Al Qaida - Netz des Terrors. Entstehungs- und Funktionsweise transnationaler Terrorismus-Netzwerke

Anhand des Fallbeispiels al Qaida


Forschungsarbeit, 2005

46 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung ins Thema

2. Ziel der Arbeit und Fragestellung

3. Thesen

4. Die Restrukturierung des politischen Raumes
4.1. Globalisierung, Entgrenzung, Denationalisierung
4.2. Transnationalisierung von Problemlagen
4.3. Ursachen der Gewalttransnationalisierung
4.3.1. Mangelnde staatliche Unterstützung
4.3.2. Verändertes Feindbild
4.3.3. Neue Möglichkeiten
4.3.3.1. Veränderungen in der internationalen Finanzarchitektur
4.3.3.2. Veränderungen in der globalen Wirtschaftsstruktur
4.3.3.3. Technologische Entwicklungen

5. Funktionsweise von Netzwerken
5.1. Definition und Charakteristika
5.2. Netzwerktypologie
5.3. Die Frage der Macht
5.3.1. Machtverteilung innerhalb von Netzwerken
5.3.2. Macht von Netzwerken
5.3.2.1. Die Macht transnationaler terroristischer Netzwerke

6. Al Qaida
6.1. Phase 1: Geburtsstunde der al Qaida
6.2. Phase 2: Netzwerkaufbau und Zielfokussierung
6.3. Phase 3: Al Qaida als Netzwerk der Netzwerke
6.4. Phase 4: 2001 bis heute
6.4.2. Die unerschöpflichen Geldquellen der al Qaida

7. Schlussfolgerungen und Ausblick

8. Anmerkungen

9. Literaturverzeichnis

1. Einführung ins Thema

«Marx sagte: Ein Gespenst geht um in Europa, es ist das Gespenst des Kommunismus. Heute können wir sagen: Ein Gespenst geht um in der globalen Weltordnung, es ist der Terrorismus» (Baudrillard, 2002: 63).

Die terroristischen Attentate vom 11. September 2001 in New York und Washington, vom 11. März 2004 in Madrid und 7. Juli 2005 in London haben der medial vernetzten Weltöffentlich­keit nicht nur das destruktive Potenzial einiger gut organisierter religiöser Extremisten vor Augen geführt, sondern zeitgleich machten diese Attacken auch auf die Verletzlich- und Ver­wundbarkeit des globalen, interdependenten politischen und ökonomischen Systems aufmerk­sam. Die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gehegte Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden, der durch den Wegfall der ideologischen Macht- und Grabenkämpfe auf dem Boden grenzüberschreitender ökonomischer Beziehungen gedeihen sollte (Fukuyama, 1989), mu­tierte auf einen Schlag zur naiven Illusion, die der inszenierten Apokalypse und dem ver­meintlich globalen Kulturkampf (Huntington, 1993) weichen musste. Seither bestimmt der global agierende Terrorismus wie kaum ein anderes Thema die Agenden der nationalen und internationalen Sicherheits- und Aussenpolitik. So wurde nicht nur die Operation «Enduring Freedom» als unmittelbare Antwort auf den 11.09. vom Zaun gerissen, sondern auch der Irak­feldzug mit dem Hinweis auf den global vernetzten Terrorismus zu begründen und legitimie­ren versucht (vd Pol, 2004).

All diese politischen und militärischen Aktionen wurden/werden als Reaktion auf ein Phäno­men unternommen, dessen Ausprägungen unter den Begriff Terrorismus subsumiert werden. Geschichtsgewahre Personen sind sich allerdings bewusst, dass terroristische Organisationen schon seit geraumer Zeit ihr Unwesen treiben und in der Vergangenheit bereits unzählige At­tentate verübt haben.[i] Neu am derzeit ins (mediale) Blickfeld gerückten Terrorismus militant islamistischer Provenienz ist im Gegensatz zu traditionellen Terrorformen und Terrororgani­sationen seine transnationale Dimension, sowohl in Bezug auf die Organisationsstruktur als auch die Handlungsziele. Konnten in den 1970er und -80er Jahren terroristische Organisatio­nen noch mehr oder minder lokal verortet und gemäss ihrer politisch-ideologischen Ausrich­tung einem Land - oder einer ideologischen Landkarte - zugeordnet werden, verschwand diese Bestimmbarkeit nach dem Ende des Kalten Krieges in zunehmendem Masse. Dabei fällt auf, dass sich die von den beiden Grossmächten geförderten terroristischen Organisationen von ihrer staatlichen Abhängigkeit sowohl in finanzieller als auch militärisch-taktischer Hinsicht abzulösen und sich zu autonomen Organisationen zu entwickeln begannen; sie wandelten sich von staatlich abhängigen politischen Organen, die nach Belieben instrumentalisiert werden konnten, zu eigenständigen, z.T. transnationalen Akteuren, die auf der nationalen und interna­tionalen Politbühne aktiv wurden. Als Paradebeispiel eines solchen Loslösungsprozesses kann der Übergang der staatlich unterstützten Mudschahedin-Truppe, die für den Kampf gegen die sowjetische Okkupation und Expansion in Afghanistan vom pakistanischen Geheimdienst - und der verdeckt agierenden CIA - aufgebaut und unterstützt worden war, hin zu jenem trans­national agierenden, terroristischen Netzwerk[ii] angesehen werden, das heute unter dem Namen al Qaida figuriert.

