäche, Fantasie- und Kreativitätsman­gel durch Wahrneh­mungsstörungen
2.1.4 Singen als körperliche Energetisierungsstrategie
2.2 Psychische Auswirkungen des Singens
2.2.1 Zur Bedeutung des Singens für den Menschen am Bei­spiel ande­rer Kulturen
2.2.1.1 Zur Regulation von Emotionen
2.2.1.2 Emotionale Zustände
2.2.1.3 Kognition
2.2.1.4 Verhalten
2.2.2 Singen als Bewältigungsstrategie
2.2.2.1 Singen als seelische Energetisierungsstrategie
2.2.2.2 Singen als Medium der Selbstbegegnung und Selbstrefle­xion
2.3 Wirkungen von Gruppenaktivität auf Kinder
2.3.1 Einführung
2.3.2 Sozialverhalten als Leitidee pädagogischer Arbeit
2.3.3 Die Gruppe als Sozialform
2.3.3.1 Die peer-group der Kinder und Jugendlichen
2.3.4 Interaktion in Kleingruppen als soziale Fähigkeit
2.3.5 Motivation
2.3.6 Lernen durch Imitation und Beobachtung
2.3.7 Sympathie und Antipathie
2.3.7.1 Die Ursachen
2.3.7.2 Die Wirkungen
2.3.8 Führer in der Gruppe

3. Interaktion der physiologischen, psychologischen und soziologi­schen Wirkungen des Singens im Kin­derchor
3.1 Warum im Chor singen?
3.2 Auszüge aus Ergebnissen empirischer Studien
3.2.1 Schulversuche mit erweitertem Musikunterricht in der Schweiz
3.2.1.1 Die Versuchsbedingungen
3.2.1.2 Die Ergebnisse der Schweizer Studie
3.2.2 Die Langzeitstudie Hans Günther Bastians an Berli­ner Grund­schulen
3.2.2.1 Die Versuchsbedingungen
3.2.2.2 Die Ergebnisse der Berliner Studie

4. Anregungen zur Realisierung der un­terschiedlichen Zielsetzun­gen der Kinder­chor­arbeit
4.1 Die pädagogischen Ziele
4.2 Die musikalischen Ziele
4.2.1 Kriterien für eine systematische Literaturauswahl
4.2.2 Die Probengestaltung
4.2.2.1 Die Struktur der Probe
4.2.2.2 Der Liederwerb in der Chorprobe
4.3 Stimmbildung mit Kindern
4.3.1 Besonderheiten der Kinderstimme
4.3.1.1 Umfang der Kinderstimme
4.3.2 Stimmfehler
4.3.2.1 Analyse von Stimmfehlern
a) Fehler im Atmungssystem
b) Fehler im Tonerzeugungssystem
c) Fehler im Tonverstärkungssystem
d) Schwierigkeiten bei der Koordination von Gehör und Stimme/ „Brummer“
4.3.3 Das Einsingen als unverzichtbares Element jeder Chor­probe
4.4 Disziplin und Autorität

5. Einschätzung der Wirkung von Kinderchorarbeit am Bei­spiel des Musiktreck Essel
5.1 Der Chor
5.2 Erfolge der Chorarbeit
5.2.1 Der Umgang der Chormitglieder untereinander und die Wirkung des Chores nach außen
5.2.2 Ergebnisse aus der Befragung von Eltern und Chorkin­dern
5.2.2.1 Die Chorkinder
5.2.2.2 Die Eltern

6. Nachwort

Literaturverzeichnis

Anhang

Fragebogen für Treckis

Fragebogen für Eltern

Auswertung der Fragebögen für Kinder

und Jugendliche

Auswertung der Fragebögen für Eltern

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die wichtigsten Wirkungen von Kinderchorarbeit auf die Persönlichkeitsentwicklung und die soziale Kompetenz der Kinder darzustellen. Unter besonderer Berücksichtigung verschiedener physischer, psychischer und soziologischer Theorien und Konzepte, der Analyse ihrer Wirkungsweisen und der Anwen­dung daraus resultierender Ansichten auf das konkrete Handlungsfeld sollen Bedeutung und Reichweite der Thematik herausgearbeitet werden.

Bedeutende und schnelle Veränderungen in den gegenwärtigen Lebensbe­dingungen von Kindern und Jugendlichen verlangen eine Innovation der bisherigen Bildungsanforderungen. Die durch viele Faktoren bedingte, ständig sinkende Hemmschwelle zur Gewalt und die Zunahme der Kinder- und Jugendkriminalität zeigen die Notwendigkeit alternativer Erziehungs­konzepte ebenso wie der immer geringer werdende familiäre Einfluss auf die Kinder. Zunehmend zerrüttete Familienverhältnisse zwingen die Kin­der und Jugendlichen auf der Suche nach Alternativen zu einer Fremdori­entierung an den gängigen Medien und Verhaltensmustern ihrer sozialen Milieus. Selbst eine staatliche Förderung der Computernutzung in Schulen, die entsprechend den neuen Anforderungen einer Informationsgesellschaft durchaus notwendig ist, begünstigt wiederum die Isolation des Einzelnen. Die Zielsetzungen der Bildungspolitik, zunehmend qualifi­ziertes Wissen zu vermitteln, lassen weitere gesellschaftliche Probleme, beispielsweise wachsende Defizite in Bereichen wie Kommunikationsfä­higkeit, Selbst­ständigkeit, Durchsetzungsvermögen und Kooperationsfä­higkeit, außer Acht.

Ein problemübergreifender, ergänzender Ansatz zu bestehenden Erzie­hungskonzepten ist die Förderung des aktiven Musizierens von Kin­dern. Seit Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse der Berliner Langzeit­studie unter der Leitung Hans-Günther Bastians im Jahr 2000 besteht kein Zweifel mehr an positiven Wirkungsweisen von Musiker­ziehung. Eine er­weiterte Musikerziehung an Schulen tatsächlich zu rea­lisieren scheint je­doch an­gesichts der allgemeinen Reduzierung kultu­reller Unterrichtsfä­cher schwierig. Hier entsteht die Forderung nach ei­ner außerschulischen musi­kalischen Förderung wie die durch den Kin­derchor. Die Frage, ob ver­gleichbare Resultate in der Wirkung von Sin­gen im Chor auf die Ent­wicklung von Kindern zu erzielen sind, wie dies bei der erweiterten Schul-Musikerziehung der Fall ist, kann in die­ser Arbeit nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Um aussage­kräftigere Ergebnisse zu erzielen wäre eine ausführliche, empirische Untersuchung nötig. Die im Rahmen meiner Möglichkeiten durchge­führte Überprüfung der aufgestellten Thesen kann wegen der geringen Anzahl der berücksichtigten Personen und des kurzen Untersuchungs­zeitraumes nicht als wissenschaftlich fundiert gelten, den­noch stützt sie die im Sinne des Themas aufgestellten Vermutungen.

2. Wirkungen des Singens auf den Menschen

In letzter Zeit wurde von den Medien immer wieder berichtet, dass Musik­erzie­hung die Kinder intelligent mache. Vermutungen dazu werden schon einige Jahr­zehnte angestellt, doch erst im Jahre 2000 wurden die Ergeb­nisse einer empiri­schen Langzeitstudie veröffentlicht, die bestätigen, dass erwei­terte Mu­sik­er­zie­hung einen positiven Einfluss auf die Entwicklung des Kin­des haben kann.[1]

Es gibt aber noch weitere Untersuchungen zum Einfluss von Musik auf den Men­schen. Bei diesen wird unter anderem hinterfragt, ob Musik einen positi­ven Ein­fluss auf die körperliche und seelische Gesundheit des Men­schen habe. Inwiefern diese Beeinflussungen stattfinden, soll in diesem Ka­pitel darge­stellt werden. Da das Singen die intensivste, vom Inneren des Körpers direkt ausgehende Art des Musizierens ist, besteht die Vermutung, dass es eine deut­liche Reaktion auf Kör­per und Geist gibt. Daher möchte ich mich im Folgen­den auf diese Art des Mu­sizierens beschränken.

