Christa Wolfs Kassandra: Kann ein Mythos nicht realer sein?


Seminararbeit, 2004

16 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Eine Frau zwischen Matriarchat und Patriarchat
2.2 Figurenkonstellationen und Charakteristika in Kassandra
2.3 Kassandras Ablehnung der patriarchalen Gesellschaft und Stellungnahme gegenüber ihrer Situation

3. Sprache und Subjektbeschaffenheit in der Erzählung

4. Das Gesellschaftsleben in der Gegenwelt am Idaberg sowie

der Vergleich des patriarchalem Systems mit dem des DDR- Regimes

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der vorliegenden Hausarbeit soll Christa Wolfs Erzählung Kassandra bezüglich ihres phantastischen Gehalts, der von der ursprünglichen klassischen Ilias abweicht, untersucht und analysiert werden. Die Autorin Christa Wolf statuiert ein prägendes Bildnis in der deutschen Literaturgeschichte, indem sie einen neuen literarischen Stil kreiert. In dem ursprünglichen Mythos nimmt die Königstochter des Trojanischen Königs Priamos eine Nebenrolle im Hinblick auf den Gesamthergang ein. Wo die Seherin in ihr nur erwähnt wird und ein Schattendasein fristet, spiegelt sie in der Erzählung Kassandra die Hauptakteurin wieder. Bei Christa Wolf blickt Kassandra im Angesicht des Todes auf ihr eigenes Leben zurück und berichtet in einem schier endlosen Monolog über die Ereignisse des Trojanischen Kriegs. Einen Schwerpunkt werden hierbei die Funktion der Sprache und deren Bedeutung hinsichtlich der Subjektbeschaffenheit ausfüllen. Die Protagonistin Kassandra steht am Beginn des Ausbaus eine neuen gesellschaftlichen Systems – dem Patriarchat. Kassandra, die Tochter des Königs Priamos, geht an die Unvereinbarkeit zwischen ihrer Sehnsucht nach einer erfüllten Liebe und den Vorgaben des von Männern dominierten Systems, die einer Frau nur eine beengte Existenz und kein Mitspracherecht erlauben, zugrunde. Die Sprache stellt für sie dabei ein Mittel dar, um sich selbst zu finden bzw. zu reflektieren. Antike Urbilder in der Menschheitsgeschichte verkörpern Mythos und Mythen wie kaum ein anderes Bildnis in der Wahrnehmung der Gesellschaft. Des weiteren soll in der Hausarbeit ein Vergleich zwischen dem Ilias-Mythos und dem aktuellem Zeitgeschehen gezogen werden. Es bleibt jedoch auch der geschichtliche Hintergrund der DDR nicht unbeleuchtet, sondern wird im Bezug auf die politischen Verhältnisse skizziert. Doch nicht nur die Bedrängnisse und quälenden Fragen zur Zeitgeschichte sind Anlass zur Umdeutung der ursprünglichen Ilias-Fassung, auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft wird zeitlos und detailreich unter Bezugname einzelner Personenbeschreibungen weiblich (z.B. Hekabe, Kassandra, Polyxena) wie männlich (Aineias, Anchises, Achill usw.) dargestellt. Die Autorin setzt dabei den romantischen Kontext mit ein – Mann und Frau im romantischen Diskurs. Sie inszeniert mit ihrem Werk eine Anti-Ilias. Christa Wolf geht hierbei auf die Beziehung zwischen Mann und Frau und der Stellung derer in der Gesellschaft ein. Für sie sind Männer schwache Wesen. Die Figuren der Ilias beschreiben aber auch in ihren Charaktereigenschaften menschliche Empfindungen im Bezug auf Krieg, Terror, Sex, Liebe, Wahn, Gewalt und Angst. Dabei werden positive, aber auch negative Empfindungen verdeutlicht. Christa Wolf verbindet mit Kassandra eine Gegenwartsbeschreibung. 3000 Jahre zwischen dem ursprünglichem Mythos und der heutigen Zeit schwinden, durch die Reflexion auf die aktuelle und in der Gesellschaft bislang verbliebene Situation der Frau. Patriarchale Denkstrukturen des Mannes und die Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft werden verdeutlicht. Sie identifiziert sich mit der Hauptfigur, was sich in einem parallelen Lesen wiederspiegelt. Die gesellschaftliche Darstellung des Mannes und der Frau zeigen deutliche Unterschiede im Denken, Handeln und Fühlen. Eines bleibt dabei jedoch zu erkennen, dass jedes Individuum maskuline, als auch feminine Anteile in sich trägt. Anlass für die 1983 in beiden Teilen Deutschlands erschienene Erzählung Kassandra gab der Eindruck einer Griechenlandsreise der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf. Das Studium antiker Texte und die Begegnung mit einer Kultur, die der Frau eine traditionell untergeordnete Rolle/Stellung zuweist, inspirierte sie, auf aktuelle Geschehnisse, Frauenrechte bzw. Bewegung einzugehen. Viele Autoren setzten sich mit dem Thema der Mythen auseinander, um den Urmythos zu entzaubern und ihm eine neue Form zu verleihen. So auch Christa Wolf, die im engen Kontakt mit Franz Fühmann stand. Doch nicht allein den geschichtlichen Bezug zur neuen Zeit verbindet Christa Wolf in der Kassandra, sondern sie spiegelt auch die Beziehungen zwischen Mann und Frau bzw. zwischen Frau und Gesellschaft wieder. Dies macht in der Ummantelung der literarischen Ausdrucksweise die Vielseitigkeit des Buches aus, sodass der Leser das Gefühl der Geschichte in der Geschichte erhält und doch die Frage stellt: Kann ein Mythos nicht realer sein?

