Chroniken des Scheiterns. Implizite und explizite Modelle von Zeitlichkeit in Michelangelo Antonionis "L'eclisse"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

22 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Piero: Triumphator des Ökonomischen
2.1.1 Gérard Genette: Summary
2.1.2 Paul Ricœur: Ökonomische Zeiterfahrung
2.1.3 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild und seine Parodie
2.2 Vittoria: Existentialistischer Flaneur
2.2.1 Gérard Genette: Deskriptive Pause
2.2.2 Paul Ricœur: Existentialistische Zeiterfahrung
2.2.3 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild
2.3 Konzepte des Liebens

3. Schluss

1. Einleitung

Michelangelo Antonioni ist der bildende Künstler unter den bedeutenden italienischen Regisseuren des 20. Jahrhunderts. Auf die exquisite Artifizialität seiner Filmbilder ist stets ausgiebig hingewiesen worden. Günter Rohrbach konstatierte 1962 diesbezüglich einen Höhepunkt mit dem damals neuesten (gerade in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichneten) Werk „L’eclisse“:

Man sieht heute bei keinem Filmregisseur Bilder von noblerer Schönheit als bei Antonioni. Aber in der Perfektion des optischen Arrangements liegt eine Gefahr. Die Bilder Di Venanzos [Kameramann] sind von so ausgesuchter Apartheit, daß die Grenze zum Verstiegenen und Manierierten allzuleicht überschritten wird. Vieles bei Antonioni entzieht sich der Befragung auf seine direkte Sinnfälligkeit, hier noch mehr als bei anderen Filmen. [...] Dennoch fragt man sich in diesem Film gelegentlich (in den anderen stellt sich ein solcher Verdacht nicht ein), ob für einige Einstellungen nicht eher pures artifizielles Vergnügen als Bemühung um stilistische Geschlossenheit maßgeblich war. [...] Wenn ein Künstler von so eminenter Geschmackssicherheit gelegentlich ins Kunsthandwerkliche entgleist, mag daran nicht zuletzt der Umstand schuld sein, daß sich das gleiche Thema nicht beliebig oft variieren läßt.[1]

Rohrbach steht mit seinen Vorbehalten gegenüber Antonionis Bildsprache, gerade was „L’eclisse“ betrifft, nicht alleine. Nicht nur die zeitgenössische Kritik, auch die aktuelle Forschung wird nicht müde, auf den hohen Anspruch an Artifizialität hinzuweisen, der Antonionis Arbeit am Bild leitet.[2] Beiden Parteien kann natürlich nur schwerlich widersprochen werden: Antonionis Arbeiten (und „L’eclisse“ ganz besonders) strotzen nur so von Motiven und filmischen Verfahrensweisen, die auf veränderte und bewusstere Sehpraktiken verweisen: Eine inflationäre Präsenz von Fenstern, Gittern, Rahmen, Spiegeln und Bildern ist an dieser Stelle ebenso zu bemerken wie unzählige den ‚Regeln‘ der découpage classique widersprechende Montagetechniken und die Verachtung des vom Hollywood-Kino aufgestellten Dogmas narrativer Ökonomie.[3] Beide Tatsachen thematisieren auf ihre je eigene Weise das Sehen selbst und verweigern dem Rezipienten so die Akzeptanz des Bildraums als kohärente Parallelwelt.

Dennoch darf nicht aus den Augen verloren werden, dass in den Filmen bestimmte psychische und soziokulturelle Diskurse ausgetragen werden, auch wenn diese (wie Rohrbach bemäkelt) innerhalb der ‚Tetralogie‘ (‚L’avventura‘, ‚La notte‘, ‚L’eclisse‘, ‚Il deserto rosso‘) zu stagnieren scheinen. Wie auch immer: Ausgehend von der (nicht allzu kühnen) Vermutung, dass es Antonioni nicht nur um formale Aspekte des Filmbildes als künstlerisches Experimentierfeld geht sondern in mindestens ebenso hohem Maße um die Problematisierung diskursiver Realitäten, soll die folgende Arbeit von beidem handeln.

