Genuswechsel im Französischen


Seminararbeit, 2005

20 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1. Natürliches und grammatisches Geschlecht

2. Die Kategorien des Genuswechsels im Französischen

3. Genuswechsel vor dem 16. Jahrhundert
3.1. Entwicklungen im Vulgärlatein als Voraussetzung für den Genuswechsel
3.2. Das lateinische Neutrum im Französischen
3.3. Genuswechsel lateinischer Maskulina im Französischen
3.4. Genuswechsel lateinischer Feminina im Französischen

4. Genuswechsel ab dem 16. Jahrhundert
4.1. Das 16. Jahrhundert
4.2. Entwicklungen ab dem 17. Jahrhundert

5. Soziolinguistische Genusvariation

Bibliographie

1. Natürliches und grammatisches Geschlecht

Vor Beginn der Ausführungen über den Genuswechsel im Französischen erscheint es sinnvoll, die beiden Termini des natürlichen Geschlechts, le sexe, und des grammatischen Geschlechts, le genre, zu definieren. Beim natürlichen Geschlecht handelt es sich um die Kategorisierung von Inhalten der realen Welt nach ihrem tatsächlichen, natürlichen Geschlecht (lateinisch sexus). Das grammatische Geschlecht (lateinisch genus) stellt dagegen ein rein grammatikalisches Phänomen dar, das zur Klassifikation aller Substantive dient. Beim Blick auf die Entwicklung des Konzeptes des Genus stellt man fest, dass man in frühindogermanischen Sprachen scheinbar zwischen zwei Genera unterschied: eines für Lebewesen und eines für Dinge[1]. Im Lateinischen finden sich neben dem Neutrum, das nunmehr die Dinge bezeichnet, zwei weitere Genera, das Maskulinum und das Femininum, welche männliche und weibliche Lebewesen, sowie Dinge bezeichnen, die auf symbolische Art und Weise als solche angesehen werden. Das Französische kennt mit dem Maskulinum und dem Femininum nur noch zwei Genera. Dabei besteht für die Lebewesen, und hierbei vor allem für Begriffe, die den Menschen bezeichnen, eine bedeutungsvolle Beziehung zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht. Anders gesagt: das Genus scheint in der Natur begründet zu sein[2]. Genus und Numerus werden heute im Französischen durch Determinanten angegeben. So ist zu erkennen, dass es sich bei dem maskulinen Substantiv le locataire um einen Mann handelt, während la locataire nur ein weiblicher Mensch sein kann. In Einzelfällen wird diese Beziehung zwischen genre und sexe jedoch gestört, etwa bei den militärischen Begriffen la recrue, la vigie oder la sentinelle, die dem Genus nach feminin sind, in Realität aber zumeist Männer bezeichnen. Im Gegenzug benennen Substantive wie le mannequin, le laideron, le tendron oder le bas-bleu Frauen[3].

Die Beziehung zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht bei den Objekten ist dagegen nicht semantisch geprägt, da im Französischen ja kein neutrales Genus mehr existiert. Hier erfüllt das grammatische Geschlecht also eine ausschließlich grammatische Rolle und scheint völlig willkürlich zu sein[4]. Brunot bringt es auf den Punkt: Assurément la notion de genre, appliquée aux choses qui n’ont pas de sexe, ne peut être qu’arbitraire[5]. So unterscheidet sich das Genus der beiden Zitrusfrüchte une orange und un citron ohne semantische Motivation. Bei Gattungsnamen, die Tiere bezeichnen, verweist das Genus ebenfalls oftmals nicht auf das natürliche Geschlecht, denn das Substantiv une girafe kann sowohl ein männliches als auch ein weibliches Tier bezeichnen. Liegt bei den Gattungsbezeichnungen allerdings eine binäre Opposition zu, wie dies etwa bei den Begriffspaaren chat – chatte, oie – jars der Fall ist, so ist einer der beiden Begriffe in der Lage sowohl die ganze Gattung als auch das natürliche Geschlecht zu bezeichnen. Das Genus des Komplementärbegriffes verweist wiederum auf das natürliche Geschlecht. Dieses Phänomen trifft auch beim Begriffspaar homme – femme zu, da das lateinische Gegensatzpaar homo (Menschheit) – vir (einzelner Mensch männlichen Geschlechts) im Französischen nicht fortdauert[6].

