"Uns kommt nur noch die Komödie bei" - Eine Untersuchung zu Friedrich Dürrenmatts 'Meteor' und seiner Dramaturgie des Einfalls


Magisterarbeit, 2005

85 Seiten, Note: 1,4


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. DÜRRENMATTS POETIK DER KOMÖDIE
2.1. Schriftstellerische Entwicklung
2.2. Dramentheoretische Überlegungen
2.2.1. Die geschichtsphilosophische Begründung der Komödie
2.3. Der ‚neue’ Komödienbegriff
2.3.1. Tragödie als Theater der Identifikation
2.3.2. Theater der Distanz
2.3.3. „Gefahr, ins Leere zu stoßen“
2.4. Theaterwelt als Gegenwelt
2.4.1. Die Dramaturgie des Einfalls und das Groteske
2.4.2. Der Zufall als Einfall Exkurs: Das Modell Scott
2.5. Ist das Groteske nihilistisch?

3. DÜRRENMATTS EINFALL: DER METEOR
3.1. Struktur
3.2. Inhalt
3.3. Die Idee des Stücks
3.4. Absage an das Leben
3.4.1. Die bittere Erkenntnis
3.4.2. Abrechnung mit der Literatur
3.5. Schwitter als Richter über die Welt
3.5.1. ‚Totentanz’ der Nebenpersonen
3.6. Die schlimmstmögliche Wendung
3.7. Warum Schwitters Tod Illusion bleiben muss

4. REZEPTION
4.1. Der „metaphysische Brocken“
4.2. Eine Schaffensbilanz?

5. ZUSAMMENFASSUNG

Literaturverzeichnis

1. EINLEITUNG

In selbstironischer Manier gesteht Friedrich Dürrenmatt ein, dass er die von Kritikern häufig gestellte Frage, ob er ‚sich denn bei seinen Komödien etwas denke, und wenn ja, was?’, nicht beantworten könne. Obwohl diese Äußerung aus dem fiktiven Gespräch „Friedrich Dürrenmatt über F.D.“[1] schlicht als beiläufige Provokation in Richtung seiner Kritiker zu verstehen ist, klingt auch hier seine beharrliche Weigerung an, in seinen Stücken irgendeine bewusste moralische oder didaktische Absicht zu verfolgen.

Darüber hinaus fällt es schwer, dieses Bekenntnis ernst zu nehmen, denn sowohl seine Dramen, die er immer wieder umschrieb und neu ‚komponierte’ wie er es nannte, als auch seine zahlreichen theoretischen Abhandlungen über das Theater, lassen erkennen, dass er sich durchaus Einiges ‚dabei gedacht’ zu haben schien.

Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt – als Dichter wollte er nie bezeichnet werden – ist inzwischen das, was er nie sein wollte: ein moderner Klassiker. Seine Werke finden sich in Literaturkanons, sind Standardwerke bei der Schullektüre und seine Dramen, vor allem sein erfolgreichstes und bekanntestes Stück Der Besuch der alten Dame (1956) erfreuen sich weltweiter Aufführungen. Dennoch – oder ist dies gerade eine Besonderheit einflussreicher Autoren? - war der Querdenker Dürrenmatt nie unumstritten. Weil er empfindliche Themen wie Verrat, Korruption, Macht und Mord mit scharfer Ironie und schwarzem Humor behandelte, erregte er nicht selten ‚Theaterskandale’ und Empörung unter den Zuschauern und Kritikern.

Aber auch der Schweizer Autor selber lebte in einem höchst gespaltenen Verhältnis zu seiner Umwelt, was sich in seinen teils besorgten, teils zynischen Äußerungen über den Zustand der modernen Welt zeigt.

Die Ansicht über seine Zeit, sein Gesellschafts- und Menschenbild, kurz sein Weltbild spiegelt sich, sei es auch in verschlüsselter Form, in seinen Werken wider. Neben seinen Hörspielen und Kriminalromanen trifft dies im Besonderen auf seine Komödien zu, nach Dürrenmatt ohnehin die einzige Dramenform, die ‚uns noch beikommt’[2].

Ziel dieser Arbeit ist es, zu durchleuchten, warum ausschließlich die Komödie im Stande ist, der Welt auf dem Theater entgegen zu treten. Friedrich Dürrenmatts aus der Auseinandersetzung mit der Welt entstandene Poetik der Komödie und die daraus hervorgehende Dramaturgie soll durch eine genaue Analyse seines Stücks Der Meteor (1966) veranschaulicht werden.