Interessant an der al Qaida ist nicht nur ihre Entstehungsgeschichte, sondern insbesondere die netzwerkartige Organisationsstruktur, die ihr zugrunde liegt. Dank diesem verästelten und de­zentralen Organisationsprinzip konnte sie in fast 60 Ländern Fuss fassen, ohne dabei einen festen, d.h. permanenten Hauptsitz zu haben (Jenkins, 2002: 12; Malzahn, 2003). Zudem ist sie aufgrund dieses netzwerkartigen Organisationsaufbaus schwer lokalisier- und fassbar. Nichtsdestotrotz tritt die al Qaida als politischer Akteur in Erscheinung, der mit seinen Aktio­nen konkrete politische Ziele verfolgt und staatliches Handeln zu beeinflussen sucht. Dabei werden verschiedene Medientypen zu Propagandazwecken eingesetzt und neue Technologien der Informationsverarbeitung und -verbreitung gezielt genutzt. Zudem hat die Organisation ein hohes Mass an finanzieller und politischer Unabhängigkeit erreicht, was sowohl auf die beträchtlichen finanziellen Ressourcen Osama bin Ladens, als auch auf die geschickte Er­schliessung, Ausnutzung und Verwaltung anderer Einnahmequellen zurückgeführt werden kann.

Doch die al Qaida hätte sich wohl kaum zum transnationalen Netzwerk entwickeln können, wenn nicht strukturelle Veränderungen in Bereichen der internationalen Finanzarchitektur und des globalen Warenhandels stattgefunden hätten. Ferner dürfen auch die Quantensprünge in der Informations- und Kommunikationstechnologie nicht ausser Acht gelassen werden, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich die al Qaida in verschiedenen Ländern fest­setzen und grenzüberschreitend aktiv werden konnte.

In Anbetracht der weiterhin bestehenden, ungebremsten Zerstörungswut und der potenziellen Gefahr, die vom al Qaida-Netzwerk ausgeht - wobei diese Gefahr nicht nur als Angst westli­cher Nationen vor weiteren terroristischen Anschlägen verstanden werden sollte, sondern auch in Bezug auf die destabilisierende Wirkung des al Qaida-Netzwerks auf schwache Staaten - erstaunt es, dass Thomas Risse in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Internationale Bezie­hungen diagnostiziert, dass ein Manko bezüglich einer theoriegeleiteten Analyse von transna­tionalen Terrornetzwerken besteht. Die Ursachen für dieses Defizit macht Risse an den sub­jektiven Einstellungen und Präferenzen der Forscherinnen und Forschern selbst fest, indem er konstatiert, dass sich «diese Forscher/-innen bisher kaum mit der dunklen Seite von Transna­tionalisierung und Entgrenzung beschäftigt haben» (Risse, 2004: 16f.). Diese Seminararbeit soll einen Beitrag dazu leisten, etwas mehr Licht in diese dunklen Ecken der Transnationali­sierung und Entgrenzung zu bringen.

2. Ziel der Arbeit und Fragestellung

Ziel dieser Arbeit ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Entstehungs- und Funktions­weise transnationaler Netzwerke, fokussiert auf den sicherheitspolitisch relevanten Bereich des transnationalen Terrorismus. Dabei sollen zunächst theoretische Konzepte wie die Re­strukturierung des politischen Raumes, die Transnationalisierung von Problemlagen und die Gewaltprivatisierung im Kontext der politikwissenschaftlichen Globalisierungsdebatte einge­führt und thematisch eingebettet werden. Danach werden gängige netzwerktheoretische Kon­zepte und Begriffe etwas näher beleuchtet und in Zusammenhang mit dem transnationalen Terrorismus gebracht. Anhand der Entstehungsgeschichte und des Aufbaus des al Qaida-Netzwerks soll in einem dritten Schritt aufgezeigt werden, unter welchen politischen und öko­nomischen Rahmenbedingungen sich ein terroristisches Netzwerk konkret bilden und aus­breiten kann. Aufgrund dieser Überlegungen sollen im Laufe der Arbeit folgende Fragen be­handelt werden:

- Welche Faktoren und Strukturen haben in einem globalen Kontext dazu beigetragen, dass sich ein terroristisches Netzwerk wie die al Qaida formieren und transnational entfalten konnte?
- Welche Organisations- und Handlungslogik liegt dem al Qaida-Netzwerk zugrunde?

Faktoren sind in diesem Zusammenhang politische, ökonomische, historische und soziokultu­relle Einflussgrössen, die bei der transnationalen Netzwerkformierung mitgewirkt haben.

Unter Strukturen verstehe ich Muster, die zu einer gegebenen Zeitperiode als historische Mo­mentaufnahme durch ökonomische, politische, technologische und soziokulturelle Prozesse hervorgebracht werden und die für eine Transnationalisierung terroristischer Netzwerke för­derlich oder hinderlich sein können.

Der Begriff transnational zielt sowohl auf den Aufbau als auch die operative Tätigkeit einer Organisation ab, «wenn sie mehrere Standorte hat und in mehreren Ländern gleichzeitig sowie im Verbund zwischen diesen Ländern und den einzelnen Standorten vernetzt tätig ist» (Behr, 2004: 125; sowie Mann, 2003: 136).

Als terroristisch wird eine Gruppe oder ein Netzwerk dann eingestuft, wenn es durch Gewalt­akte oder Gewaltandrohungen ein Klima der Angst und des Schreckens zu installieren ver­sucht und explizit politische Ziele verfolgt (Hoffman, 1998: 15; Ettlinger/Bosco, 2004: 251f.; Eppler, 2003: 24).

Die Organisations- und Handlungslogik eines Netzwerks muss begriffen werden als die Art und Weise, wie ein Netzwerk intern aufgebaut ist und nach welchen Motiven und Mustern es als politischer Makroakteur handelt.

3. Thesen

Aufgrund der Tatsache, dass sich diese Arbeit vornehmlich mit den strukturellen Voraus­setzungen befasst, die für die Entstehung und Transnationalisierung terroristischer Netzwerke nützlich oder hinderlich sein können, zielen die Thesen auf jene Prozesse ab, die vor allem seit den 1990er Jahren für die vielschichtigen Umwälzungen auf ökonomischer, politischer, technologischer und sozialer Ebene verantwortlich gemacht werden können und die allgemein unter den Begriff der Globalisierung fallen. Gleichzeitig muss aber auch der historische und politische Rahmen abgesteckt werden, in welchem die Globalisierung seit 1990 vonstatten geht. Diesbezüglich von grosser Bedeutung ist natürlich das Ende des über 40 Jahre andau­ernden Ost-West-Konflikts und die darauffolgende Implosion des sowjetischen Reiches. Fol­gende drei Thesen lassen sich in Bezug auf den transnationalen Terrorismus formulieren:

These 1: Das Ende der Ost-West-Konfrontation hat die ideologische, operative und organisa­torische Neuausrichtung vormals staatlich geförderter, militanter Gruppierungen entscheidend vorangetrieben.

Begründung: Das Wegfallen der direkten und indirekten finanziellen, logistischen und mili­tärischen Unterstützung durch die Grossmächte USA und UdSSR (und ihren Verbündeten) zwang die davon profitierenden militärischen Gruppen zur Erschliessung neuer politischer und ökonomischer Betätigungsfelder, was wesentlich zu ihrer Autonomisierung beitrug (Napoleoni, 2004: 108).

These 2: Die Prozesse der ökonomischen, politischen und technologischen Globalisierung schwächen das territorial fixierte, staatliche Gewaltmonopol, da sich im Zuge dieser Ent­wicklungen sicherheitspolitische Problemlagen zu transnationalisieren beginnen. Dies nützen transnational operierende terroristische Netzwerke wie die al Qaida taktisch aus.