2.1 Physische Auswirkungen des Singens

Die verschiedenen Auswirkungen des Singens lassen sich nicht deutlich nach phy­sischen und psychischen Faktoren trennen, weil sie voneinander abhängen, sich gegenseitig beeinflussen und durchdringen. Dass zum Bei­spiel schwere Krankheiten sehr oft mit depressiven Begleiterkrankungen ein­hergehen, körperliche Fitness dagegen gleichzeitig der Nährboden für alle denkbaren Mög­lichkeiten von Glücksempfinden ist, macht deutlich, wie fließend diese Grenzen sein müssen. Eine Überforderung oder Ab­stumpfung der sinnlichen Wahrneh­mung hat nicht nur Konzentrations­schwäche zur Folge: Fehlverhalten, Aggressi­vität, mangelnde Leistungsfä­higkeit in Beruf und Schule schlagen sich auf Dauer mit Sicherheit see­lisch und körperlich nieder.

2.1.1 Atmung als Träger der Lebensenergie

Atem ist der Ausdruck des Lebens, nicht atmen bedeutet Tod. Atem ist mehr als Gasaustausch, er spendet auch Heilung, Nähe, Geborgenheit und Trost. So­bald die Mutter mit ihrem Atem schmerzende Stellen und Wun­den ihres Kin­des anhaucht, wird Linderung gespendet. „ In China war die Kunst, Krankheits­zustände mittels Atemanwendungen zu behandeln, noch vor der Akupunktur bekannt. In Tibet und Indien gehen die Wurzeln medi­tativer Praktiken und Yoga- Techniken auf Atem­übungen zurück, die der Erhaltung und Wieder­her­stellung der Gesundheit dien­ten. Im Inneren der ägyptischen Pyramiden und im Alten Testament sind atemthe­rapeutische Ratschläge über­lie­fert. Vielfach wird der Atem nicht nur als Träger hei­lender Kräfte angesehen, sondern mit dem Leben gleichgesetzt.“[2]

Mit dem ersten Atemzug beginnt das Leben des Menschen, mit dem letz­ten endet es. Beim Neugeborenen zieht sich das Zwerchfell zusammen, die bis da­hin luft­leeren Lungenbläschen entfalten sich und der neue Mensch atmet zum ersten Mal ein. Seine Stimmbänder spannen sich und während die Zwerchfell­spannung nachlässt, damit die Ausatmung beginnen kann, setzen die Stimm­bänder der sich zusammenziehenden Lunge Widerstand entgegen. Der erste Schrei kommt tat­säch­lich aus dem Zusammenspiel des gesamten Körpers zu­stande: Anspannung, Abspannung, Entspannung.

Nicht nur das erste Atmen ist ein Zusammenspiel des gesamten Körpers. Die Atemmuskulatur kann ebenso durch unseren Willen gesteuert werden wie die Muskulatur unserer Glied­maßen. „ Der wichtigste Atemmuskel ist das Zwerchfell (Diaphragma). Es liegt quer (zwerch) im Körper und trennt Brust und Bauchraum voneinander. Das Zwerchfell entspringt ringsum an den unteren Randbegrenzungen des Brustkorbs und der Lendenwirbel­säule.“[3]

Das Atemzentrum fasst die nervliche Steuerung der Atmung zusammen. Durch einen Impuls vom Atemzentrum ausgehend kontrahiert die Zwerch­fell­mus­kulatur, die Zwerchfellkuppen senken sich und erweitern so den Bauch­raum nach unten. Die dem Atemzentrum übergeordnete nervli­che Instanz ist das Zwischen­hirn. Hier werden Sinneseindrücke, Gefühle, Af­fekte, Absichten und Entschlüsse in nervöse Impulse umgesetzt, die bei der Steuerung unserer wichtigsten Lebens­funktionen wie Kreislauf, At­mung, Blutzusammensetzung, Körperwärme, Was­serhaushalt, Verdau­ungstätigkeit usw. mitwirken.

Sämtliche Einflüsse, die von außen an uns herangetragen werden, registrie­ren wir auch mit dem Zwerchfell. Jegliche Emotion ruft eine Re­aktion des Zwerch­fells hervor. „ Eine typische Reaktion auf emotionale Reizung besteht in der Kontraktion (Senkung der Zwerchfellkuppen), die Einatmen

und ei­nen eventu­ellen Atemstau zur Folge hat. Auf diese Weise werden

Emotionen negiert und unterdrückt. Wird diese Reaktionstendenz des Zwerchfells nicht erkannt, kann dieser Zustand chro­nisch werden und die Atemfunktion in ex­tremer Weise ein­schränken.“[4]

Richtige Atemführung beeinflusst die Gesundheit des Menschen positiv, und um­gekehrt kann man feststellen, dass ein kranker Organismus über den Atem nach Hilfe ruft. Körperliche und seelische Störungen machen sich so­fort über die Ver­änderung der natürlichen Atemfunktion bemerkbar. In der Regel wird der Atem flacher und kürzer, und die Kapazität der Lunge kann nicht mehr voll ausgenutzt werden. Richtiges Atmen kann je­doch geübt werden. Zahlreiche Atemtherapeuten haben im Laufe der Jahre verschie­dene Methoden und Tech­niken entwickelt, um Atemstörungen vorzubeugen bzw. bestehende Fehlfunk­tionen zu beheben. Eine gängige Methode ist nach wie vor das Singen, bei dem tief eingeatmet und kon­trolliert ausgeatmet wird. Bei Singübungen wird oft in erster Linie darauf geach­tet, dass die Zwerchfellatmung mit ausreichender An­spannung durchgeführt wird. Da­durch kann ein höheres Atemvolumen erreicht wer­den. Durch regelmäßiges Üben wird ein intensives, optimal erfüllendes, je­doch nicht schwerfälliges Atmen erreicht, welches dem Körper und dem Geist des Menschen wohl tut. Welche weiteren Auswirkungen das richtige Atmen in Zusammenhang mit dem Singen hat, wird in den folgenden Ka­piteln noch ge­nauer beschrieben werden.

2.1.2 Sinnessysteme im Wahrnehmungsprozess

Unser modernes Leben geht einher mit einer Flut von Sinneseindrücken: Im­mer mehr Lärm in den Städten, immer schnellere Bildfolgen in Filmen, noch mehr „beats per minute“ in der Musik der Technogeneration, um nur einige zu nennen. Der audiovisuelle Wohlstand führt in nicht wenigen Fäl­len zu einem Seh-, Hör- und Bewegungsnotstand vor allem bei Kindern. Dies macht eine Wahrnehmungs­förderung dringender denn je. Eine Aus­bil­dung und Förderung unseres Empfin­dungsvermögens kann durch eine be­sondere musikalische Er­ziehung geschehen, denn „Musik und Musizie­ren be­sitzen Leistungs- und Wirk­potentiale, wie sie kein zweites Medium für sich beanspruchen kann.“[5]

2.1.2.1 Die unterschiedliche Funktion der Gehirnhälften und die Förderung des interhemisphärischen Zusammen­spiels durch das Singen

Die Welt wäre nichts als ein gigantisches Übermaß von Reizen, wenn wir nicht in der Lage wären, die vielfältigen Sinneseindrücke mit Hilfe unseres Gehirns zu strukturieren und zu verarbeiten. Die Entwicklung der Groß­hirn­rinde ist die jüngste in der evolutionären Entwicklung unseres Zentral­ner­vensystems. „ Viele Be­reiche arbeiten nur für die Erhaltung der lebens­not­wendigen Funktionen (Hirn­stamm, Kleinhirn), andere sind für be­wusste As­soziations- und Denkpro­zesse (Großhirn) zuständig, wieder an­dere für die Entstehung von Gefühlen und emoti­onalen Verhaltensweisen (limbisches System).“[6]

Im Rückenmark wer­den die Sinnes­reize durch die verschiedenen Bereiche des Gesamthirns gelei­tet, um dann als neuronaler Befehl in den Körper zu­rückgesandt zu werden. So ist es uns mög­lich, auf die äußeren Eindrücke zu reagieren. Ebenso ist der Mensch in der Lage, vielfältige Wahrnehmun­gen gleichzeitig zu verarbeiten und daraus eine komplexe Situation zu schöpfen. Zum Beispiel sehen wir beim Betrachten eines Hauses nicht nur die Fenster, Türen und Wände als einzelne Bestandteile, sondern wir neh­men das ge­samte Erscheinungsbild und die Aus­strahlung des Hauses auf. Eine Melodie wird nicht nur als Folge von Einzeltö­nen empfunden, son­dern wird zu­sätz­lich mit ihrer individuellen Stimmung als Ganzes wahrge­nommen. Dieser komplexe Wahrnehmungsprozess ist nur durch das Zu­sammenspiel der bei­den Gehirnhälften (Hemisphären) möglich.