Weiterhin soll gezeigt werden, wie das Drama als Zeitstück wahrgenommen und über dessen Inhalt hinaus interpretiert worden ist.

2. DÜRRENMATTS POETIK DER KOMÖDIE

2.1. Schriftstellerische Entwicklung

Der Aussichtspunkt auf die Welt ist für den 1921 in dem Emmentaler Dorf Konolfingen im Kanton Bern als Sohn eines protestantischen Pfarrers und einer frommen Matriarchin geborenen Schriftsteller die Schweiz, in der er bis zu seinem Lebensende im Dezember 1990 lebte.

Seine Kindheit und Jugend verbringt Dürrenmatt in einer, wie er es später nennt, „gespenstischen Idylle“[3]. Früh entdeckt das Kind, das eher ein Einzelgänger ist, sein Interesse für Malerei, Astronomie und die Sagen des griechischen Altertums.

Nach einem Umzug der Familie Dürrenmatt nach Bern besucht er zunächst das Freie Gymnasium, später das Humboldtianum. Dürrenmatt ist ein miserabler Schüler. Trotzdem entschließt er sich nach seiner Maturität zu einer akademischen Laufbahn. Der Vater wünscht sich, dass sein Sohn Theologie studiert, doch nach einer Aussprache, in der Dürrenmatt seine allem Kirchlichen gegenüber ablehnende Haltung demonstriert, lässt der Pfarrer von seinem Wunsch ab. Dürrenmatt studiert eher ziellos mal in Bern, mal in Zürich zehn Semester Philosophie, Germanistik und Naturwissenschaft, malt nebenher und schreibt kurze Prosatexte. Den Krieg und den faschistischen Terror erlebt der Student in der vom politischen Geschehen relativ isolierten Schweiz vermittels Zeitungen und Rundfunk, und verarbeitet die Berichte in seinen Geschichten.

Sein erster erhaltener Text Weihnacht entsteht 1942 und beschreibt in 28 Sätzen, wie ein hungriger Wanderer an Weihnachten durch eine beängstigende Winterlandschaft läuft. Die Luft ist tot, Mond und Sterne sind gestorben, die Sonne nicht aufgegangen. Der Wanderer findet einen Körper im Schnee: „Es war das Christkind. Die Glieder weiß und starr.“[4] Er isst es auf, obwohl es ungenießbar ist, und geht weiter.

Die Erzählung Der Folterknecht von 1943 schildert die Welt als einzige Folterkammer, die von einem riesigen Wesen, übersäht mit Eiterbeulen, verwester Fratze und geifernden Mund, beherrscht wird. Am Ende heißt es: „Der Folterknecht ist Gott. Der foltert.“[5] Während rund um die Schweiz Menschen ermordet und Städte zerstört werden, entwirft der junge Schriftsteller das Bild eines sadistischen Gottes. Die Auseinandersetzung mit Gott, die Frage nach seiner Existenz, der Glaube, der ohne Zweifel nicht möglich ist, taucht in Dürrenmatts Werk immer wieder auf, wobei Gott als Prinzip existentieller Hoffnung immer stärker angezweifelt wird, schließlich nicht mehr vorhanden ist.

In seinem wohl bekanntesten Stück Prosa, Der Tunnel (1952), befindet sich ein „Vierundzwanzigjähriger, fett“, dessen einzige Fähigkeit es ist, „das Schreckliche hinter den Kulissen“[6] zu sehen, in einem Zug, der durch einen dunklen Tunnel immer schneller auf den Mittelpunkt der Erde zurast. Am Ende ist im Zug völlige Panik ausgebrochen, der Schaffner wendet sich in seiner Verzweiflung an den jungen Mann: „Was sollen wir tun?“ - „Nichts. Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu“ antwortet dieser. Hatte es in dieser ersten Fassung für Dürrenmatt noch einen Gott gegeben, lässt er in einer späteren Fassung (1978) die Menschen ins Gottlose fallen. Die Antwort lautet dort nur noch: „Nichts.“[7]

Dürrenmatts finstere, mitunter surrealistische Endzeitphantasien werden geprägt durch die politischen Geschehnisse, wie auch durch Literatur. Er liest die griechischen Tragiker, er liest Aristophanes und Shakespeare, nennt Lessing seinen Lieblingsklassiker, später zeigt er sich beeindruckt von Brecht und Kafka, liest Sartres Der Ekel, Das Sein und das Nichts und Camus’ Der Mythos des Sisyphos. Besonders diese Werke spiegeln die Hoffnungslosigkeit während des Kriegs und der Nachkriegszeit wider und prägen die Vorstellung von der Absurdität des Daseins, der Selbstverantwortlichkeit, des Leids und der Vereinzelung des Menschen.