Dabei konzentriere ich mich auf einen Gesichtspunkt, der mir in zweierlei Hinsicht interessant zu sein scheint: der formalästhetische Umgang mit der Kategorie des Zeitlichen. Dieser Fragestellung soll anhand der beiden Protagonisten Piero (2.1) und Vittoria (2.2) nachgegangen werden. Mithilfe einiger erzähl- und filmtheoretischer Modelle (Genétte, Ricœur, Deleuze) soll für jeden der drei Themenkomplexe zunächst versucht werden, verschiedene Szenen unter der Fragestellung zu analysieren, wie in ihnen Zeit als narrative Grundgröße konzipiert wird. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Vermutung, dass den Protagonisten unterschiedliche Bildräume und damit unterschiedliche Figurationen von Zeitlichkeit zugewiesen werden. Hierbei gilt es zu fragen, welche visuell vermittelten Zeitkonzepte Piero und Vittoria zugewiesen werden, ohne dass man zunächst auf ‚konventionelle Bedeutungen des Dialogs, der Charaktere oder der ‚story‘‘[4] eingehen müsste.

In einem zweiten Schritt (3.) soll dann nur andeutungsweise untersucht werden, ob und wie unterschiedliche Modelle von Zeitlichkeit und die damit zusammenhängenden unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen von Welt den Protagonisten diskursiv zugeschrieben werden und ihre Sprache, ihr Denken und ihr Handeln in individueller wie in zwischenmenschlicher Hinsicht bestimmen. An dieser Stelle gilt es vor allem darauf zu achten, wie sich Piero und Vittoria (explizit oder implizit) zum Thema ‚Zeit‘ äußern und welchen Einfluss die so verkörperten Konzepte auf ihre Liebesbeziehung nehmen.

Die Arbeit stellt also eine formale Analyse der Antonionischen Bilderwelt in den Vordergrund, um von dort aus danach zu fragen,

- welche versteckten Diskurse mit einer solchen bildsprachlichen Analyse aufgedeckt werden können.
- ob und inwieweit formale Experimentierfreudigkeit stets im Dienst eines zu beschreibenden Diskurses steht[5] bzw.
- ob eine Unterscheidung zwischen diskursivem Inhalt und bildsprachlichem Kommentar überhaupt aufrechtzuerhalten ist oder ob das Beharren der Rezeption auf der Analyse formaler Aspekte nicht vielmehr darauf gründet, dass nur durch sie ein Zugang zu ‚konventionellen Bedeutungen‘.

2. Hauptteil

„L’eclisse“[6] erzählt die Geschichte scheiternder Emotionalität, die Geschichte ‚verfinsterter‘, stillgelegter Gefühle. Antonioni hat die Verbindung zwischen Titel und Thema früh in einer Anekdote überliefert:

A Firenze per vedere e girare l’eclisse di sole. Gelo improvviso. Silenzio diverso da tutti gli altri silenzi. Luce terrea, diversa da tutte le altre luci. E poi buio. Immobilità totale. Tutto quello che riesco a pensare è che durante l’eclisse probabilmente si fermano anche i sentimenti. È un’idea che ha vagamente a che fare con il film che sto preparando, una sensazione più che un’idea, ma che definisce già il film quando ancora il film è ben lontano dall’essere definito.[7]

Die folgende Arbeit will dieses Scheitern (als ‚Verdunklung‘) näher klassifizieren, indem sie die Protagonisten Piero und Vittoria auf ihre jeweils individuellen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Konzeptionen von Zeitlichkeit befragt, um daran anschließend ihren zwischenmenschlichen Konflikt als Inkompatibilität zweier Zeit-Modelle zu beschreiben. Dies mag zunächst mechanisch anmuten. Sehr schnell wird sich jedoch erweisen, dass ‚Zeit‘ als basale physikalische Größe kaum isoliert untersucht werden kann und dass deshalb eine diesbezügliche Analyse auf viele weitere Problemfelder verweist.

