Der Wichtel im Manne oder Wie die Puppe das Fliegen lernte (Buchty a Loutkys 'Die Geschichte eines wahren Menschen')


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

18 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

I. Wer mag es erzählen...?

II. „…und dann werden wir sehen, wer das Spiel gewinnt.“[1]

III. „Flieger ohne Beine sind wie Vögel ohne Flügel.“[2]

IV. Literatur

I. Wer mag es erzählen...?

“Ich äußerte meine Verwunderung zu sehen, welcher Aufmerksamkeit er diese, für den Haufen erfundene, Spielart einer schönen Kunst würdige.“

Heinrich v. Kleist, Über das Marionettentheater[3]

„Guten Abend – that’s all.“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Mit diesen Worten begrüßt Marek Becka das lärmende Publikum und findet auf diese Weise ohne Umschweife die volle Aufmerksamkeit. Sofort schließt er an: „das ist nicht alles … i can speak in German.“ Mit einem – trotz allem verständlichen – Wirrwarr von Sprachfetzen deutscher, tschechischer und englischer Wörter führt er in das kommende Stück ein. Das sich abzeichnende Sprachgewirr stellt er selbst vor, es wird „Tschin-glish“ gesprochen werden, eine selbsternannte Mischung beider Sprachen. Besser als nichts, denn das Figurenstück selbst wird in Tschechisch aufgeführt. Auf diese Weise stehen die Figuren und deren Spiel für alle, die dieser Sprache nicht mächtig sind, weit stärker im Vordergrund, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre. Zweifelsfrei reiht sich „Die Geschichte eines Menschen“ dadurch in die Tradition des Unidram-Festivals ein, dessen Beiträge sich oft durch Nonverbalität auszeichnen. Auch wenn dies sicher nicht wirklich beabsichtigt ist, so ist doch vom ersten Augenblick zu spüren, dass es in keinem Fall ein Handicap sein wird, und die Gruppe einen solchen Umstand zum willkommenen Anlass nimmt, die Vorstellung zu erweitern. Das Spiel mit den Sprachen wird jedoch nur eines unter vielen sein – „Die Geschichte eines Menschen“ ist mehr als nur Puppentheater.

Der erste Blick auf die Bühne lässt aufmerken. Nur ein kleiner Teil ist verhüllt – ein Tarnnetz ist um die Puppenbühne herum aufgehängt, gerade groß genug, um die spielenden Puppenlenker zu verbergen (Doch selbst sie werden während des Stückes zu sehen sein, es ist also nicht ihr Anliegen, die Puppen allein unter sich zu lassen). Problemlos gelingt dem neugierigen Zuschauer ein verstohlener Blick hinter die Kulissen, man gewinnt Einsicht in die Geheimnisse der zauberhaften Welt der hölzernen und stofflichen Wesen – nichts, was es zu verbergen gibt. Seine Magie bezieht das Stück nicht aus Geheimniskrämerei. Auch die Spielenden laufen zwischen all den Requisiten im Kleinformat herum, beäugen hin und wieder die hereinströmenden Zuschauer, wirken ansonsten jedoch nicht wie die Protagonisten eines Spektakels. Sind es die Puppen, die an ihrer statt hinter dem Vorhang nervös an ihren Schnüren zerren? Die Spieler jedenfalls machen einen seltsam untheatralischen Eindruck. Fast scheint es, als wollten sie unversehens aufstehen und nebenan in die Kneipe gehen. Noch während ich mir einen Platz suche, beginne ich mich jedoch seltsam befangen zu fühlen. Die beobachtenden, doch gleichzeitig naiv leeren Blicke der Darsteller, als gehörten sie nicht hierher, wären wie die Zuschauer als Gäste hier, machen stutzig.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ohne erkennbares Zeichen entsteht das Gefühl, als laufe die Vorstellung bereits, wären die Zuschauer schon Teil eines Spiels, das sich auf weit mehr erstreckt, als nur die Spielfläche in der Größe eines Fernsehers im Zentrum des Raumes – die im Moment noch der einzige Ort ist, an dem nichts geschieht. Die unsichtbaren Fäden des Puppenlenkers leiten die Menschen zu ihren Plätzen, auch die auf der Bühne wartenden Spieler wirken selbst puppenhaft – ein Eindruck, der sich im Verlauf des Stückes noch als bedeutsam herausstellen wird. Sie tragen Kleidung, die wie Kostüme anmutet (Lederkluften, Militärkombis: das Stück spielt im zweiten Weltkrieg) – es scheint, als liefe das Stück bereits. Sitzen gar die Puppen hinter dem bemalten Pappvorhang und sehen zu? Wer spielt hier für wen und wer mit wem?