Der Einzelne, ideologiefeindlich, realistisch und illusionslos, hilflos im Kampf gegen eine größere Macht, der sich später im so genannten Dürrenmattschen ‚mutigen Menschen’ manifestiert, steht schon in seinen frühen Stücken im Mittelpunkt. Gleichzeitig überwindet Dürrenmatt die dunkle Stimmung seiner frühen Werke, indem er seinen bitteren, sarkastischen, auch slapstickartigen Humor immer stärker in seine Arbeiten einfließen lässt.

2.2. Dramentheoretische Überlegungen

Im Herbst 1954 und Frühjahr 1955 hält Dürrenmatt in verschiedenen Städten der Schweiz und Westdeutschlands einen Vortrag, der nach diesen Manuskripten 1955 als die Schrift Theaterprobleme erscheint. Vor allem in dieser wichtigsten literaturtheoretischen Abhandlung des Schweizers wird deutlich, wie sehr für ihn die Beschaffenheit der Welt, so wie er sie erfasst, eine Konsequenz für die Welt des Theaters darstellt.

Zu Beginn der Darstellung seiner Theaterprobleme greift er von vorneherein der möglichen Versuchung des Publikums vor, ihn in eine Denkschublade zu stecken, und verbittet sich Vermutungen, er sei ein „Handlungsreisender irgendeiner der auf den heutigen Theatern gängigen Weltanschauungen, […] sei es als Existenzialist, sei es als Nihilist, als Expressionist oder als Ironiker, oder wie nun auch immer das in die Kompottgläser der Literaturkritik Eingemachte etikettiert ist.“[8]

Sein Urteil über die Welt im Atomzeitalter zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs fällt durchweg negativ aus:

Die moderne Welt sei zu einem unüberschaubaren Chaos geworden, in dem der Einzelne zwar noch existieren, das Weltgeschehen aber nicht mehr nachvollziehen kann. Sie sei aufgrund wachsender Bevölkerungszahlen, neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, daraus resultierenden Errungenschaften und einem zunehmend bürokratischen Staat zu gewaltig und undurchsichtig geworden. Diesen Aspekt hebt Dürrenmatt besonders in seiner Abhandlung Vom Sinn der Dichtung unserer Zeit (1956) hervor: „Der Mensch lebt heute in einer Welt, die er weniger kennt, als wir das annehmen. […] er kommt sich als ein Spielball der Mächte vor, das Weltgeschehen erscheint ihm zu gewaltig, als daß er noch mitbestimmen könnte […] Er spürt, daß ein Weltbild errichtet wurde, das nur noch dem Wissenschaftler verständlich ist […]“[9]

Dürrenmatt überlegt, ob eine derart veränderte Welt Konsequenzen für die Dramatik mit sich bringt – oder anders ausgedrückt, inwiefern Theater und Zeitgeist in einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Daraus entwickelt sich seine Ausgangsfrage, die er in Bezug zur Zeit der Weimarer Klassik setzt: Lässt sich nicht die heutige Welt immer noch genauso gut mit der Dramatik Schillers gestalten, wo Schiller das Publikum doch immer noch fasziniert? Eine erste Antwort folgt prompt und eindeutig: „Die Kunst ist nie wiederholbar“[10]. Veränderte äußere Bedingungen erfordern eine veränderte Umsetzung.

Zu Schillers Zeiten sei es dem Schriftsteller noch möglich gewesen, die reale Welt als Vorbild für eine fiktive Welt zu nutzen: „Schiller schrieb so, wie er schrieb, weil die Welt, in der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als Historiker erschuf, spiegeln konnte.“[11]

Im Gegensatz zu dieser Epoche sei das Bewältigen der Welt durch das geschichtliche Drama Schillers heute nicht mehr möglich. Dies habe seinen Grund schon allein darin, dass man in der heutigen Zeit anstatt tragischer Helden lediglich Tragödien vorfinde, die von „Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden.“[12]

Große Geister, die als Vorbilder für große Dramen genutzt werden könnten, seien aus der modernen Zeit nicht mehr hervorgegangen, im Gegenteil: „Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen.“[13]

Als besonders bedenklich empfindet Dürrenmatt die durch wachsenden Fortschritt von Wissenschaft und Technik sich immer weiter potenzierende, nebulöse Macht. Sie ist nicht mehr konkret, nicht mehr sichtbar und, um von einzelnen Menschen vertreten zu werden, zu monströs. Menschen sind nur noch „äussere Ausdrucksformen dieser Macht, […] beliebig zu ersetzen“[14]. Die größer werdende Macht des Staates geht mit einer wachsenden Abstraktion desselben einher.