Die Gehirnhälften sind durch einen Balken (lat. Corpus callosum) miteinan­der verbunden, über den ein permanenter Austausch stattfindet. Durch Sin­nesreize werden die verschiedenen Assoziationsfelder des Ge­hirns aktiviert. Sensori­sche und motorische Reize, die den Körper errei­chen, kreuzen im Hirnstamm ihre Bah­nen. Sie werden von der gegenüber­liegenden Gehirn­hälfte erfasst und verar­beitet und dann als Information an die andere weitergeleitet. Durch die­ses Zu­sammen­spiel werden Informati­onen zwischen den Hemis­phären mitein­ander ver­knüpft und kombiniert. Erst dann kommen die Pro­zesse der Planung, des Den­kens, Er­kennens und Entscheidens in Gang.

Die einzelnen Hirnhälften sind für unterschiedliche Funktionen zuständig. Die rechte betrachtet die Dinge ganzheitlich, das heißt, sie versucht ver­schiedene As­pekte miteinander zu verbinden und in einen Gesamtzusam­menhang zu brin­gen. Sie ist schöpferisch und künstlerisch ausgerichtet und produziert zum Bei­spiel Melodien beim Singen, schafft Sprachmelodien und die Intonation. Die linke Hirnhälfte kommt zum Einsatz, wenn es um die Er­fassung von Ein­zelheiten geht. Das ist beispielsweise der Fall beim Erfassen von Sprache, Er­kennen von Figuren in Suchbildern, Heraushören eines In­struments im Or­chester und bei der räumlich-geometrischen Wahrnehmung. Von der linken Hirnhälfte geht auch die Planung und Steuerung aufeinander folgender Hand­lungen und Konstruktionen aus. Bis auf den Geschmacks­sinn und den Ge­ruchssinn werden alle Sinne über die Kreu­zung der Ner­ven­bahnen von der ge­genüberliegenden Hirnhälfte ge­steuert.

Wie wichtig die Kommunikation der beiden Hemisphären ist, wird am Bei­spiel des Lesens deutlich. Die linke Gehirnhälfte analysiert den Lese­stoff und beachtet auch Grammatik und Zeichensetzung. Währenddes­sen ver­sucht die rechte Gehirnhälfte, den Gesamtzusammenhang mit ande­ren ge­spei­cherten Infor­mationen und Emotionen herzustellen. Also nur das Zu­sammen­spiel ermöglicht es, einen Text zu lesen, gleichzeitig den Inhalt des Gelesenen zu erfassen und mit Bekanntem zu verknüpfen.

Nun gibt es zahlreiche Situationen, in denen der Mensch merkt, dass das Zu­sammenspiel der Hemisphären nicht optimal funktioniert. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man einen Text liest, aber das Gelesene nicht als Informa­tion verarbeiten, speichern und nutzen kann.

Regelmäßiges Singen ist eine der Mög­lichkeiten, um solchen Konzentrati­ons- und Wahrnehmungsstörungen vorzubeu­gen und abzu­helfen. Beim Sin­gen werden das auditive, visuelle und motorische Sys­tem, Gedächtnis­leis­tungen und Denkprozesse gefordert. Über­haupt sin­gen zu können, vor allem bewusst zu singen, mit Text-, Melodie-, Rhythmus-, Dynamik-, und Intona­tionsvorgaben, ist eine große Heraus­forde­rung an unser Gehirn.

Von welcher Gehirnhälfte diese verschiedenen Anforde­rungen (bei Rechts­händigkeit) be- und verarbeitet werden, stellt folgende Ta­belle dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Hier wird nun deutlich, dass beim Singen - angefangen vom Erfassen und Wie­der­geben der Melodie über die richtige Körperhaltung und Atmung bis hin zum Le­sen und Einprägen der Noten und des Textes - allerhand Koope­ration und Koordi­nation nötig ist.

Durch dieses „Gehirntraining“ beim Singen wird auch in anderen Situatio­nen, zum Beispiel in der oben angeführten Situation des Lesens eines Textes, das opti­mierte Zusammenspiel der Gehirnhälften erreicht und so das ganzheit­liche Erfas­sen und Verarbeiten des Gelesenen erleichtert. Das Ge­hirntraining wird beim Sin­gen sogar oft als spielerisch erlebt. Denn an­ders als beim bewussten und an­gestrengten Lernen denkt kaum jemand beim Singen an die vielfältigen Bean­spru­chungen und Leistungen des Ge­hirns.

2.1.3 Wahrnehmung als Grundlage der Intelligenz und Persönlichkeitsentwicklung

Es ist eine wesentliche Grundlage für die unge­störte Entwicklung eines Kindes, die Umwelt wahrnehmen zu können. Dabei geht es einerseits um die kör­perli­chen Voraussetzungen wie das gut funktionierende Hö­ren und Sehen, andererseits um die gebotenen Reize von außen. Durch ge­zielte För­dermaßnah­men können auch taube, stumme oder blinde Kin­der eine gute Per­sönlichkeits­entwicklung erreichen. Doch selbst wenn die äuße­ren Umstände keinerlei Anlass dafür liefern zu vermuten, dass eine Ent­wick­lung gestört wer­den könnte, ist es nötig die Wahrnehmung zu schulen, um beste Vorrausset­zungen zu erreichen. So ist eine Reizmini­mierung ebenso schädlich wie eine Reizüberflutung. Bei einer Reizmini­mierung kann das Gehirn nicht lernen, mit verschiedenen Gegebenheiten umzugehen und be­stimmte Wahrnehmungen un­bewusst ablaufen zu las­sen. Im schlimmsten Fall verkümmert der Sehsinn, die leisesten Geräusche werden als un­ange­nehm laut empfunden und das Sprechen wird verlernt bzw. erst gar nicht er­lernt. Bei einem Übermaß an Wahrnehmun­gen wird es schnell unmög­lich deutlich zu differenzieren, zu verarbeiten und be­wusst zu reagie­ren. Dies äußert sich vor allem in Konzentrationsschwä­chen und Verhal­tens­auffälligkeiten. Da unsere Umwelt jedoch immer mehr Reize bietet, die permanent aufgenommen und verar­beitet werden müssen, ist es rat­sam, die Wahrnehmung und die Leistungen des Gehirns dahingehend zu trainie­ren, dass einer Überforderung präventiv entgegen gewirkt wird.

Jeder Wahrnehmungsprozess ist gleichzeitig ein Lernprozess, aus dem Er­fah­run­gen und Informationen hervorgehen. Jeder Lernprozess wiederum ist ein Prozess der Entfaltung der Intelligenz, also der Verwirklichung der persönli­chen intellek­tuellen Veranlagung. Alles Lernen betrifft so die per­sönliche Ge­samtheit des Ler­nenden. Somit bewirkt jedes neuerreichte Kön­nen - auch wenn es sehr speziell ist - eine Steigerung des Gesamtkön­nens einer Person und wirkt sich somit auf den Grad seiner Intelligenz aus.