2. Hauptteil

2.1 Eine Frau zwischen Matriarchat und Patriarchat

Im Folgenden soll kurz auf die Entwicklung und Folgen der Denkstrukturen eingegangen werden, die in damaliger Zeit vorherrschten. Hierbei wird speziell die Rolle der Frau und ihre politische Handlungsfähigkeit beleuchtet. Die Protagonistin Kassandra lebt zwischen den Gesellschaftsformen des Matriarchats und Patriarchats. Der ursprüngliche Mythos, bei dem weibliche Erd- und Muttergottheiten im Zentrum standen, vermittelte in seinem Nebeneinander unterschiedlichster Mythen einen Denkzustand, der sich allen Regeln der Vernunft entzog. Mit der Niederschrift dieser Mythen begann ein Prozess der Verdrängung der weiblichen Gottheiten durch einen immer stärker präsent werdenden Gott-Vater. In Folge dessen wurde die Polymythie von der Monomythie ersetzt. Die Hervorhebung von nüchternem logischem Denken führte zu einer dualistischen Denkweise in Gegensätzen, deren erste Opposition Mann - Frau war und der fast alle weiteren Oppositionen untergeordnet werden konnten. Die Separation vom wahrnehmenden Subjekt und zu erkennendem Objekt hatte die Nützlichkeit des Objekts zum Ziel - meist im Namen der Entwicklung - . Daraus folgt eine Erhebung des Nutzens zum alleinigen Maßstab, wozu alles absehbar bzw. quantifizierbar werden musste. Der Preis ist ein Verlust all jener Qualitäten, die sich nicht messen, zählen und berechnen ließen. Im Kommenden soll eine kurze Darstellung der Figuren gegeben werden, die sich den Konventionen einer patriarchalen Gesellschaftsordnung unterworfen hatten und mit ihren Ansichten und Verhaltungsweisen entweder das patriarchale Prinzip repräsentierten oder zur dessen Unterstützung beigetragen haben.