Begründung: Die Globalisierung ist ein grenzüberschreitender Prozess, bei welchem gesell­schaftliche Teilsysteme (Ökonomie, Politik, Militärwesen) auf internationaler Ebene mitein­ander verwoben und verknüpft werden (Kohler-Koch, 1990: 113). Diese Verknüpfung be­wirkt u.a. eine Restrukturierung des politischen Raumes, da die vormals auf dem Territorium des Nationalstaats gebundenen Problemlagen transnationalisiert werden (Held/McGrew, 2003: 8). Dadurch tut sich im Bereich der Sicherheitspolitik eine Kluft zwischen der territorial fixierten Schutzfunktion des Staates mit Gewaltmonopol und der Transnationalisierung von sicherheitspolitischen Problemlagen auf. Diese Situation nützt terroristischen Netzwerken, da sie nicht in gleichem Masse territorial gebunden sind und dementsprechend wesentlich agiler und flexibler handeln können als Nationalstaaten.

These 3: Die Prozesse der ökonomischen, politischen, technologischen und soziokulturellen Globalisierung schaffen die strukturellen Bedingungen für die terroristische Netzwerkformie­rung und Gewalttransnationalisierung.

Begründung: Erst die revolutionären Entwicklungen in den Informations- und Kommunika­tionstechnologien, die Veränderungen im internationalen Finanz- und Bankensystem, der re­lative Machtverlust der Nationalstaaten gegenüber anderen politischen Akteuren, die gestei­gerte Mobilität der Menschen und die erhöhte Präsenz der Medien in (westlichen) Gesell­schaften bildeten das Fundament für die netzwerkartige Organisationsstruktur des transnatio­nal aktiven Terrorismus. Diese Netzwerkformierung ermöglicht beziehungsweise erleichtert die grenzüberschreitende Gewaltanwendung, wie sie von der al Qaida praktiziert wird.

4. Die Restrukturierung des politischen Raumes

4.1. Globalisierung, Entgrenzung, Denationalisierung

Obwohl Susan Strange in ihrem Buch The retreat of the state zurecht darauf hinweist, dass der Begriff Globalisierung bei der Beschreibung der vielschichtigen und komplexen Ent­wicklungen, die in Bereichen des Finanz- und Kreditwesens, der weltweiten Industrieproduk­tion und des Technologiesektors grob seit den 1970er Jahren im Gang sind, vielfach zu vage und ungenau gebraucht wird (Strange, 1996: xiii; sowie Ferguson/Mansbach, 2002: 96), bin ich trotzdem der Ansicht, dass die begriffliche Bündelung dieser Entwicklungen im Wort «Globalisierung» dann legitim ist, wenn es eine übergreifende Logik zu benennen vermag. Dies tut die Globalisierungsdefinition von David Held. Für ihn stellt die Globalisierung in erster Linie ein Prozess dar, in dessen Verlauf die räumlich-territoriale Fixiertheit menschli­cher Organisationsformen gelöst wird, da gesellschaftliche Entwicklungen in zunehmendem Masse grenzüberschreitend vonstatten gehen:

«Globalization can be understood in relation to a set of processes which shift the spatial form of human organization and activity to transcontinental or inter-regional patterns of acitivity, interaction and the exercise of power...It involves a stretching and deepening of social relations and institutions across space and time such that, on the one hand, day-to-day activities are increasingly influenced by events happening on the other side of the globe and, on the other, the practices and decisions of local groups or communities can have significant global reverberations» (Held, 1998: 251; siehe auch Held/McGrew, 2003: 3f.).

Die Globalisierungsdefinition von Mathias Albert stösst in eine ähnliche Richtung. Für ihn muss Globalisierung als Form von sozialen Wandelsprozessen verstanden werden, die sich als Ausdifferenzierung von Referenzsystemen vollziehen und die territorialstaatliche Grenzen umspannen. Nach Alberts Auffassung führt die Globalisierung nicht zu einem Wegfall von Grenzen an sich, «sondern zu einem Umbau von Begrenzung. Funktionale Differenzierungen und neuartige Exklusionsmechnismen übernehmen in verschiedenen Lebensbereichen die Kontroll- und Regulativfunktion territorialer Grenzen» (Albert, 1998: 51). Der Begriff Ent­grenzung bezeichnet hierbei die räumliche Dimension dieses globalen Umbruchs und be­schreibt «die Inkongruenz politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Räume», wo­bei gleichzeitig die Frage aufgeworfen wird, «inwiefern das Entstehen bedeutsamer räumli­cher Ordnungsmuster jenseits der territorialstaatlichen Aufteilung des internationalen Systems beobachtet werden kann» (ebd.: 51f.). So verstanden meint Entgrenzung «das Wegfallen alter und das Entstehen neuer und neuartiger Grenzen; das ‘Ent-‘ bezieht sich dabei vorrangig auf die nachlassende Dominanz einer territorialen bzw. territorialstaatlichen Differenzierung ver­schiedener Prozesse» (ebd.: 52).[iii]