2.1.3.1 Konzentrationsschwäche, Fantasie- und Kreativitätsman­gel durch Wahrnehmungsstörungen

Der Mensch besitzt die Gabe, viele Wahrnehmungen gleichzeitig zu verar­bei­ten. Aus diesen Sinneseindrücken werden komplexe Informationen ge­schöpft, die wir brauchen um zu lernen, Erfahrungen zu sammeln und, nicht zuletzt, um unser Überleben zu sichern. Das Überqueren einer Strasse be­deutet eben nicht nur die Farbe des Asphalts, die verschiedenen Fahr­zeug­fabrikate, die Anzeige der Ampel und die Kleidung der Fußgän­ger zu sehen, sondern auch die für uns wichtigeren Aspekte wie Entfer­nungen und Ge­schwindigkeiten der Fahrzeuge, den witte­rungsbedingten Zustand der Fahr­bahn und vielfache situationsabhängige Ein­flüsse wahr­zunehmen und einzuschätzen.

Ganzheitli­ches Wahrnehmen bedeutet aber noch mehr als die Aufnahme dieser Sinnes­eindrücke. Der gestaltpsychologi­sche Ansatz beschreibt, dass der Mensch zusätzlich auch die Stimmung einer Si­tuation aufnimmt. Hekti­sches Treiben in der Stadt mag als unangenehm, die Wärme der Sonne aber als Wohltat für Seele und Sinne empfunden werden.

Die Fähigkeit zur Wahrnehmung und die Fähigkeit zur Konzentration sind eng miteinander verbunden. Es gibt Wahrnehmungen, die unbewusst ablau­fen müssen, weil anderen, situationsbedingt wichtigeren Wahrneh­mungen vermehrte Aufmerk­samkeit geschenkt werden muss. Dabei kommt es zu ei­ner sogenannten „Filterung“ der Sinneseindrücke, weil wir uns nicht auf zwei Dinge gleichzeitig mit der gleichen Intensität konzentrie­ren können. Denn „ Konzentration oder Aufmerksamkeit ist eine bewusste Reaktion, deren Grundlage der Wille ist. Sie stellt eine Grund­voraus­set­zung für das Lernen in allen Bereichen dar.“[7] So kommt es vor, dass wir in einer Si­tuation den Gruß eines Bekannten überhören, weil un­sere Konzentration gerade für die Beachtung des Verkehrs gebraucht wird.

Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb es bei Kindern zu Wahrneh­mungs­stö­rungen kommen kann, die sich unter anderem negativ auf das Lernverhal­ten auswirken. Zum einen sind es organisch bedingte Wahr­neh­mungsstörungen, die sich auf die verschiedenen Funktionen des Gehirns auswirken. Diese können bei­spielsweise durch vorgeburtlichen Alkohol- und Drogenmissbrauch, durch Kom­plikationen bei der Geburt oder durch fieberhafte und entzündliche Krankheiten verursacht werden. Nicht orga­nisch bedingte Wahrnehmungs­störungen hängen häufig mit bestimmten ge­sellschaftlichen Strukturen zusammen. „ So können Kin­dergartenkinder (...) oftmals durch den täglichen, schon morgens beginnenden Fernsehkon­sum ihre Gefühle und Bedürfnisse immer weniger spie­lend ausagie­ren. Sie er­halten zu einseitige Reize, vor allem im visuellen und audi­tiven Sinnbe­reich, und werden durch zu bunte, zu schrille, zu schnell geschnittenen Filme sinnlich und emotional überfordert.“[8] Dazu kommt oft ein Umfeld, das dem natürli­chen Bewegungsdrang der Kinder nicht entgegenkommt, wodurch sich die Motorik nicht ausreichend entwickeln kann. Die Kinder bleiben immer mehr im Haus und beschäftigen sich mit Fernsehen und Computer­spielen. Die Inhalte des dort Erlebten müssen aber nicht nur auf visueller und auditiver, sondern auch auf emo­tionaler, also stimmungsbe­tonter Ebene ver­arbeitet werden. Als Auswirkung einer einseitigen Belas­tung sind oftmals die Seh- und Hörwahrneh­mung beeinträchtigt. In Folge einer Überlastung kann es zu einer regelrechten Abstumpfung der be­trof­fenen Sinne kommen. Durch diese Abstumpfung sind die Kinder nicht mehr dazu in der Lage, sich über einen länge­ren Zeitraum auf einen be­stimmten Vor­gang zu konzentrie­ren . „Die Auf­merksamkeit wird nur ge­weckt, wenn sie schnelle visuelle Ab­folgen sehen und extreme Wechsel in Laut­stärke und Klang hören. Durch den Bewegungsmangel macht sich zu­sätzlich mo­torische Unsicherheit und die Unfähigkeit zum phantasievollen Spiel be­merkbar. Es entstehen- auch beim Vorlesen- keine inneren Bilder mehr, und das fantasievolle, kreative Ausleben im spielerischen Tun mit Spiel­material bleibt auf der Strecke.“[9]

Auch, dass Kinder im Allgemeinen immer weniger Verpflichtungen zu Hause ha­ben, weil Eltern sie für Schule und Hobbys entlasten möchten kann Auslöser von Wahrneh­mungs- und Kon­zentrationsstörungen sein. Das Gleiche gilt für extremes materielles Verwöhnen, das nicht gleichzei­tig die Erfahrung verbind­li­cher Strukturen im engen sozialen Umfeld er­mög­licht. Wenn Kinder dadurch in ihrer einzel­kämpferischen Art unter­stützt werden, sind sie oftmals nicht in der Lage, positive soziale Struk­tu­ren aufzubauen und sich konstruktiv in eine Gruppe einzufügen. Da Kin­der nur eine be­grenzte Fähigkeit besitzen, ihre Gefühle und ihr Verhalten zu reflektieren, kann es durchaus zu aggressivem und auffälligem Verhal­ten kommen.

Die verschiedenen, sich oftmals überlagernden Ursachen führen zu viel­fälti­gen und vielschichtigen Symptomen von Wahr­nehmungs- und Kon­zentrati­ons­störun­gen bei Kindern. Sucht man Abhilfe, muss diese genauso viel­schichtig und über­greifend wirksam werden können. Hier bietet sich augen­fällig das gemein­same Musizieren an, welches außer der angestreb­ten musi­kalischen Bildung und Ent­wick­lung eine Wahrnehmungsförde­rung und Steigerung der Konzentrations­fä­higkeit geradezu impliziert und somit vor­beugend wie therapeu­tisch genutzt wer­den kann.

Bei dem gemeinsamen Singen im Chor zum Beispiel wird neben den be­reits oben angesprochenen Bereichen auch das Sozialverhalten gefördert.

Das Singen, das gegenseitige Zuhören, das kontrollierte Verhalten in der Gruppe, das Achtgeben auf den Chorleiter[10] und die bewusste, gewollte Kon­zentration auf die unterschied­lichsten Vorgänge können abgestumpfte und überforderte Sinne neu sensibilisie­ren. Das hierbei stattfindende Ge­hirntrai­ning steigert die Aufnahme­kapazität von Umweltreizen und er­leichtert die Umwandlung in für uns nutzbare Information. (Vgl. Kapitel 2.1.2.1)

Intelligenz bedeutet Einsichtsfähigkeit im Sinne der Ratio.[11] Ob und in wel­cher Art und Weise Intelligenz genutzt wird, ist ein weiterer wichtiger As­pekt. Die bloße Feststellung von Intelligenz allein ist kein Zeichen von Pro­duktivität. In ei­ner Zeit wie der unseren, in der sich konstruktive und de­struk­tive Kräfte schnell ent­wickeln und wandeln, ist allein kreatives, origi­nelles Handeln ein Zeichen von aktiver und produktiver Teilnahme an der Umwelt und letztlich das, was zählt. So ist Kreativität die Quelle der schöpferischen Prozesse. Sie führt zu neuartigem Erleben, neuen Situatio­nen und Ansich­ten, die als Gegenpol der Gewohnheit und Rigidität wir­ken.