2.2 Figurenkonstellationen und Charakteristika

Eumelos, der Aufsteiger in der trojanischen Gesellschaft, verkörpert mit seiner Emotionslosigkeit den Machttyp der neuen Zeit. Er stellt in Kassandra die personifizierte Zweckrationalität dar und opfert mit seinem berechnenden Verstand für sein Machtstreben alles und jeden. Eumelos verfügt dabei über keinerlei humanitäre Wertvorstellungen. Seine Gefühllosigkeit und die Überzeugung, dass der Zweck jedes Mittel heilige, ermöglichen dieser gesichtslosen Figur eine grenzenlose Anpassungsfähigkeit: „Der überlebte nämlich [...]. Wohin wir immer kämen, dieser war schon da.“ 1 Die Unfähigkeit des Trojanischen Königs Priamos, politische Zusammenhänge zu erfassen, macht ihn zwar „nicht zum idealen König, doch war er der Mann der idealen Königin“ 2 - Hekabe. Unter dem Einfluss von Eumelos wird er Hekabe und ihren (politischen) Ratschlägen gegenüber immer unzugänglicher, für andere jedoch immer manipulierbarer. Priamos wird so zur Marionette Eumelos, da ihm der politische Überblick und die menschliche Stärke fehlen, Eumelos zu durchschauen. Dieser benutzt Priamos, um seine eigene Machtposition zu stärken und seine Interessen durchzusetzen. Hekabe zeichnet sich durch einen klaren Verstand und große Menschenkenntnis aus. Sie ist eine kluge und rational denkende Königin, aber auch eine verständnisvolle Mutter für ihre Kinder. Gegen die fortschreitende Beschneidung ihrer Macht und Möglichkeit, auf die Poltik in Troja Einfluss zu nehmen, wehrt sie sich nicht. Sie kann die stattfindende Entwicklung auch nicht in ihrer vollen Bedeutung erfassen, weil ihre patriarchalen Denkformen fremd sind. Polyxena, die schöne Schwester Kassandras, leidet ebenso wie diese selbst an der Unvereinbarkeit ihrer Gefühle: Die Treue und Liebe zu Troja und den Ihren stehen dem Wissen, um die Schuld des Königshofes am Krieg entgegen. Der Kriegsapparat, der sie auf ein Sexualobjekt reduziert, das „benutzt“ 3, als ,,Lockvogel verwendet“ 4, ist verantwortlich für die Freude am eigenen Leiden Polyxenas. Dieser Selbstzerstörungstrieb erreicht seinen Höhepunkt, als sie sich öffentlich Achill anbietet - Achill, der Inbegriff aller kriegerischen Destruktivität! Der Priester Panthoos kennt nur einen Grund für jede Handlung oder ihre Unterlassung: ,,Eigenliebe“ 5. Er wird von seinem Narzissmus so dominiert und sein Eigennutz als Überlebensstrategie hat zur Folge, dass er die Instrumentalisierung der appollinischen Religion zur Sicherung des männlichen Vernichtungsapparates zulässt. „Er, der Grieche, bangte nicht um Troia, nur um sein Leben.“ 6 Obgleich er um den unvermeidlichen Untergang Trojas weiß, nimmt er die Vernichtung und Versklavung der trojanischen Bevölkerung bewusst in Kauf. Später führt sein qualvoller Tod die Absurdität seines Verhaltens vor Augen - seine Legitimierung des trojanischen Machtapparats, der sich unweigerlich gegen ihn, den Griechen richten muss. Diese Überlebensstrategie Eigennutz versagt. Achill ,,das Vieh“ 7 ist der Kriegsheld der Griechen. Ihn charakterisieren seine ungeheure Brutalität, die Ignoranz aller moralischen Regeln und Gesetze gegenüber sowie seine pervertierte Sexualität. So schändet und vergewaltigt er beispielsweise den toten Körper Penthesileas. Für ihn ist es des Weiteren purer Lustgewinn, Menschen, die ihm als Opfer ausgeliefert sind, leiden und sterben zu sehen. Achills krankhafte panische Sorge um das, was andere in ihn sehen könnten, offenbart seine tiefe Unsicherheit und Schwäche. In dieser Figur manifestiert