Das Konzept der entgrenzten Räume wird ferner von Beate Kohler-Koch benützt, um darauf hinzuweisen, «dass Territorialität und das Zusammenfallen gesellschaftlicher Funktionsräume im Staat distinkte Merkmale des westfälischen Modells sind, die durch politisches und unter­nehmerisches Handeln in erheblichem Ausmass verlorengegangen sind» (Kohler-Koch, 1998: 11). Gemäss Kohler-Koch verknüpft sich die theoretische Herausforderung mit der These, «dass Internationalisierung ein neuartiges Problem für politisches Handeln schafft, weil nicht nur die Wirkungs- und Gestaltungsräume von Regieren auseinanderfallen, sondern die inter­nationale Expansion von Interaktionsräumen auch zu neuen funktionalen Differenzierungen und internen Grenzverschiebungen führt» (ebd.). Dementsprechend muss Entgrenzung als vielschichtiger sozialer Prozess verstanden werden, «der sich dem planenden Zugriff einer einzelnen Instanz entzieht» (ebd.).

Auch die beiden Politikwissenschaftler Zangl und Zürn machen auf den Loslösungs- und Verlagerungsprozess der nationalen Politik von ihrem staatlich-territorialen Ursprung auf­merksam. Basierend auf der Beobachtung, dass sich grenzüberschreitende Austausch- und Produktionsprozesse deutlich verdichtet und in den 1970er und -80er Jahren massiv beschleu­nigt haben, sowie der Feststellung, dass in den 1990er Jahren eine qualitative Veränderung der ökonomischen Verflechtung eingetreten ist, beschreiben sie die Globalisierung als «den gren­züberschreitenden Austausch und die grenzüberschreitende Produktion von Waren, Dienst­leistungen und Kapital im Wirtschaftsbereich, von Bedrohungen und Risiken im Sicherheits­bereich, von Symbolen im Kommunikationsbereich, von Menschen im Mobilitätsbereich und nicht zuletzt von Schadstoffen im Umweltbereich» (Zangl/Zürn, 2003: 153). Gleichzeitig wei­sen sie darauf hin, dass die Globalisierung paradoxerweise nicht global, sondern vielmehr re­gional stattfindet. Aus diesem Grund bevorzugen es die Autoren, anstatt von Globalisierung von gesellschaftlicher Denationalisierung zu sprechen, da dieser Begriff die im Zuge der Globalisierung stattfindende Entkoppelung von Nationalstaaten und Nationalgesellschaften betont (ebd.: 155). Ferner geben sie zu verstehen, dass die nationale Konstellation [iv] durch diese Entkoppelung zunehmend verdrängt und von einer postnationalen Konstellation abge­löst wird. Gemäss Zangl und Zürn beruhte die nationale Konstellation auf den folgenden vier Pfeilern (ebd.: 149-152):[v]