Dieser hier als Stimmung beschriebene Vorgang lässt sich sehr gut durch den von Hans-Thies Lehmann eingeführten Ansatz der postdramatischen Zeitästhetik erklären, der die klassische Vorstellung einer Theateraufführung hinter sich lässt. Die bewusste Thematisierung oder Einbindung der „Zeit des Performance Texts“[4] in die Aufführung ist ein Stilmittel des postdramatischen Theaters. Indem unklar ist, wann das Spiel eigentlich beginnt – auch wenn sich der Vorhang der Puppenbühne als explizites Startsignal noch hebt, hat die Interaktion zwischen Publikum und Darstellern längst begonnen –, verschwimmen die Grenzen zwischen Aufführung und Realität. Weil man anfangs noch vermuten kann, es handele sich um vorweg geschickte Ankündigungen, glaubt man das Spiel erst jenseits der bemalten Pappwand (siehe Bild 1). Doch spätestens als sich zwischen dem bemühten Ansager und einem sprachkundigen Zuschauer ein Gespräch entspinnt, entwickelt sich eine Grauzone gespannter Aufmerksamkeit, die alle Klarheiten beseitigt. Gehört der muntere Zuschauer zur Truppe der Darsteller oder spricht er rein zufällig tschechisch?

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Doch nicht nur der Zeitrahmen der Performance verändert sich durch dieses Gespräch. Indem ganz unmerklich (oder auch deutlich?) die Zuschauer in die Vorausläufer des Stücks einbezogen wird, vergrößert sich auch der räumliche Rahmen. Spätestens als Marek Becka zur besseren Verständigung auf einen im Publikum sitzenden Dolmetscher verweist, wird der ganze Raum zur Bühne – einem von mehreren Spielräumen. Einerseits verweist bereits der kleinere, auf der eigentlichen Bühne abgesteckte Spielbereich (Bühne auf der Bühne) auf den stets zwischen Publikum und Darstellern vereinbarten fik-tionalen Charakter einer Aufführung – und macht ihn somit transparent (,ohne auf ihn zu verzich-ten). Andererseits ent-wickelt sich durch das beginnende Gespräch zwischen Darstellern und Zuschauern, das seinen Charakter als reinen Informationsaustausch schnell verliert, ein auch während des Puppenspiels stets präsenter, zweiter theatralischer Raum, der wesentlich durch die physikalische Präsenz der Schauspieler lebt. Dass dies nicht rein zufällig geschieht, wird durch weitere stilistische Elemente, wie etwa die offene (oder halboffene) Spielweise, einige durch die Schauspieler in Lebensgröße dargestellte Passagen und eine kreative, stark improvisierte Selbstdarstellung (auch während der Pause) deutlich, die im weiteren noch Gegenstand der Untersuchung sein werden.

[...]


[1], Buchty a Loutky, Die Geschichte eines Menschen, Programmheft

[2] Prokofjew, Sergej, Ein wahrer Mensch, Reclam: Leipzig, 1964, S. 45

[3] Von Kleist, Heinrich, Über das Marionettentheater, In: Ders., Das Erdbeben von Chili.u.a., Reclam: Stuttgart, 1967, S. 56-65, hier: S. 58

[4] Lehmann, Hans-Thies, Postdramatisches Theater, Verlag der Autoren: Ffm., 1999, S. 316

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Der Wichtel im Manne oder Wie die Puppe das Fliegen lernte (Buchty a Loutkys 'Die Geschichte eines wahren Menschen')
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut Medienwissenschaften)
Veranstaltung
UNIDRAM Festival Potsdam
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
18
Katalognummer
V47792
ISBN (eBook)
9783638446594
ISBN (Buch)
9783656449140
Dateigröße
1359 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wichtel, Manne, Puppe, Fliegen, Loutkys, Geschichte, Menschen, UNIDRAM, Festival, Potsdam
Arbeit zitieren
Matthias Zimmermann (Autor:in), 2003, Der Wichtel im Manne oder Wie die Puppe das Fliegen lernte (Buchty a Loutkys 'Die Geschichte eines wahren Menschen'), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/47792

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