Während der Prozess des Lernens und der Erfahrungsbildung durch Ge­wöhnung dem (wenn auch imaginären) Endpunkt des abgeschlossenen Be­sitzes des Ken­nens und Könnens zustrebt, tendiert die Kreativität zur Of­fenheit für neue Erfahrungen, für die Auffassung auch des Neuen, noch nicht Dagewese­nen, und damit zur Offenheit, neue Antworten zu finden auf neue Fragen. Weni­ger durch die immer bessere technische Bewältigung und Ausnutzung der in Besitz genommenen Welt als vielmehr durch schöpferische Offenheit für die noch unbe­kannten und noch unbewältig­ten Eigentümlichkeiten dieser Welt kann sich der Mensch als ‚Herr der Lage‛ behaupten.“[12]

Es wird deutlich, dass nicht nur die Differenzierung und die Aufnahmeka­pazi­tät des Gehirns bei der Wahrnehmung eine wichtige Rolle spielen, son­dern auch die Reaktion auf das Erlebte. Nicht-statische, nicht-vorpro­gram­mierte Re­aktionen hängen wiederum von bestimmten Alternativ- Er­fahrungen ab. Flexib­les Han­deln ist nur möglich, wenn die entsprechen­den Situationen und Gege­benheiten ganz­heitlich, d.h. auch vielschichtig wahr­genommen und erfasst werden. Neben den reinen Fakten müssen auch die unterschied­lichsten Stim­mungen und Atmosphären erfasst und als Erfah­rung gespei­chert werden, damit weiter­führendes, differenziertes und indi­viduelles Rea­gieren auf die situativen Reize möglich wird.

Kreativität und Fantasie sind Fähigkeiten des Menschen, die sehr eng mit­einander verbunden sind. Vorstellungen, die der Fantasie entspringen, kommen ohne diffe­renzierte Wahrnehmungen nicht zustande. Sie sind Bil­der von Erfahrungsinhalten, durch die auch unsere Erinnerung lebt. Die Kre­ativität ermöglicht, das bereits Wahr­genom­mene in unserer Fantasie so ab- und umzuwandeln, dass möglicher­weise völlig neue Welten ent­stehen kön­nen. Selbst wenn diese Fantasiegebilde nicht mehr wirklichkeitsgetreu er­scheinen, sind es dennoch auf jede nur erdenk­li­che Art miteinander ver­netzte, kreative Collagen des real Erlebten.

Wie bedeutsam die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung für die in­nere Erlebniswelt des Menschen ist, zeigt in der Umkehrung das Vorliegen ausgeprägter Wahrnehmungsstörungen: Die Reduktion der Sinnes­ein­drü­cke ist auch Auslöser für einen Mangel an Kreativität und Fantasie. Doch für die Entwicklung der individuellen Persönlichkeits­züge sind Fantasie und Kreativität gerade bei Kindern von großer Bedeutung. In der intimen Fantasiewelt des Kindes wird ohne das Gewicht und die Konse­quenz der Realität das noch nicht vertraute Verhältnis zu sich selbst und der Umwelt erlebt. Somit ist das Ausleben und Durchleben der Fanta­sie eine grundle­gende Entwicklungsstufe des Kindes, indem es seine Träume, seine Ideen, sein Gefühle und sein Wissen verei­nigen kann, um unterschied­lichste Dinge auszuprobieren und zu durchdenken, damit es auf die

ihm real ge­stellten Anforderungen besser reagieren kann. Gelingt es den Kindern nicht mehr, die Gefühlseindrücke und Impulse mit Hilfe der Fan­tasie zu verar­beiten, führt dieser Umstand zu Erregungsstauungen, welche zur Quelle neurotischer Stö­rungen oder unkontrollierbarer Aggressionen werden kön­nen. Durch eine bessere Wahrnehmung wird das Zusammen­spiel von ratio­naler und emotionaler Hemisphäre gefördert und somit ein hohes Maß an psychischer Stabilität in der per­sönlichen Entwicklung des Menschen gesi­chert. (Vgl. Kapitel 2.1.2.1)

2.1.4 Singen als körperliche Energetisierungsstrategie

Bei Erschöpfung und Müdigkeit ist Singen als physische Energetisierungs­strategie für viele Menschen von hoher Bedeutung. Eine hierzu durchge­führte Unter­su­chung von Karl Adamek[13] hat ergeben, dass fast alle Befrag­ten angaben, Singen habe für sie eine Kraft schöpfende Funktion. Nach dem Singen fühlen sich die Personen kräftiger und energiereicher. Diese Energe­tisierung wird zum Beispiel genutzt, um die Konzentrations­fähigkeit beim Autofahren wieder zu steigern, um Morgenmüdigkeit zu bekämpfen oder um sich vom Lernen zu erholen. Es gibt auch zahlreiche Aussagen zur Wir­kung des Singens bei körperlichen Schmer­zen. Die Spannweite der Anga­ben hierzu reichen von der Bewältigung plötzlicher Schmerzen, wie nach einem Unfall, bis zur Linderung chro­nischer Be­schwerden. Selbst das Abklingen von Entzündungen wird als Effekt be­schrie­ben. „ Diese Tatsachen sind ein weiterer Beleg, dass der Mensch durch Singen sein ge­samtes psycho-physisches System nachhaltig beein­flussen kann.“[14]

Die Be­funde der Arbeit Adameks unterstützen die Annahme, dass die Fä­higkeit zu singen und diese als Bewältigungsstrategie einzusetzen eine fun­damentale psycho-physische Funktion hat und zu Vorteilen für die kör­per­liche Ge­sundheit führt. Aus den durchgeführten Leistungstests geht wei­terhin her­vor, dass der Mensch unter be­stimmten Bedingungen seine phy­sische Leistungs­fähigkeit durch Singen temporär steigern kann.

„Singen wurde als wirkungsvolle emotionale Bewältigungsstrategie empi­risch be­legt. Nach Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie und der Coping­forschung (Bewältigungsforschung, Anm. J. S.) wirkt sich die Fähig­keit zur Be­wälti­gung von Emotionen positiv auf die Gesundheit aus.(...) In Übereinstimmung hiermit erwie­sen sich „Gerne-Singer“ durchschnittlich als psychisch und phy­sisch (...) gesünder.“[15]

Des weiteren ist anzunehmen, dass es nicht nur der emotionale Faktor ist, der sich auf die körperliche Gesundheit auswirkt. Beim Singen und Sum­men wird in der Regel wesentlich bewusster und tiefer geatmet als im Normal- beziehungsweise Ruhezustand. Und ganz besonders die Atmung hat vielfäl­tige Auswirkungen auf den menschlichen Körper. (Vgl. auch Kapitel 2.1.1)

Nicht nur unser Gehirn wird durch das Atmen mit Sauerstoff versorgt, son­dern auch alle anderen Organe und Muskeln. Sie werden durch den Sauer­stoffgehalt im Blut genährt, den wir zum Teil über unsere Atmung beein­flussen können. Das bewusste und zielgerichtete Atmen bei der Geburt zum Beispiel hilft nicht nur die Schmerzen zu lindern, son­dern dient auch zur Kraftschöpfung der Muskeln, welche für die Geburt des Kin­des beson­ders beansprucht werden. Leichte Verspannungen im Rücken und Schul­terbe­reich können durch inneres Dehnen entspannt werden. Die Luft ist in der Lage, die schmerzenden Stellen zu erreichen und zu stimulieren. Das Singen unterstützt diese Vorgänge größtenteils unbewusst.