1. Nationale Problemlagen: Die Probleme, die es in der nationalen Konstellation politisch zu lösen galt, basierten auf nationalen Problemlagen. Die innere Sicherheit wurde durch das Gewaltmonopol des Staates und die Institutionalisierung eines funktionierenden recht­staatlichen Rahmens hergestellt; die Entwicklung einer nationalen Volkswirtschaft galt der Steigerung des Bruttosozialprodukts. Später kamen noch Aufgaben der Wohlstandsver­teilung innerhalb der nationalen Gemeinschaft hinzu.
2. Nationalstaatliches Regieren: Probleme wurden durch nationalstaatliches Regieren be­wältigt, d.h. «der Nationalstaat war in der nationalen Konstellation auf seinem Territorium die Organisation des Regierens » (ebd.: 150).
3. Nationale Ressourcen: Der Nationalstaat monopolisierte auf seinem Territorium die Res­sourcen, die zur Umsetzung der Politiken von Bedeutung waren. Dadurch erlangte der Nationalstaat nebst dem Gewalt-, auch das Steuererhebungsmonopol.
4. National geprägte Legitimierungsprozesse: Der Staat wurde erst zum Nationalstaat, «weil er bezogen auf sein Territorium als solcher anerkannt wurde - und zwar extern von der internationalen Staatengemeinschaft und intern von der nationalen Gesellschaft» (ebd.: 151). Diese externe Anerkennung konnte «gemäss dem Souveränitätsprinzip nur durch andere national verfasste Staaten erfolgen, und die interne Anerkennung wurde gemäss dem Selbstbestimmungsprinzip durch die eigene nationale Gesellschaft vorgenommen, welche idealiter am Regieren demokratisch beteiligt war» (ebd.).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Staat in der nationalen Konstellation Politiken formulierte, «mit denen die physische Sicherheit der Bürger (Innen- und Rechtspo­litik) und des Territoriums (Verteidigungspolitik), der materielle Wohlstand (Wirtschafts- und Forschungspolitik), soziale Gerechtigkeit (Sozialpolitik) und später auch ökologische Nach­haltigkeit (Umweltpolitik) ermöglicht werden sollte» (ebd.: 150f.). Die Effektivität dieser Konstellation steht und fällt aber mit der territorialen Gebundenheit der im Staate aktiven ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Akteure und Netzwerke. Sobald diese Ak­teure grenzüberschreitend handeln und sich transnationale Netzwerke herauszubilden begin­nen, verliert der Nationalstaat an Handlungs- und Gestaltungsmacht, da sich die dargestellten vier Pfeiler der nationalen Konstellation nicht mehr formgenau dem staatlichen Territorium zuordnen lassen. Eine solche Tendenz zur grenzüber- und grenzdurchschreitenden Akteurs­vernetzung hat sowohl für die Wirtschafts- als auch Sicherheitspolitik eines Landes weitrei­chende Konsequenzen, denn die neu entstehenden Problemlagen können oftmals nicht mehr nur durch nationales Regieren und Handeln gelöst werden.[vi] Somit findet gewissermassen durch die Globalisierung und die grenzüberschreitende Akteursvernetzung eine Restrukturie­rung des vormals nationalstaatlich fixierten und gedachten politischen Raumes statt, die im Folgenden auf die Sicherheitspolitik zugeschnitten anhand der Transnationalisierung von Problemlagen erläutert werden soll.

4.2. Transnationalisierung von Problemlagen

Der Konnex zwischen der vom Staat wahrgenommenen Sicherheits- und Schutzgarantie mit­tels Gewaltmonopol und der Legitimation der Institution «Staat» an sich wird mit der fort­schreitenden Globalisierung zunehmend brüchig, da dem Nationalstaat in gewissen Politikbe­reichen seine territorial gebundene und legitimierte Handlungs- und Gestaltungsmacht ge­nommen wird.[vii] Dafür verantwortlich sind in erster Linie die vielschichtigen Verflechtungen und Verknüpfungen gesellschaftlicher Teilsysteme auf globaler Ebene, die dazu führen, dass politische, ökonomische und soziokulturelle Interaktionen grenzüberschreitend stattfinden (Kohler-Koch, 1990: 113). Damit verknüpft ist aber auch ein Prozess, den Zangl und Zürn als die «Transnationalisierung von Problemlagen» (ebd.: 158) bezeichnen. Gemeint ist jener «Prozess, bei dem zum einen die Ursachen von Problemen zunehmend ausserhalb der natio­nalen Grenzen liegen und bei dem zum anderen die Verursacher dieser Probleme vermehrt gesellschaftliche Akteure sind, die transnational agieren oder deren Aktivitäten transnationale Auswirkungen haben» (ebd.). Dies gilt insbesondere für die Sicherheitspolitik, denn «am Bei­spiel der Sicherheitspolitik zeigen sich vielleicht am auffälligsten die praktischen Konsequen­zen transnationaler Politik und damit die Auflösungserscheinungen des traditionellen Territo­rialitätsprinzips und seiner Funktionen für politische Ordnung und politisches Handeln» (Behr, 2004: 106). Sicherheits risiken wie ökologische Katastrophen, Hunger- und Krankheits­epidemien oder terroristische Aktivitäten treten in zunehmenden Masse nicht nur lokal oder regional auf, sondern sind zu weltumspannenden Eventualitäten geworden, die nicht mehr nur durch nationales Regieren gemeistert werden können (Beck, 2004: 43-72; Strange, 1996: 33). Damit geht auch eine «axiomatische Verschiebung des traditionellen Sicherheitsdenkens» (Behr, 2004: 110) einher, was bedeutet, dass die Begriffe Sicherheit und Schutz nicht nur staatlich-territorial, sondern umfassender konzipiert und gedacht werden müssen. Zürn hat die «neuen» Sicherheitsrisiken und –gefahren anhand der Dimensionen Gesellschaft und Staat folgendermassen kategorisiert[viii]:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zürn, 1998: 99.