In dieser Welt, meint Dürrenmatt, ist es um die Kunst schlecht bestellt. Sie dringt, wenn überhaupt, nur noch „bis zu den Opfern vor“, lässt sich „mit einem kleinen Schieber, mit einem kleinen Kanzlisten, mit einem Polizisten“ besser darstellen als „mit einem Bundesrat, als mit einem Bundeskanzler. […] Kreons Sekretäre erledigen den Fall Antigone.“[15].

Es ist deutlich: Dürrenmatt sieht in den veränderten Existenzbedingungen seiner Gegenwart, die ungewiss, vom Zufall bestimmt, unüberschaubar und anonym ist, die Notwendigkeit für eine Veränderung innerhalb des Theaters. Zeitgeist und Kunst bedingen sich.

2.2.1. Die geschichtsphilosophische Begründung der Komödie

Als Dürrenmatt 1952 mit den Aufzeichnungen zu seiner Komödientheorie beginnt, schreibt er in der Anmerkung zur Komödie, er könne sich eine Tragödie über den Zweiten Weltkrieg noch nicht vorstellen, da erst mehr Distanz zu dem Geschehen gewonnen werden müsse. Drei Jahre später beurteilt er die Möglichkeiten der Tragödie in der modernen Zeit anders: Eine tragische Bearbeitung der neueren deutschen Geschichte hält er für generell nicht mehr möglich. Der Grund: Die Zeit hat sich nach dem Nazi-Regime grundlegend verändert und kann in ihrer ganzen Verworrenheit keinen Hintergrund für eine tragische Dramaturgie bieten, denn die Tragödie bedingt eine gestaltete, eine überschaubare Welt, meint Dürrenmatt. Traurig und tragisch kann es nur da zugehen, wo im Ganzen eine gesunde Ordnung herrscht.

Die Tragödie konnte im alten Griechenland stattfinden, wo die gegliederte Mythenwelt, verankert im Bewusstsein des Zuschauers, als Basis für die Stoffe auf der Bühne vorausgesetzt wurde. Möglich ist sie überall dort, wo ein gegliedertes Gesellschaftsganzes vorhanden ist, wo die Welt auf dem Theater reproduziert werden kann, wie es schon Aristoteles in seiner Dichtungstheorie beschreibt. Demnach beruhen alle Gattungen der Dichtkunst auf dem Prinzip der Mimesis.

Die Nachahmung ist Dürrenmatt zufolge aber eben nicht möglich in einer Welt, die sich derart verworren und unübersichtlich darstellt. Seine schonungslose Beschreibung des Zustandes der Nachkriegszeit findet ihren Höhenpunkt in den Worten:

„In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weissen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. […] Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld: Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat.“[16]

Die Konsequenz ist für ihn so zwingend wie lapidar: „Uns kommt nur noch die Komödie bei.“[17] Diese These legte der Dramatiker auch schon seiner Romulus - Figur in den Mund: „Wer so aus dem letzten Loch pfeift wie wir alle, kann nur noch Komödien verstehen.“[18]

Die Rechtfertigung der Komödie als adäquates Drama der Zeit erfolgt also hier nicht von einem ästhetischen Standpunkt aus, sondern ist vielmehr geschichtsphilosophischen Ursprungs.

In einem Gespräch, das er ein paar Jahre später führt, gesteht er noch einmal, dass er sich schlicht nicht zutraut, „mit einem Theaterstück die Wirklichkeit wiedergeben zu können“, weil er sie für „zu gewaltig, für zu anstößig, für zu grausam und zu dubios“[19] hält.

Äußere Existenzbedingungen sind hauptsächlich für eine veränderte Dramaturgie verantwortlich.