sich die äußerste Form der Selbstentfremdung, die in menschlicher Unzulänglichkeit, Inhumanität und emotionaler Verkümmerung ihren Ausdruck findet. Agamemnon, der Griechenkönig, erinnert in entschärfter Form an Achill. Beherrscht von seiner Angst, leidet er wegen seiner Impotenz an Minderwertigkeitskomplexen. Das stellt das Grundfundamen seiner ,,ausgesuchten Grausamkeit“ 8 dar, die schließlich nichts weiter ist, als auf andere projizierter Selbsthass. Alle Figuren in der behandelten Erzählung von Christa Wolf weisen psychische Deformierungen auf, die sich, wie gezeigt, auf ihren patriarchalen Lebenszusammenhang und den damit verbundenen dualistischen Denkstrukturen und Wertigkeiten, welche die Figuren zumindest partiell verinnerlicht haben, zurückführen lassen. Ein Denken in Gegensätzen und Subjekt-Objekt-Strukturen führt zu (Selbst-) Entfremdung und innere Zerrissenheit. In beiden Erzählungen wird eine Denkweise propagiert, die auf Vereinigung des Getrennten abzielt und die Körperlichkeit wieder in ihre Rechte setzt. Es geht nicht darum, neue Wertigkeiten zwischen Geist und Körper, Verstand und Gefühl/Sinne zu schaffen, welche die körperliche Ebene bevorzugen - dies hätte ja das gleiche Muster zur Folge -, sondern vielmehr um eine Aufhebung solcher Wertungen und damit ein gleichberechtigtes Nebeneinander und vor allem Zusammenspiel dieser Pole. Die reine, unreflektierte Sinnlichkeit wirkt ebenso zerstörerisch wie die reine, abstrahierende Rationalität. Im Folgenden werden dafür Beispiele aufgeführt.1. Die entfesselten, ekstatischen Frauen töten in ihrer Trauer um Penthesilea den Apollopriester Panthoos, der mit dem Vorfall zunächst nichts zu tun hatte: ,,Ein Zug zu keinem Ort, den es auf Erden gibt: dem Wahnsinn zu. [...] Menschenunähnlich, wie die Leiche war, wurden ihre Begleiterinnen.“ 9 2. Der Verstand ist Voraussetzung für Humanität. Positiv wird dies in der Abschaffung des Knabenopfers ausgedrückt. 10 3. Die Folgen, die eine Überbetonung des rationalen, abstrahierenden Denkens mit sich bringt, wurden in dieser Arbeit bereits aufgezeigt. Darüber hinaus wird das Knabenopfer an dieser Stelle in dem Tod von Kassandras Bruder Troilos in veränderter Form wieder eingeführt. 11 Die Figuren drücken ihre Hoffnung aus, welche das, ,,[...] was wir versäumt, nachholen würden, was wir falsch gemacht, verbessern.“ 12 Diese Sätze lassen sich eindeutig auf die Gegenwart des Rezipienten beziehen und verweisen damit über das Werk hinaus - eine Aufforderung, die eigene Realität kritisch zu durchleuchten.

[...]


1 Wolf, Christa: Kassandra. Erzählung. 5. Auflage München 1997, S. 142

2 Wolf, Christa: Kassandra. Erzählung. 5. Auflage München 1997, S. 16

3 ebda., S. 132

4 ebda., S. 131

5 ebda., S. 14

6 ebda., S. 26

7 ebda., S. 78

8 Wolf, Christa: Kassandra. Erzählung. 5. Auflage München 1997, S. 12

9 ebda., S. 126

10 ebda., Vgl.: S. 38

11 ebda., Vgl.: S. 78 f

12 ebda., S. 138

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Christa Wolfs Kassandra: Kann ein Mythos nicht realer sein?
Hochschule
Universität Erfurt
Note
1,6
Autor
Jahr
2004
Seiten
16
Katalognummer
V48688
ISBN (eBook)
9783638453165
ISBN (Buch)
9783638764315
Dateigröße
524 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Christa, Wolfs, Kassandra, Kann, Mythos
Arbeit zitieren
B.A. Daniela Künzel (Autor:in), 2004, Christa Wolfs Kassandra: Kann ein Mythos nicht realer sein?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48688

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