In Bezug auf das Sicherheitsrisiko «Terrorismus» lässt sich festhalten, dass seit den 1980er und besonders in den 1990er Jahren eine graduelle Verschiebung der Aktivitäten aus dem II. ins III. Segment stattgefunden hat. Die vormals von Regierungen initiierten, finanzierten und angeordneten Gewaltakte gegen spezifische Bevölkerungsgruppen und –schichten[ix] sind schrittweise jener Form des Terrorismus gewichen, bei dem Gruppen und Organisationen Per­sonen direkt aus der Zivilgesellschaft rekrutieren, um aus den verschiedensten Motiven heraus den Staat zu bekämpfen und die bestehende gesellschaftspolitische Ordnung umzustossen (Eppler, 2003: 24; Goldstone, 2002: 141-149; Hoffman, 1998: 25-30; Laqueur, 1996: 24-26). Das taktische Mittel hierzu ist die Schaffung einer Atmosphäre der Furcht und des Schreckens durch gezielt durchgeführte Gewaltakte gegen namhafte Persönlichkeiten und staatliche In­stitutionen, wobei zivile Opfer in Kauf genommen werden (Waldmann, 1998: 779).

Parallel zu dieser ersten Verschiebung der Aktivitäten ist in den 1970er, und im Verlauf der 1990er Jahre in gesteigerter Form, ein Prozess in Gang gekommen, der eine zweite wesentli­che Veränderung im Bereich des Terrorismus mit sich brachte. Gemeint ist die Tendenz zur zunehmenden «Transnationalisierung der Gewalt» (Zangl/Zürn, 2003: 182), die mit der fort­schreitenden transnationalen Vernetzung terroristischer Akteure und Gruppen in operativ-mi­litärischer und organisatorischer Hinsicht einhergeht.[x] Dieser «neue Terrorismus» (ebd.: 193) wendet vermehrt grenzüberschreitende Gewalt an, wodurch die gemeinsame Zugehörigkeit der Täter und der Opfer zu einer nationalen politischen Gemeinschaft aufgehoben wird (Hoffman, 1998: 68, 84). Diese Entkoppelung von Opfern und den «zu interessierenden Drit­ten»[xi] bewirkt, dass die letzte Beschränkung terroristischer Gewaltanwendung wegfällt (Zangl/Zürn, 2003: 188). Zudem verwischen sich die vormals klaren Grenzen zwischen Kri­minalität, Bürgerkrieg, Terrorismus und Menschenrechtsverletzungen, was für die neuen Kriege und den transnationalen Terrorismus der postnationalen Konstellation charakteristisch zu sein scheint (Kaldor, 2000: 144; 2002: 163f.; Münkler, 2003: 26). Zangl und Zürn schrei­ben hierzu:

«In den neuen Bürgerkriegen und im neuen Terrorismus schaukeln sich also Staatszerfall, Staatsterror und Straftaten gegenseitig auf. Die Aufweichung der doppelten Grenzziehung zwischen Staat und Ge­sellschaft und zwischen verschiedenen Staaten führt zu einer Gemengelage von Sicherheitsbedrohun­gen, bei der die Trennschärfe zwischen Staatsterror und Staatszerfall sowie zwischen Terrorismus und Organisierter Kriminalität verlorengeht. Im Ergebnis kommt es zu einer Transnationalisierung der Si­cherheitsbedrohungen: zu einer gleichzeitigen Denationalisierung ehemals rein nationaler Sicherheits­probleme und einer Privatisierung von grenzüberschreitenden Sicherheitsbedrohungen» (Zangl/Zürn, 2003: 193).

Wichtig ist hierbei zu sehen, dass erst die grenzüberschreitende Verknüpfung von extremis­tisch eingestellten Individuen, Gruppen und Organisationen zu einem losen transnationalen Netzwerk eine Transnationalisierung der Gewalt überhaupt erst möglich machte. Ferner redu­ziert diese Vernetzung das Risiko, als terroristische Gruppe oder Organisation entdeckt und zerschlagen zu werden, maximiert aber gleichzeitig den Terroreffekt, indem Anschläge in ver­schiedenen Ländern simultan durchgeführt werden können. Es ist diese operativ-taktische Vernetzung und Netzwerkformierung, die sich nach Auffassung Behrs (2004) als charakteristi­sches Element transnationaler Beziehungen im Allgemeinen und im Bereich des transnational operierenden Terrorismus im Speziellen herausschälen lässt: Individuelle und korporative Akteure tun sich je nach Interessenlage und Einflusspotenzial zu grenzüberschreitenden Netzwerken zusammen, die einerseits als Akteur auftretend nationale und internationale politi­sche Prozesse direkt zu beeinflussen versuchen[xii], andererseits als Organisationsprinzip flexi­bel, dynamisch und schwer lokalisierbar funktionieren.[xiii] Dieses charakteristische Merkmal terroristischer Netzwerke, nämlich die beiden Pole «handelnder Akteur» und «Organisations­prinzip» gleichzeitig besetzen zu können, macht im Übrigen auch die Netzwerkbekämpfung so schwierig (Dicken et. al., 2001: 95-97). Bevor ich detaillierter die Netzwerklogik aufzeigen werde, sollen zunächst die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen und Faktoren in Bezug auf die dargestellten Aktivitätsverschiebungen untersucht werden.