Besonders deutlich wird diese Einschätzung noch an anderer Stelle der Theaterprobleme. Hier grenzt Dürrenmatt die Tragödie und die Komödie nur insofern voneinander ab, als dass diese lediglich „Formbegriffe“ seien, „fingierte Figuren der Ästhetik“, die in der Lage sind, Gleiches zu beschreiben. „Nur die Bedingungen sind anders, unter denen sie entstehen, und diese Bedingungen liegen nur zum kleineren Teil in der Kunst.“[20] Gleichzeitig relativiert dieser Zusatz das Prinzip der Alleingültigkeit der Komödie sowie deren strikte Trennung von der Tragödie.

Es geht Dürrenmatt nicht in erster Linie darum, die Tragödie zu verdammen und die Komödie als einzig angebrachte Form anzupreisen. Es ist vielmehr sein Anliegen, einer sich verändernden Dramatik einen sich ebenso verändernden Komödienbegriff entgegenzustellen, auch wenn dies sich mit dem „Zug nach Reinheit“ in der Kunst, der ihm „in diesen Tagen“[21] auffällt, nicht vereinbaren lässt.

2.3. Der ‚neue’ Komödienbegriff

Die Bestimmung des Gattungsbegriffs ‚Komödie’ scheint zunächst nicht weiter schwierig zu sein; so entwickelte sich die Bedeutung vom ursprünglich griechischen ‚kōmōidía’ von „Gesang bei einem frohen Gelage“ hin zu „vor allem bühnenmäßige Gestaltung komischer Ereignisse mit heiterem Ausgang“[22]. Doch die Variationsbreite der Komödie ist groß und übertrifft die der Tragödie.

Alle Bühnenstücke Dürrenmatts lassen sich mehr oder weniger unter der Kategorie Komödie zusammenfassen. Das allein scheint ihm aber nicht zu reichen, einige seiner Stücke stattet er mit Zusatzbeschreibungen aus: Romulus der Große (1949) - eine ungeschichtliche historische Komödie, Ein Engel kommt nach Babylon (1954) - eine fragmentarische Komödie, oder Der Besuch der alten Dame (1956) - eine tragische Komödie. Schon aus diesen Modifikationen der Titel sei es ersichtlich, so folgert Sigrid Mayer, „daß es sich bei Dürrenmatts Komödien weder um eigentliche ‚Lustspiele’ noch um Komödien im traditionellen Verständnis handelt“[23].

Dürrenmatt hat immer wieder betont, dass für ihn das Schreiben eines Theaterstücks nur möglich ist, wenn er mit der Bühne schreibt, das heißt, er muss während des Schreibens ständig die Möglichkeiten der Bühne im Auge behalten. Dabei stellt die Bühne für den Schriftsteller ein Instrument dar, dessen Möglichkeiten er zu kennen versucht, indem er damit spielt.[24] Daher entspringen seine Dramenbezeichnungen auch seinem ausgeprägten Spiel- und Experimentiertrieb.

2.3.1. Tragödie als Theater der Identifikation

Wenn Dürrenmatt die Tragödie aufgrund der Zustände der modernen Zeit ausschließt, dann meint er damit vor allem eine solche, die sich im Sinne der altgriechischen Tragödie verhält.

Aristoteles schreibt, die Aufgabe der Tragödie sei es, beim Zuschauer die kathartischen Effekte „Jammer, Rührung“ (Eleos) und „Schaudern, Schrecken“ (Phobos)[25] hervorzurufen. Eine solche affektische Anteilnahme ist allerdings nur da möglich, wo das Publikum sich mit der Handlung und dem tragischen Helden identifiziert. Der Zuschauer muss mit dem Geschehen auf der Bühne verschmelzen und die Erfahrungen des Helden nachvollziehen, mit ihm ‚mitleiden’. Aber genau darin sieht Dürrenmatt das Dilemma: „Die Tragödie neigt dazu, sich als abgebildete Wirklichkeit auszugeben, das Tragische der Wirklichkeit zu entlehnen“[26], was beim Zuschauer gänzlich zum Verlust der Distanz zum Geschehen und damit zur Unfähigkeit, objektivieren zu können, führt. So, wie kein Mensch sich selber objektiv beurteilen und betrachten kann, ist der Zuschauer nicht mehr in der Lage, den tragischen Helden von außen zu mustern, ihn und sein Verhalten zu reflektieren, da er ihn in sein eigenes Ich integriert hat. Aristoteles beschreibt dieses Verhalten als ‚Nachahmungstrieb’, den jeder Mensch in sich hat.