Nach dieser einführenden Betrachtung soll nun auf die Genuswechsel, die sich im Verlauf der französischen Sprachgeschichte ereignet haben, eingegangen werden.

2. Die Kategorien des Genuswechsels im Französischen

Wie in Punkt 1. gezeigt, ist das grammatische Geschlecht oftmals ein Produkt des Zufalls, das jeglicher Motivation entbehrt. Yaguello beschreibt, dass in diesem Fall die Zuteilung eines Substantivs zu einem Genus durch zwei einander entgegenwirkende Kräfte gesteuert wird, die sie la tradition und l’analogie nennt[7]. Die tradition werde demnach oft auch entgegen dem bei den Sprechern vorherrschenden Sprachgefühls auf Betreiben der Grammatiker durchgesetzt, die einem Substantiv sein etymologisch korrektes Genus zuweisen wollen. So versuchte man beispielsweise im 16. Jahrhundert dem lateinischen Femininum arbor, welches sich im Französischen zum Maskulinum arbre entwickelt hatte, wieder dem Femininum zuzuführen, was sich im allgemeinen Sprachgebrauch jedoch nicht durchsetzte[8].

Was die Analogie betrifft, so unterscheidet man zwischen der analogie formelle (formale Analogie) und der analogie sémantique (semantisch motivierte Analogie). Die Analogie der Form strebt danach, Wörtern das Genus zuzuweisen, welches sie aufgrund ihrer männlich oder weiblich klingenden Endung zu fordern scheinen. So wurden die aus dem Italienischen entlehnten Substantive fresque und mosaïque im Französischen zu Feminina, obgleich fresco und mosaïco italienische Maskulina sind. Hierbei spielt die Etymologie der Wörter also keine Rolle. Der entscheidende Faktor ist das End- e - muet, das einen starken feminisierenden Einfluss ausübt. Dem vormals maskulinen Substantiv cuiller wurde im allgemeinen Sprachgefühl ein imaginäres End- e beigefügt; die Endung - ère, die sich unter anderem auch im Femininum théière findet, veranlasste die Entstehung der orthographischen Variante cuillère und die Tatsache, dass dieses Wort nunmehr als Maskulinum gebraucht wird[9].

Im Fall des französischen Wortes aigle, das von dem lateinischen aquila herrührt, ist der Genuswechsel auf eine Ursache, die in der Semantik liegt, zurückzuführen. Höchstwahrscheinlich wurden dem Adler, der gemeinhin als „König der Lüfte“ gilt, aufgrund dieser Auffassung männliche Tugenden zugeschrieben, was zur Folge hatte, dass aus dem lateinischen Femininum trotz des Vorhandenseins eines End- e - muet ein französisches Maskulinum wurde. Es ist hier jedoch interessant zu bemerken, dass der Ausdruck aigle impériale, also der Adler als Symbol, auch im Französischen das Femininum beibehalten hat. Während aigle noch im 16. Jahrhundert allgemein oft feminin gebraucht wurde, entschied die Académie française 1694 entgültig, dass das weibliche Geschlecht nur in der symbolischen Bedeutung korrekt sei. Der Raubvogel wurde, eventuell in Analogie zu anderen ähnlichen Vögeln (épervier, faucon) zu einem Maskulinum erklärt[10]. Die semantisch motivierten Genuswechsel sind weit weniger zahlreich als diejenigen, die in der Form begründet liegen.

Eine gleichzeitig semantisch und formal motivierte Analogie liegt möglicherweise bei horloge vor[11]. Vom lateinischen horlogium entwickelte sich im Altfranzösischen zunächst ein Maskulinum. Ab dem 13. Jahrhundert wird vereinzelt das Femininum gesetzt, das sich jedoch erst im 17. Jahrhundert endgültig durchgesetzt hat. Die Entwicklung weiterer Instrumente zur Bestimmung der Zeit (la montre, la pendule) hatte zur Folge, dass horloge ebenfalls feminin wurde, dieser Vorgang wurde sicherlich von der Tatsache, dass das auslautende e-muet das weibliche Geschlecht zu fordern schien, unterstützt.