4.3. Ursachen der Gewalttransnationalisierung

Es gibt viele mögliche Einflussgrössen und Ursachen, die für die beschriebenen Verschiebun­gen der Sicherheitsrisiken seit den 1980er Jahren verantwortlich gemacht werden können. Festhalten lässt sich jedoch, dass das Ende des Ost-West-Konflikts und die dadurch hervorge­rufenen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Folgewirkungen diesbezüglich den historischen Kontext geliefert haben. Herfried Münkler (2003: 47f.) beispielsweise konsta­tiert, dass das Wegfallen des Spannungsfelds des Kalten Krieges, das während gut 40 Jahren für das Klima in der internationalen Politik verantwortlich war und taktische Entscheidungen sowie strategische Handlungen gleichermassen zu beeinflussen vermochte, ein militärisches, ideologisches und politisches Machtvakuum hinterliess, worauf viele Staaten, die während des Kalten Krieges von der einen oder anderen Partei finanziell und militärisch unterstützt worden waren, von der politischen und ökonomischen Last geradezu erdrückt wurden. Das Resultat waren fragile staatliche Gebilde wie das ehemalige Jugoslawien oder das bürgerkriegsgebeu­telte Afghanistan, die von kriminellen Banden und terroristischen Organisationen infiltriert und als «Geschäftsbasen» genutzt wurden (Takeyh/Gvosdev, 2002: 98; Napoleoni, 2004: 240).[xiv] Der Historiker Eric Hobsbawm hat den staatlichen Zerfalls- und Neuordnungsprozess nach 1989 folgendermassen beschrieben:

«Zum erstenmal seit zwei Jahrhunderten besass die Welt in den neunziger Jahren kein internationales System und keine Struktur. Die Tatsache, dass nach 1989 Dutzende von neuen Territorialstaaten auf­tauchten, die über keinerlei unabhängige Mechanismen zur Bestimmung ihrer Grenzen verfügten, spricht für sich selbst - es gab ja nicht einmal dritte Parteien, deren Unparteilichkeit soweit akzeptiert worden wäre, um als Vermittler auftreten zu können» (Hobsbawm, 2000: 688f).

Diese Struktur- und Orientierungslosigkeit auf internationaler Ebene, gepaart mit der Fokus­sierung westlicher Staaten auf die neu entstandene, post-sowjetische politische Konstellation, gab jenen nicht-staatlichen Gruppierungen, die im Spannungsfeld des Kalten Krieges politisch und militärisch aktiv waren, Chance und Zeit, sich den veränderten historischen Verhältnissen anzupassen und ideologisch, strategisch und finanziell neu auszurichten (Juergensmeyer, 2002: 37f.).[xv] Diese Phase der Neuorientierung und Neugruppierung war sprichwörtlich zu­kunftsweisend, denn es wurden die Weichen für den vernetzt arbeitenden, transnational ope­rierenden Terrorismus im Stile der al Qaida gestellt. Folgende Faktoren waren für die Wei­chenstellung ausschlaggebend.

[...]

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Al Qaida - Netz des Terrors. Entstehungs- und Funktionsweise transnationaler Terrorismus-Netzwerke
Untertitel
Anhand des Fallbeispiels al Qaida
Hochschule
Universität Zürich  (Politikwissenschaftliches Institut)
Veranstaltung
Forschungsseminar Transnationaler Beziehungen in Theorie und Praxis
Note
gut
Autor
Jahr
2005
Seiten
46
Katalognummer
V47674
ISBN (eBook)
9783638445641
ISBN (Buch)
9783638708166
Dateigröße
676 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Terrorismus-Netzwerke, Al Qaida, Terrornetz, Transnational, Terrorismus, Netzwerktheorie, Entstaatlichung, Bin Laden, Mujaheddin, Entterritorialität
Arbeit zitieren
Robert van de Pol (Autor:in), 2005, Al Qaida - Netz des Terrors. Entstehungs- und Funktionsweise transnationaler Terrorismus-Netzwerke, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47674

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