2.3.2. Theater der Distanz

Dürrenmatt ist darauf bedacht, jenem Trieb entgegen zu wirken, um eine direkte Identifikation mit dem Bühnengeschehen zu vermeiden. Im Nachwort zu seinem Stück Die Wiedertäufer (1967) beschäftigt er sich einmal mehr mit seiner Komödientheorie und erläutert, wie ein Theaterstück der Nicht-Identifikation aussehen könnte: Ist der Held eines Stücks ein Clown, der sich naturgemäß unbeholfen und lächerlich gibt, dann wird der Zuschauer sich mit einer solchen Figur nicht identifizieren, sondern sich von ihm abgrenzen und ihm überlegen fühlen. Auf diese Weise beobachtet er das Geschehen aus einer Distanz und ist fähig, zu objektivieren.

Der Zuschauer muss auch nicht annehmen, das Treiben auf der Bühne sei Realität; die Wirkung der Komödie wird durch Abstraktion nicht geschmälert: „Die Illusion ändert am Komischen nichts, gerade darum ist sie beim Komischen legitim. Das Komische tritt nur ein, wo wir objektivieren, das heißt, wo wir eine Gestalt oder Handlung als Ganzes überblicken, was nur möglich ist, wo wir Distanz bewahren“[27].

In den seltensten Fällen ist der Held einer Komödie tatsächlich ein Clown im üblichen Sinne. Dennoch macht dieses Beispiel die Überlegung Dürrenmatts deutlich: Dort, wo sich eine Handlung von der Normalität abhebt, wird es dem Zuschauer erschwert, das Bühnengeschehen als Wirklichkeit anzusehen.

Diese Folgerung führt natürlich geradewegs zu Brecht. Sein Verfremdungseffekt beabsichtigt ebenso, den Zuschauer an der Identifikation mit dem Schauspiel zu hindern, ihn aus der Handlung herauszureißen und ihn dem Bühnengeschehen gegenüberzustellen. Dürrenmatt beschreibt Brechts Verfremdungseffekt als „eine Notbremse, welche die Handlung zum Stehen bringt und Überlegungen möglich macht.“[28]

In der Distanz zur Wirklichkeit, die in der Tragödie überwunden und in der Komödie geschaffen wird, liegt für Dürrenmatt also der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Dramenformen.

Während das in den Sechziger Jahren neu auflebende Dokumentartheater die Wirklichkeit möglichst genau nachzuzeichnen versuchte, um gesellschaftskritisch und politisch zu wirken, geht Dürrenmatt in die andere Richtung. Gerade in der Abkehr von der Realität sieht er eine Unabhängigkeit: „Ist die Forderung einmal fallen gelassen worden, die Welt des Theaters und die Wirklichkeit müssten übereinstimmen, ist eine neue Freiheit erreicht“[29]. Folgerichtig beschreibt er seine eigene Dramatik mit den Worten: „Ich stelle mit einem Theaterstück nicht die Wirklichkeit dar, sondern für den Zuschauer eine Wirklichkeit auf.“[30]

Aufgrund derartiger Äußerungen wurde ihm der Vorwurf gemacht, durch ein solches Theater würden keine Lösungen für die Probleme der Welt geschaffen und so sei sie nicht zu ändern. Doch diesen Anspruch kann Dürrenmatt seinem Theater überhaupt nicht stellen, weil er diese Forderung als Kompetenzüberschreitung der Bühne ansieht. Auf die von Horst Bienek gestellte Frage, ob es einem Schriftsteller möglich sei, die Welt zu verändern antwortet er: „Beunruhigen im besten, beeinflussen im seltensten Falle – verändern nie.“[31]

Diese Bemerkung drückt zudem eine deutliche Abweichung gegenüber Brecht aus, der die Welt als veränderbar und das Theater als ein pädagogisches Instrument einer machbaren gesellschaftspolitischen Veränderung ansah. Dürrenmatt wurde oft an Brecht gemessen, obwohl die subjektivistischen Stücke auf der einen, und die ideologisch orientierten auf der anderen Seite, wenig miteinander zu tun hatten.

2.3.3. „Gefahr, ins Leere zu stoßen“

Kehrt der Schriftsteller mit seinen Komödien der Realität jedoch völlig den Rücken, begibt er sich auf dünnes Eis. Dann nämlich, wenn sein Theater in eine Selbstgenügsamkeit verfällt, wenn es nichts mehr meint als seine eigene Wirklichkeit ohne Bezugnahme auf historische Ereignisse, läuft es Gefahr, ins Nichtssagende und Bedeutungslose abzurutschen. Eine Dramatik, so meint Durzak, als „ästhetische Feierabendbeschäftigung, die sich durch ihre Unverbindlichkeit selbst erledigt“[32], ist überholt.