3. Genuswechsel vor dem 16. Jahrhundert

3.1. Entwicklungen im Vulgärlatein als Voraussetzung für den Genuswechsel

Der Großteil der Genuswechsel in der französischen Sprachgeschichte fand bereits beim Übergang vom Lateinischen ins Romanische statt, woraus sich später das Französische entwickelte. Daher sollen nun zunächst die Veränderungen beim Übergang vom klassischen Latein ins Vulgärlatein und dessen Folgeerscheinungen aufgezeigt werden, die die Genuswechsel bedingten. Das klassische Latein kannte wie bereits angesprochen drei Genera sowie fünf Deklinationsklassen, Substantive und Adjektive werden dabei nach ihrer Endung klassifiziert[12]:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Substantive der 1. und 5. Deklination enthalten in der Regel Feminina, die 2. und 4. Deklination dagegen überwiegend Maskulina und Neutra, während in der 3. Deklination alle drei Genera in etwa gleichem Umfang vorkommen. Im Lateinischen gibt die Endung eines Substantivs, wie zum Beispiel - us in amicus Auskunft über die drei Kategorien Genus, Numerus und Kasus. Es besteht ein Formensynkretismus, eine eineindeutige Beziehung zwischen Flexionsendung und grammatischer Funktion liegt also nicht zwingend vor. Eine daraus herrührende Unsicherheit bei den latinisierten Sprechern in Gallien bezüglich des Genus könnte ein erster Schritt in Richtung möglicher Genuswechsel gewesen sein, zumal in den verschiedenen Regionen alsbald verschiedene Mundarten des Lateinischen entstanden, so dass Unstimmigkeiten bereits vorprogrammiert waren[13]. Im Vulgärlatein stellt man eine Reduktion der Deklinationen auf nunmehr drei fest, wobei die Wortklassen der 4. und 5. Deklination, die von geringerem Umfang sind, verschwinden. Die 4. Deklination geht in die 2. Deklination über, während die 5. Deklination der 1. Deklination einverleibt wird. Das Neutrum der 2. Deklination verschwindet ebenfalls, worauf ich später noch gesondert eingehen werde. Das neu entstandene Dreiklassensystem des Vulgärlateinischen lässt sich wie folgt darstellen[14]:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Als wichtigste Veränderungen lässt sich anhand der rekonstruierten, aber nicht belegten Endungsformen die Schwächung der Endkonsonanten - m und – s bis hin zu ihrem völligen Verschwinden beobachten. Darüber hinaus hat sich der so genannte Quantitätenkollaps auf das Vulgärlatein ausgewirkt. Diese Entwicklungen in der Sprache bereiteten nun auf ihre Weise verschiedene Genuswechsel vor: Schon im klassischen Latein existierten Unsicherheiten im Genusgebrauch bestimmter Wörter, wie die Texte von Plautus und Petron durch das Nebeneinander der Formen corius, caelus sowie corium, caelum belegen[15]. Je nach Deklination entwickelte sich im Vulgärlateinischen aber auch zwischen Substantiven, die vormals ein eindeutiges Genus hatten, eine große Konfusion. Dadurch, dass die Endkonsonanten - m und - s in starkem Maße abgeschwächt wurden, was zahlreiche römische Inschriften des 4. Jahrhunderts n. Chr. belegen[16], wurden ehemals eindeutig differenzierbare Substantive identisch. Dies scheint das Schicksal der Substantive des Typs vinu(m) und muru(m) gewesen zu sein, die nach Wegfall des Endkonsonanten dem etymologisch korrekten Genus nicht mehr ohne weiteres zugeordnet werden konnten. Auch die Tatsache, dass die Deklinationen dieser beiden Wortgruppen bis auf den Nominativ und den kaum gebrauchten Vokativ identisch sind, hat sicherlich zu dieser Entwicklung beigetragen. Für diese Art von Genuswechsel sind zahlreiche Beispiele belegt; Brunot[17] zitiert dazu unter anderem donus statt des korrekten donum, fatus anstatt fatum. In anderen Fällen weichen die Pronomen vom Genus des klassischen Lateins ab: die belegten Wendungen eum ossum oder hunc castrum zeigen, dass auch Wörter, die scheinbar das Neutrum aufrechterhalten, im Sprachgebrauch bereits ins Maskulinum übergegangen sind. Weiterhin wird ersichtlich, dass die Vertreter der lateinischen u-Deklination, die Substantive vom Typ cornu beinhalteten, von der 2. Deklination aufgenommen wurden, denn es finden sich die vulgären Formen cornum und cornos belegt[18]. Innerhalb der dritten Deklination scheint der Assimilationsvorgang nicht ganz so reibungslos funktioniert haben. Substantive wie carcer und cubile wurden dennoch bald mit den Maskulina vom Typ leo, princeps (Akkusativ: leone, principe) vermischt; der Form principe (m) wurde ein neuer Nominativ * principes zugewiesen, welcher sich wiederum nur durch das schwach artikulierte End- s von den Substantiven vom Typ cubile unterschied[19]. Im Vulgärlatein lässt sich auch schon früh die Tendenz zur Verringerung der Kasus feststellen, so war man scheinbar bestrebt, die Funktionen von Akkusativ und Ablativ zusammenzufassen. So lässt sich wohl die Existenz der im Appendix Probi aufgeführten Form carcere in Analogie zum Ablativ nomine erklären[20].