Beim Singen um des Singens willen wird tief aber unverkrampft und ent­spannt reflexartig richtig geatmet und Menschen er­fahren erstaunt, dass sie sich tatsächlich besser fühlen, wenn sie singen oder ge­sungen haben. Eine übersteigerte therapeuti­sche Erwartungshaltung an das Singen kann den gewünschten positiven Ef­fekt allerdings beeinträchtigen. Da die Atmung des Menschen eng von sei­nem emotionalen Zustand abhängt, ist ein ver­krampf­tes, unentspanntes Verhalten kontraproduktiv.

2.2 Psychische Auswirkungen des Singens

2.2.1 Zur Bedeutung des Singens für den Menschen am Beispiel anderer Kulturen

Der Mensch scheint das Singen gezielt als Hilfe einsetzen zu können, um in be­stimmten Situationen sein psychisches Gleichgewicht aufrecht zu er­halten oder wieder herzustellen und damit einhergehend körperliche Anre­gung o­der im Ge­genteil auch Entspannung zu erfahren. Durch das Singen schei­nen veränderte Be­wusstseinszustände erreicht werden zu können, welche auch als Tor zu spirituellen Er­fahrungen nutzbar gemacht werden.

Singen hat in vielen Kulturen die Funktion, Arbeitsvorgänge zu erleich­tern. Be­sonders im Orient und in Afrika ist es eine überlieferte Tradition, bei der Ar­beit zu singen und sich so zu ermuntern. Die hohe körperliche Anstren­gung scheint oft nur durch das stetig begleitenden Singen voll­bracht werden zu können. Es ist erstaunlich, welche Kraft viele Frauen aus anderen, ärme­ren Kulturkreisen aufbringen können, um den harten Anfor­derungen des täglichen Lebens gewachsen zu sein.

Die Beispiele des die Arbeit erleichternden Singens tauchen fast immer in agrarischen oder handwerklichen Zusammenhängen auf, im Alltag unserer Industriegesellschaft ist das Singen bei der Arbeit kaum noch anzutreffen.

Wie seelische Schmerzen, zum Beispiel die Trauer, mit Hilfe des Gesangs bewältigt werden, zeigt die Arbeit der „Klageweiber“. In Griechenland, Si­zilien, Südfrankreich und der Türkei gibt es noch heute in manchen Regio­nen Frauen, die beim Tod eines Angehörigen hinzu­gezogen werden, um ihn laut zu beweinen. Oft werden auch die Trauernden mit in diese Ge­sänge einbezogen, damit sie Erleichterung erfahren können. Ebenso wird in vielen Autobiografien von Häftlingen in deutschen Konze­n­trationsla­gern erwähnt, dass das Singen - ob leise vor sich hin oder nur in Gedan­ken - auch für sie eine große Bedeutung hatte; ein Versuch, die sowohl seelisch als auch kör­perlich unerträgliche Situation zu ertragen.

Die Aborigines Australiens gehen davon aus, dass ihre Ahnen die Welt ins Dasein gesungen haben. Die Schöpfungsmythen berichten von totemisti­schen Wesen, die über den Kontinent wanderten und alles besangen, was ih­ren Weg kreuzte. So be­nannten sie Tiere, Pflanzen, Wasserlöcher und Fel­sen und sangen damit die Welt ins Dasein. Wo immer sie hingingen, hinter­lie­ßen sie eine musikalische Spur. Jeder Ahne, glauben sie, habe so auf sei­ner Reise durch das Land eine Spur von Wörtern und Noten neben seinen Fuß­spuren ausgestreut. Auf diese Weise sind die Verkehrswege zwischen den Stämmen ent­standen, die sich über das ganze Land hinzie­hen. Diese nennen die Aborigi­nes Songlines oder Traumpfade.

Ihre Lieder hatten also die Funktion von Landkarten: Wer sie kannte, fand immer seinen Weg durch das Land. Ganz Australien konnte von ih­nen wie eine Partitur gelesen werden. Jeder Stamm ent­lang einer Songline hatte seine eigene Strophe in­nerhalb des Liedes, das Ende der Strophe markierte die Grenze des Stam­mesgebietes. Die Aborigi­nes erforschten und vergrö­ßerten ihre Welt, indem sie Strophen des Liedes „Australien“ aus­tauschten und sich so gegenseitig Wegerechte einräumten.[16]

Die Aborigines „ glau­ben nicht, dass die menschliche Stimme zum Spre­chen geschaffen wurde. Man spricht mit dem Kopf. Wenn die Stimme zum Spre­chen genutzt würde, gerieten die Unterhaltungen in der Regel eher nichts­sagend, überflüssig, weniger inspiriert. Die Stimme ist zum Singen geschaf­fen, zur Lobpreisung der Göttlichen Einheit und zum Heilen. Sie erklärten mir, dass jeder Mensch über zahlreiche Talente verfüge, und je­der könne auch singen. Auch wenn ich selbst die Gabe nicht schätzte, weil ich mir ein­bildete, nicht singen zu können, würde dies nichts an der Größe des Sängers in mir ändern.“[17]

Die Autorin Marlo Morgan hat selbst die hei­lende Kräfte des Gesangs er­fah­ren, als eine alte Frau ihre durch barfüßige Wan­derung verletzten Füße mit Gesang wirkungsvoll behandelte. Und auch in unserer heutigen Zeit und Kultur wird da­r­über berichtet, dass zum Beispiel Hauterkrankungen wie Warzenbildungen oder ähnliches besprochen oder besungen werden. Viele Mediziner bestäti­gen die rational nicht erklärbare heilende Wirkung.

Singen galt in den schriftlosen Kulturen als Lebensvollzug und somit als unent­behrlich. „ Alles, was klingt, hat die stärkste Wirkung im Kampf der Menschheit ge­gen die feindlichen Kräfte, die Leben und Wohlfahrt bedro­hen. Nichts kann besser die Kräfte des Glücks und des Wohlergehens he­r­ausfordern als Klang. Klang er­regt unser Nervensystem in besonderer Weise, und da die Primitiven ihre eigenen Gefühle in die unsichtbaren Kräfte um sie herum hineinprojizieren, müssen auch sie sich dem geheim­nisvollen Zauberspruch, der verzaubernden Wirkung von Timbre, Rhyth­mus und Ton unterwerfen.“[18] Diese Mächte des Gesangs sind ein Grund, weshalb das Singen in den verschiedensten Kulturen zur Tradition gewor­den ist. Ein weiterer Grund, warum es für die Menschheit so wichtig ist zu singen, ist die enge Verbindung des Gesangs mit der Religion. Im christli­chen Kultur­erbe werden Engel durchweg singend dargestellt, dem Teu­fel ist die dem Menschen durch Gott gegebene Gabe des Singens versagt. Im Ab­lauf der christlichen Messe ist der traditionelle Chorgesang fester Be­standteil. „ Im Singen kommen wir in Berührung mit den positiven Ge­füh­len wie Freude, Hoff­nung, Sehnsucht und Liebe. Wir brauchen uns im Sin­gen nicht in Ge­fühle der Freude und Liebe hineinzusteigern. Wenn wir uns einfach auf das Singen einlas­sen, dann bewirkt es etwas in uns, dann stei­gen Freude und Sehnsucht in uns auf. ...Durch Psalmensingen klingen in uns Saiten wieder, die sonst stumm bleiben. Es entstehen ein Bewegtsein des Gemütes, ein Er­griffensein von Freude und Liebe.“[19]

Im Hinduismus wird der Gesang als Träger der kosmischen Schöpferkraft angese­hen. So ist das Singen leichter geistlicher Lieder, das so genannte Bahjan-Singen, ein essentieller Teil spiritueller Praxis und wird als heil­sam für Körper, Geist und Seele empfunden. Aus demselben Grund legen viele Yogalehrer in der Übungs­praxis einen Schwerpunkt auf das Singen.