Auch Dürrenmatt selber sieht die Gefahr, „ins Leere zu stoßen, sich im bloß Ästhetischen oder bloß Geistreichen zu verlieren“[33] und findet den Weg aus der Sackgasse, indem er eine Verschmelzung von Dichtung und Wahrheit fordert: „Die Fiktion muß auch die Realität in sich schließen, die »mögliche Welt« muß auch die »wirkliche Welt« in sich enthalten. […] Der Realität muß im Theater eine Überrealität gegenüber stehen.“[34]

Die Wirklichkeit will Dürrenmatt also nicht außer Acht lassen, sondern sich indirekt mit ihr auseinandersetzen: keine kategorische Trennung zwischen einer abzulehnenden Realität und der Welt des ‚schönen Scheins’ der Kunst; nicht Abbilden, was sich in seinen Augen nicht mehr abbilden lässt, sondern die Welt reflektieren, indem er sie auf eine andere Ebene hebt.

An dieser Stelle lässt er auch durchblicken, dass er sich von dem Bereich des Absurden Theaters abgrenzt, zu dessen Vertretern er fälschlicherweise immer wieder gezählt wird. Die Handlung auf der Bühne soll eben nicht nur sinnfreies, ästhetisches Spiel sein: „Die Fiktion darf nicht als bloße Absurdität konzipiert werden. Das Absurde umschließt nichts.“[35] An anderer Stelle wird er noch deutlicher: „Ich bin Autor des Grotesken, nicht des Absurden; das Absurde habe ich nicht gern, denn es heißt – sinnlos.“[36] Eine Handlung muss in sich geschlossen und logisch sein, ungeachtet dessen, ob ihr Inhalt auf realistischen Verhalten aufbaut.

2.4. Theaterwelt als Gegenwelt

Wie aber sieht eine Dramatik aus, die kein Abbild sein will, weil die äußere Welt keine tragische, unmittelbare Abbildung mehr zulässt, aber doch den Anspruch erhebt, die Ereignisse der realen Welt nicht außer Acht zu lassen? „Was der Schriftsteller treibt, ist nicht ein Abbilden der Welt, sondern ein Neuschöpfen, ein Aufstellen von Eigenwelten, die dadurch, daß die Materialien zu ihrem Bau in der Gegenwart liegen, ein Bild der Welt geben.“[37]

Dürrenmatt lässt sich von der wirklichen Welt inspirieren, nimmt sie in sich auf, lässt sie durch seine Gedanken passieren, um sie, dann angereichert mit eigenen Assoziationen, auf der Bühne, als subjektivistisches Abbild, wieder mit ihr zu konfrontieren. „Theater ist also, für meine Überzeugung, nicht Wirklichkeit, sondern ein Spiel mit der Wirklichkeit, deren Verwandlung im Theater. Ich glaube, daß Wirklichkeit an sich nie erkennbar ist, sondern nur ihre Metamorphosen.“[38]

Das ‚Spiel mit der Wirklichkeit’ soll die Krisensituation der Welt, ihre Unbegreiflichkeit, ihre Paradoxie sichtbar machen. Dürrenmatt versucht, seine persönliche und die von ihm unterstellte allgemeine Orientierungslosigkeit zu bewältigen, indem er die Paradoxien der Welt auf der Bühne ‚durchspielt’, um so wiederum die Wirklichkeit in einem verzerrten Bild zu zeigen.

2.4.1. Die Dramaturgie des Einfalls und das Groteske

In seiner Anmerkung zur Komödie beschreibt Dürrenmatt, wie Komödiendichter, allen voran Aristophanes, auf den er sich immer wieder beruft, durch eine bestimmte Dramaturgie zeitgenössische Themen auf die Bühne bringen konnten. Das entscheidende Element der aristophanischen Komödie ist der theatralische Einfall, der es ermöglicht, die Gegenwart ins Groteske umzuformen und dadurch Distanz zu schaffen. Der Einfall besteht darin, eine Merkwürdigkeit in eine alltägliche Geschichte einfließen zu lassen, von der die Handlung fortan lebt. So beispielsweise in Aristophanes Stück Die Vögel, in dem ebenjene zwischen Himmel und Erde ein Zwischenreich errichten und so Götter und Menschen zur Kapitulation zwingen.