Es sei noch erwähnt, dass das lateinische Kasussystem in den romanischen Sprachen nicht aufrechterhalten wurde. Während das Altfranzösische und das Altprovenzalische noch ein Zweikasussystem aus Nominativ und Akkusativ kannten, ist dieses mit Ausnahme des Rumänischen in allen romanischen Sprachen verschwunden[21].

[...]


[1] Vgl. Perret, M.: 1998, S. 113.

[2] Yaguello, M.: 1989, S. 12 und S. 120.

[3] Hamon, A.: 1992, S. 313.

[4] Ebd.

[5] Brunot, F.: Bd. 4, 1966, S. 803.

[6] Picoche, J.: 1989, S. 219.

[7] Vgl. Yaguello, M.: 1989, S. 22f.

[8] Vgl. Jörß, P.: 1989, S. 15.

[9] Absatz nach Yaguello, M.: 1989, S.22f.

[10] Vgl. Trésor de la langue française: Bd. 2, 1972, S.272.

[11] Vgl. Yaguello, M.: 1989, S.23.

[12] Deklinationstafel nach Berschin/Felixberger/Goebl: 1978, S. 78.

[13] Vgl. hierzu Walter, H.: 1988, S. 54f.

[14] Deklinationstafel nach Berschin/Felixberger/Goebl: 1978, S. 79. In dieser Tabelle stellt - (s) ein – s für die Sprachen der Westromania dar, was in der Ostromania einer Leerstelle -Ø entspricht.

[15] Brunot, F.: Bd.1, 1966, S. 77.

[16] Vgl. Jörß, P.: 1892, S. 5. Jörß gibt zahlreiche Beispiele für Wörter mit der klassischen Endung – um, die ihr End- m verloren haben: annu, decimu, faustu, habituru, initiu, Loru, lucru, monimentu, monumentu, sacru, sinu, theatru, vinu, unu.

[17] Vgl. Brunot, F.: Bd.1, 1966, S. 77.

[18] Ebd.

[19] Vgl. Brunot, F.: Bd.1, 1966; S. 78.

[20] Ebd.

[21] Abschnitt nach Berschin/Felixberger/Goebl: 1978, S. 78f.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Genuswechsel im Französischen
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
20
Katalognummer
V49456
ISBN (eBook)
9783638459082
Dateigröße
712 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Genuswechsel, Französischen
Arbeit zitieren
Christian Werner (Autor:in), 2005, Genuswechsel im Französischen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49456

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