Ziel der Analyse ist also keine kohärente Interpretation, die auf viele Aspekte gleichermaßen eingehen könnte. Die Arbeit wirft vielmehr Schlaglichter und ist als zweifache Annäherung an die im Film artikulierten Konzeptionen von Zeit zu verstehen: Der Hauptteil bildet den Versuch, anhand ausgewählter Szenen unterschiedliche Bildästhetiken und die durch sie implizit formulierten Zeitmodelle zu beschreiben. Davon ausgehend sollen die Charaktere auf ihre psychischen Strukturen und die damit verbundenen Zeitmodelle befragt werden, wie sie sich dem Zuschauer explizit durch Reden und Handeln darstellen.

2.1 Piero – Sklave der Ökonomie

Der Raum, mit dem Piero von Beginn an versehen wird und dessen Gesetze er scheinbar mühe- und bewusstlos anerkannt hat, ist sein Arbeitsplatz: die römische Börse. Am authentischen Schauplatz der Piazza di Pietra in der historischen Altstadt Roms gedreht, ist es nicht nur das Börsengebäude selbst sondern in ebenso hohem Maß die laute, hektische und überfüllte Innenstadt, welche Piero (und im übrigen auch Vittorias Mutter) als Lebensraum zugewiesen werden. Wie aber, um der Fragestellung zu folgen, wird nun Zeitlichkeit in diesem Milieu inszeniert? Welche Bildsprache korreliert mit dem Raum ‚Börse‘? Welche Diskurse werden in ihm angesiedelt?

Exemplarisch soll eine Szene genauer analysiert werden, weil sie mir repräsentativ sowohl für die Darstellung des Handlungsfeldes ‚Wirtschaft‘ als auch für die Denk- und Wahrnehmungsmuster Pieros zu sein scheint. Es handelt sich um eine Reihe von Einstellungen der ersten längeren Sequenz in der Börse, die im folgenden kurz paraphrasiert werden sollen:

Nachdem zunächst Vittoria auf der Suche nach ihrer Mutter gezeigt wurde, die als Besitzerin eines Börsenausweises direkt Aufträge an ihren Makler erteilen kann[8], wird eine narrative Einheit eingeschoben, die als typische Situation des von Piero erlebten Börsenalltags verstanden werden kann. Sie beginnt damit, dass Piero – hinter einer Säule stehend – ein Gespräch zwischen einem älteren Mann und dessen Agenten belauscht: „Ich bin überzeugt, dass die Finsider steigen werden. Kaufen Sie mir sofort 50000 Stück! Los, beeilen Sie sich!“[9] Noch während dieser Sätze stürmt Piero aus dem Bild zum Börsenparkett, um nach einigen Minuten wieder zurückzueilen und seinem Kollegen Ercoli euphorisch mitzuteilen: „Ich habe eine Million verdient!“ Beide Aussagen begrenzen eine für Pieros Beruf charakteristische narrative Einheit, die das geschickte Kaufen und Verkaufen von Wertpapieren beinhaltet. Die Szene ist durchgehend in unerhörter Bewegung. Alle Agenten versuchen wild gestikulierend, den amtlichen Kursmaklern, die die Kaufaufträge entgegennehmen, entsprechende Anweisungen zuzurufen und die Vorteile der bevorstehenden Kapitalerhöhung zu ihren Gunsten auszunutzen. Wie aber wird diese Handlungseinheit inszeniert? Genauer: Welche Zeiterfahrung ist ihr immanent?

2.1.1 Gérard Genette: Summary

Die Filmtheorie tut sich mit einer fundamentalen Theorie des Zeitlichen als narratologische Kategorie bisher nach wie vor schwer. Zunächst will ich deshalb versuchen, mich der Problematik mithilfe grundlegender Modelle der traditionellen Literaturtheorie zu nähern. Eine systematische Funktions- und Strukturanalyse des Narrativen mit besonderem Augenmerk auf die Kategorie der Zeit stammt von Gérard Genette. Hinsichtlich letzterem unterscheidet er (im Anschluss an Günter Müller und Franz K. Stanzel) zwischen der ‚Dauer der Geschichte‘ (der ‚erzählten Zeit‘) und der ‚Dauer der Erzählung‘ (der ‚Erzählzeit‘).[10] In der literarischen Narratologie[11] muss die Erzählzeit zumeist behelfsmäßig mit Seitenangaben (z.B. eines Romans) beschrieben werden, da zeitliche Angaben von der individuellen Lesegeschwindigkeit des Rezipienten abhängen. Für eine Filmanalyse stellt sich dieses Problem naturgemäß nicht.