Auch in der tibetischen Kultur ist das Wissen um die psychische Funktion des Singens bis heute lebendig. Besonders das mantrische Singen - die stetig gesun­gene Wiederholung kurzer spiritueller Sinnsprüche, Wörter oder Sil­ben - wird im tibetischen Buddhismus als Teil geistiger Übungen ver­stan­den. Man geht dabei davon aus, dass diese Art des Gesangs die Emoti­onen beruhigt und somit den Blick zur Erkenntnis der Wahrheit frei­gibt. Zudem, so nimmt man an, fördere diese Praxis die kör­perliche, seeli­sche und geis­tige Gesundheit.

Nach der altchinesischen Weltsicht wurde das Singen von mystischen We­sen vermittelt. Es bezeugt die harmonische Einheit von Himmel, Erde und Mensch. Dieser Anschauungsweise folgend, ordnet der Gesang durch die Beeinflussung des gesellschaftlichen Systems und des Individuums die Welt.

In der Heilkunst des traditionellen China wird von der Wirkung bestimm­ter ge­sungener Töne auf die Organe ausgegangen und so dem Singen eine Heilkraft zu­geschrieben. Von dieser Vorstellung ausgehend, entstand das traditionelle musik­therapeu­tische Konzept der „Sechs heiligen Laute“.[20]

2.2.1.1 Zur Regulation von Emotionen

Singen wird oft als Verhalten zum Zweck der Regulation von Emotionen be­trachtet. Spätestens hier stellt sich die Frage, was der Begriff Emotion ei­gentlich beschreibt. In der psychologischen Praxis stößt der Bereich der Emotionen schon lange auf reges Interesse. Bis heute gibt es aber weder eine einheitliche Theorie noch allgemein akzeptierte Definitionen in die­sem Bereich. Die Emotionstheorien legen ihren thematischen Schwerpunkt auf die Entstehung von Emotionen mit ihren kognitiven, expressiven und phy­siologischen Teilprozessen, haben sich aber kaum mit dem Thema der Be­wältigung von Emotionen beschäftigt. Vor diesem Hintergrund schla­gen Schelp und Kemmler vor, der Auf­fassung des „reziproken Determi­nismus“ zu folgen, wonach Verhalten, wahr­ge­nommene Umweltbe­din­gungen und psychische Prozesse einander wechsel­seitig bedingen.[21] Hier wird der the­oreti­sche Begriff Emotion für „(...) komplexe organi­sierte psy­chologische Zustände benutzt, die von neuronal-hormonalen Systemen vermittelt werden und die subjektives, affektives Erleben, kognitive Pro­zesse (ge­fühlsbetonte Gedanken), physiologisch-körperliche Reaktions­muster und Ver­hal­tens­äußerungen ein­schließen.“[22]

Dieser Ansatz bestätigt seine Richtigkeit unter anderem durch die Er­geb­nisse verschiedener Untersuchungen[23]: Wenn in emotionalen Belastungssitu­ati­onen gesungen wurde, konnten die eigenen Emotionen po­sitiv so be­ein­flusst wer­den, dass auch neue Verhaltensmuster angebahnt werden konn­ten.

2.2.1.2 Emotionale Zustände

Emotionale Zustände werden nach Affekten, Emotionen und Stimmungen diffe­renziert. Emotionen informieren den Menschen über sein augenblickli­ches Ver­hältnis zu sich selbst und zu seiner Umwelt. Als Af­fekte werden heftige emotio­nale Zustände benannt, die mit kurzer Dauer aber hoher In­tensität eine Person vollständig ergreifen können. Als Stim­mungen werden emotionale Zustände ver­standen, die sich über einen län­geren Zeitraum erstrecken, weniger intensiv sind und individuelles Erleben ermöglichen. Alle emotionalen Zustände werden mit Kognitionen verbun­den und durch sie beein­flusst. Sie haben Auswirkungen auf das Ver­halten einer Person.

Als Emotionen werden nach Scherer folgende Gefühlsregun­gen unterschie­den: Vergnügen, Freude, Ekel, Abscheu, Traurigkeit, Ver­zweiflung, Angst, Furcht, Ärger, Wut, Langeweile und Scham bzw. Schuld.[24]

Diese Emotio­nen werden unmittelbar und evident erfahren, entziehen sich aber weitge­hend der objektiven Betrachtung. Sie sind, anders als Verhal­tensweisen, sehr private Ereig­nisse, bei denen es der Umwelt verborgen bleibt, wie sie erlebt werden. Beobacht­bar sind zum Beispiel Gesichtsaus­drücke oder andere Re­aktionen auf Emotionen.

Emotionen können in der Regel nicht willkürlich herbeigeführt, kontrol­liert und beendet werden. Sie sind Erlebnisweisen, denen sich der einzelne pas­siv ausge­setzt fühlt, wenn ihm Gefühle widerfahren, die er unter Um­ständen als belastend und unausweichlich erfährt.

2.2.1.3 Kognition

Unter dem theoretischen Begriff der Kognition werden nach Schelp und Kemmler „ konstruktive Prozesse eines aktiven, sich seine subjektive Welt schaffendenden Individuums [verstanden, Anm. des Verf.], die den Er­werb, die Organisation und den Gebrauch von Wissensinhalten umfas­sen.“[25] Durch die kogni­tiven Pro­zesse werden die be­wussten und unbe­wussten Informatio­nen über sich selbst und die Welt, also die Gesamtheit des Erlebens umgesetzt. Diese Informationen werden mögli­cherweise ver­ringert, weiterverarbeitet, gespeichert, wie­der hervorge­holt und schließlich benutzt. Im Gegensatz zu den Emotionen werden die Kog­nitionen als be­wusst steuerbar und kontrollierbar ange­se­hen. In ihrer Funk­tion als Hand­lungssteuerung beinhaltet die Kognition die in­tellektuelle, die Emotion die motivationale Steuerung. Die Planung und Kalkula­tion von Handlungen und Handlungszielen, sowie der Erwerb neuer Fähigkeiten werden der Kognition zugeschrieben. Routinierte Handlungsabläufe, Not­fall- und Schutzreaktionen werden jedoch durch die Emotionen gesteuert.

2.2.1.4 Verhalten

Über die genauen Zusammenhänge von Emotion und Kognition bestehen in der wissenschaftlichen Diskussion Meinungsverschiedenheiten. Einig­keit herrscht je­doch in der Annahme, dass es eine wechselseitige Beein­flussung gibt, die sich im Verhalten niederschlägt. Verhalten ist „ der theo­retische Begriff für jedes mensch­li­che Tun, jedes Abweichen aus dem Ru­hezustand. Verhalten wird als Oberbegriff sowohl für zielgerichtete, be­wusste und re­flektierbare Handlungen im Sinne der Handlungstheorie verwendet als auch für gelernte, gewohnheitsmäßig-automa­ti­sche und nicht notwendiger­weise bewusst ablaufende Verhaltensweisen im Sinne der behavioristischen Theorie.“[26]

Singen kann nach dieser Definition als ein Verhal­ten betrachtet werden. Es

steht außer Frage, dass Emotion und Kognition auch dieses Verhalten be­ein­flussen: Ich verspüre Lust zu singen (Emotion) und will nach dem Mit­tag­es­sen damit beginnen (Kognition).

Dass aber das Verhalten selbst wiederum einen Einfluss auf Kognitionen und Emotionen haben kann, wird deutlich, wenn man die Ergebnisse be­trachtet, die Karl Adameks Untersuchung in Bezug auf das Singen als emo­tionale Bewälti­gungsstrategie hervorbrachte.

2.2.2 Singen als Bewältigungsstrategie

Nicht bewältigte Emotionen können, wie es die Psychoneuroimmunologie belegt, die Gesundheit beeinträchtigen. In gleicher Weise werden Emotio­nen, wenn sie aus dem Gleichgewicht geraten, die Wahrnehmung und die Wirklichkeit des ein­zelnen verändern bzw. verzerren und somit seine Le­bensbewältigung erheblich er­schweren. Aber Emotionen müssen ein Teil unseres Bewusstseinsinhalts sein. Ohne sie würden uns bestimmte Erkennt­nisse fehlen. Ohne emotionale Qualifi­zierung, die motivational re­alitätsbe­zogene Einschätzungen und Handlungen steu­ert, wäre ein Großteil unserer Mei­nun­gen und unseres Wissens psychisch irrele­vant. Hier wird deutlich, wie zentral es für die Lebensbewältigung ist, Strategien zu entwi­ckeln, die eine emotionale Balance ermöglichen. Bewältigungsstrategien sind letzt­lich alle Anstrengun­gen, die unternommen werden, um mit Be­lastungs­situationen umzugehen. Der kalkulierte Effekt eines Verhaltens hängt von den subjektiven Intentionen ab.

In der Coping- oder Bewältigungsfor­schung werden vier Regulationsziele un­terschieden: die Regulation von Emotio­nen, die Lösung des zugrunde lie­genden Pro­blems, die Erhaltung des Selbstwertes und die Steuerung von so­zialen Interaktionen.

Die Effizienz einer Bewältigungs­strategie wird nach drei Kriterien gemes­sen: Da ist zunächst das Kriterium des Inhalts. Es um­fasst Aspekte wie psychisches Wohlbefinden, psychische und phy­sische Ge­sundheit, aber auch den Aspekt des Sozialverhaltens, bei dem entschei­dend ist, wie sozi­alverträglich bzw. sozialschädlich eine Bewältigungsstrategie ist. Auch so­ziale Abkapselung, aggressive Reaktionen oder der Konsum von Ge­nuss­mitteln und Drogen sind Strategien zur Bewältigung von Emotionen. Das zweite Moment zur Messung der Effizienz ist das Kriterium der Zeit­spanne. Es bezieht sich auf die Dauerhaftigkeit der Bewältigung. Ein drit­tes Kriterium, das der Urteilsinstanz, berücksichtigt, ob der Betroffene selbst oder ein außenste­hender Be­obachter die Bewältigung als effektiv beurteilt.

Wie wichtig es ist, Emotionen wirklich zu regulieren, sie also weder zu un­ter­drücken noch ungehemmt auszuleben, wird deutlich, wenn man einem interes­santen Ergebnis der Copingforschung glaubt. Untersuchungen erga­ben, dass es gleichermaßen zu gesundheitlichen Schäden führen kann, der Emo­tion Ärger freien Lauf zu lassen wie den Ärger herunterzuschlucken. Nur die Krankheits­symptome sind unterschiedlich.[27]

Für die Gesundheitsvor­sorge scheint es also zweckmäßig zu sein, die Le­bensbewäl­tigung so einzu­richten, dass Emotionen zum Beispiel bei der Konfrontation mit Ärgerreizen gezielt reguliert werden und dadurch sub­jektiv weniger Är­ger empfunden wird.

Dem Singen wird als Bewältigungsstrategie eine wesentliche Bedeutung zu­ge­schrieben, auch wenn sie nur selten bewusst, sondern viel eher als sponta­ner Selbstausdruck angewandt wird. Man singt oder summt vor sich hin, ohne es zu merken oder gar darüber zu reflektieren.

Die prägnantesten Ergebnisse der Befragung durch Adamek ergaben, dass über 80% der Befragten alleine für sich singen wenn sie besonders glück­lich sind. Für 58,4% ist Singen ein Ausdruck von innerer Zufriedenheit und Ausgeglichenheit und immerhin 50% werden durch die Stimmung „Taten­drang“ zum Singen ange­regt. Bei diesen Personen ist das Singen in Glücks­situationen funktional für die Integration überschäumender Ge­fühle. Es zielt darauf ab, überschüssige Energie zu kanalisieren und zu in­tegrieren. Dabei wird das Glücksgefühl zwar transfor­miert, aber nicht qualitativ verändert, wie es zum Beispiel erfahren wird, wenn man sich aus einer schlechten Laune in eine gute singt. Die Coping­forschung be­sagt, dass dies zum größ­ten Teil unbewusst geschieht.

Auch beim Auftreten physischer Erschöpfungszustände wird gesungen. Mehr als 45% der Befragten sind sich der Bewältigung solcher Situationen bewusst und sagten aus, dass sie beim Singen Energie auftanken können und sich dadurch ein­deutig besser fühlten.[28]

Die Bewältigung von Emotionen durch das Singen geschieht also entwe­der durch eine Transformation überschüssiger Energie oder durch Freiset­zung zusätzlicher Energie. Dieser Prozess kann sich auf unterschiedlichen Ebenen der Selbstwahr­nehmung vollziehen. Er kann bewusst oder unbe­wusst ablau­fen, wodurch seine Qualität verändert wird.

Bei der Betrachtung der Unter­suchungsergebnisse muss beachtet werden, dass der hohe Anteil spontaner, unbewusster Reaktionen nicht dokumen­tiert wird, da nur die Personen selbst befragt wurden und Beobachtungen von Außenstehenden nicht mit einbezo­gen wurden.

[...]


[1] Vgl. Bastian, Musikerziehung und ihre Wirkung, 2000.

[2] Vgl. Derbolowsky, Atem ist Leben, 1996.

[3] Saatweber, Einführung in die Arbeitsweise Schlaffhorst - Andersen, Idstein 1994, S.15.

[4] Alavi Kia, Stimme-Spiegel meines Selbst, 1994, S. 57.

[5] Vgl. Hirler, Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik, 1999, S. 9.

[6] Vgl. Hirler, Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik, 1999, S. 13.

[7] Hirler, Sabine: Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik,1999, S. 42.

[8] Hirler, Sabine: Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik,1999, S. 42f.

[9] Hirler, Sabine Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik,1999, S. 43.

[10] Anmerkung: Begriffe wie dieser werden hier geschlechtsneutral genutzt.

[11] Vgl. Revers; Rauhe, Musik, Intelligenz, Phantasie. 1978, S. 14.

[12] Revers; Rauhe, Musik, Intelligenz, Phantasie. 1978, S. 13.

[13] Vgl. Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996.

[14] Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996, S. 79.

[15] Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996, S. 202.

[16] Vgl. Chatwin,: Traumpfade, 1990.

[17] Morgan, Traumfänger, 1995, S. 95.

[18] Sachs, The Wellsprings of Music, 1962, S83.

[19] Grün, Chorgebet und Kontemplation, 1989, S. 48f.

[20] Vgl. Höting, Die sechs heiligen Laute, 1988.

[21] Vgl. Schelp; Kemmler, Emotion und Psychotherapie, 1988.

[22] Schelp; Kemmler: Emotion und Psychotherapie,1988. S.25.

[23] Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996.

[24] Vgl. Scherer, Psychologie der Emotionen, 1990.

[25] Schelp; Kemmler, Emotion und Psychotherapie, 1988. S.26.

[26] Schelp; Kemmler, Emotion und Psychotherapie, 1988. S.26.

[27] Vgl. Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996, S. 56.

[28] Vgl. Adamek, Singen als Lebenshilfe, 1996, S. 77.

Ende der Leseprobe aus 127 Seiten

Details

Titel
Wirkung von Kinderchorarbeit auf Persönlichkeitsentwicklung und soziale Kompetenz
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Institut für Musik und ihre Didaktik)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
127
Katalognummer
V4677
ISBN (eBook)
9783638128636
Dateigröße
1232 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Singen, Chor, Gruppe, Stimme, Stimmfehler, Atmung, Sozialverhalten, Persönlichkeitsentwicklung, Intelligenz, Wahrnehmung, Konzentration, Bewältigung, Motivation, Musikunterricht, empirische Studie
Arbeit zitieren
Julia Scholz (Autor:in), 2001, Wirkung von Kinderchorarbeit auf Persönlichkeitsentwicklung und soziale Kompetenz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4677

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