[...]


[1] Rohrbach, 532f

[2] Vgl. z.B. Kock, 155

[3] Vgl. z.B. Kersting, 270ff

[4] Vgl. Brunette, 79, der die beiden Bedeutungsebenen für ‚L’eclisse‘ folgendermaßen unterscheidet: „It may simply be better to see these images as creating a nonspecific emotional field that accompanies more specifically thematic levels suggested through the conventional meanings of dialogue, character, and story.“

[5] Chatmans Urteil gilt es zu prüfen: „But it is not really true, on any fair viewing, that his [Antonionis] introjection of visual design considerations weakens plot, character and theme.“ (Chatman, 115)

[6] Der deutsche Verleihtitel „Liebe 1962“ ist irreführend und mehr als peinlich. ‚Eclisse‘ (it.) bzw. ‚eclipse‘ (frz.) bedeutet ‚Finsternis‘, meist im astronomischen Kontext gebraucht: ‚eclisse di sole (luna)‘ – ‚Sonnen- (Mond-)finsternis‘

[7] Zitiert nach Bernardini, 193f: ‚In Florenz, um die Sonnenfinsternis zu sehen und zu filmen. Plötzliche Eiseskälte. Eine Stille, die sich von allen anderen unterscheidet. Fahles Licht, das sich von allen anderen unterscheidet. Und dann Dunkelheit. Völlige Unbeweglichkeit. Alles, was ich denken kann, ist: dass während der Finsternis wahrscheinlich auch die Gefühle aufhören. Dies ist eine Idee, die vage etwas mit dem Film zu tun hat, an dem ich gerade arbeite; vielmehr als eine Idee ist es ein Gefühl, das den Film aber schon zu einem Zeitpunkt definiert, an dem er noch weit davon entfernt ist, definiert zu sein.‘

[8] Zur hierarchischen Aufteilung des Raumes durch ein System verschiedener Barrieren vgl. die entsprechenden Erläuterungen im Drehbuch: Antonioni (u.a.), 16

[9] Sofern nicht anders gekennzeichnet, beruhen die Filmzitate auf eigener Video-Sichtung.

[10] Genettes Narratologie des Zeitlichen ist sehr viel komplexer und vollständiger. Ich verkürze sie hier auf den einzigen mir relevant erscheinenden Aspekt.

[11] Genette erläutert die Grundbegriffe seiner Narratologie an einem einzigen Beispiel: an Prousts „À la recherche du temps perdu“.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Chroniken des Scheiterns. Implizite und explizite Modelle von Zeitlichkeit in Michelangelo Antonionis "L'eclisse"
Hochschule
Universität Konstanz  (FB Literaturwissenschaft, Fachgruppe Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Antonioni - Fellini - Pasolini
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V48425
ISBN (eBook)
9783638451420
Dateigröße
812 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Filmanalyse von Michelangelo Antonionis "L'eclisse" (dt.: "Liebe 1962") unter besonderer Berücksichtigung der filmischen Modellierung von Zeitlichkeit. Zuhilfenahme narratologischer (Genette, Ricoeur) und philosophischer (Deleuze) Konzepte.
Schlagworte
Chroniken, Scheiterns, Implizite, Modelle, Zeitlichkeit, Michelangelo, Antonionis, Antonioni, Fellini, Pasolini
Arbeit zitieren
Mirko Mandic (Autor:in), 2004, Chroniken des Scheiterns. Implizite und explizite Modelle von Zeitlichkeit in Michelangelo Antonionis "L'eclisse", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48425

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