Allgemein charakterisiert Dürrenmatt die Ideen der aristophanischen Komödie so: „Es sind Einfälle, die in die Welt wie Geschosse einfallen […] welche, indem sie einen Trichter aufwerfen, die Gegenwart ins Komische umgestalten“[39]. Dieser Satz könnte genauso über seinen eigenen Komödien stehen.

Der Einfall in diesen Stücken bestimmt die Dramaturgie. Komödien im aristophanischen Sinn sind Eingriffe in die Realität, sie fördern nicht nach Tragödienart Einfühlung und Identifikation, sondern sie rücken Personen und Zustände der Gegenwart in den Mittelpunkt des Geschehens, um sie in der Distanz und in einem grotesken Zerrbild zu veranschaulichen.

In der Anmerkung zur Komödie unterscheidet Dürrenmatt zwischen zwei Arten des Grotesken: „Groteskes einer Romantik zuliebe, das Furcht oder absonderliche Gefühle erwecken will“, und eines „der Distanz zuliebe, die nur durch dieses Mittel zu schaffen ist.“[40] Für ihn ist die zweite Form die entscheidende.

In der Groteske sieht der Dramatiker auch für seine Zeit eine Möglichkeit für den Umgang mit der Wirklichkeit, da das Groteske eine „äußerste Stilisierung, ein plötzliches Bildhaftmachen“ sei und darum in der Lage, „Zeitfragen, mehr noch, die Gegenwart aufzunehmen, ohne Tendenz oder Reportage zu sein“[41]. Die Distanz macht es möglich, gegenwärtige Ereignisse zur Darstellung zu bringen, ohne unmittelbar zu sein, ohne sich politisch zu engagieren. Diese Aufgabe ist nach Dürrenmatts Denken nicht die des Schriftstellers: „Er muß angreifen, aber nicht engagiert sein. Der einzige Platz der ihm zukommt, ist der zwischen Stuhl und Bank.“[42] Fehlendes Engagement bedeutet in diesem Fall nicht, die Geschehnisse der Gegenwart zu ignorieren, sondern der Verlockung zu widerstehen, das eigene Werk als Mittel zur Unterbreitung einer Lehrmeinung zu nutzen.

In seinem Stück Frank der Fünfte (1959) beschreibt Dürrenmatt die groteske Szenerie einer Privatbank, deren Machenschaften von Korruption, Betrug, Prostitution und Mord geprägt sind und deren Angestellte sich damit rühmen, noch nie ein ehrliches Geschäft abgeschlossen zu haben. Die Welt der Bank steht für eine korrupte Gesellschaft, in der jeder sich rücksichtslos und ungeniert durchgaunert, um sich möglichst viele Vorteile zu sichern.

In der Kritik fiel das Stück weitgehend mit der Begründung durch, dass die Welt so nun einmal nicht sei, und nicht in einer derartigen Szenerie gespiegelt werden könne. Dürrenmatt verteidigt sich im Gespräch mit Horst Bienek, indem er sich auf die Freiheit des Dramatikers beruft, eigene Welten zu erschaffen: „Wagt er dies entschlossen, kommt der Zuschauer immer nach, […] denn so grotesk ein Theaterstück auch sein mag, so entfernt jeder Wirklichkeit – es vermag gar nicht aus der Welt herauszufallen, weil jedes Theaterstück von der Wirklichkeit genährt, inspiriert wird.“[43] Will heißen: Schafft der Dramatiker eine in sich stimmige, geschlossene Welt, wird sich in dieser immer die gegenwärtige Welt finden lassen und dem wachen Betrachter Antworten liefern können.

Paradox und grotesk (Dürrenmatt verwendet die Begriffe nahezu synonym[44] ) stellt sich ihm die Welt dar, und so stellt er sie dar. Er schlägt sie mit ihren eigenen Waffen und gibt ihr gleichzeitig eine neue Form, denn das Groteske ist für ihn „nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt“[45].

Die moderne Welt, von Dürrenmatt als abbildungsfeindlich diagnostiziert, wird nun über den Umweg der Groteske doch wieder zum Vorbild des modernen Dramas, der paradoxen Komödie, und so entzieht er sich auch dem Vorwurf des „ästhetisch verspielten Bühnenzauberers“[46], der sein Publikum von der Wirklichkeit abschirmen will. Er will seine Zuschauer vielmehr in die „Mausefalle“ Komödie locken, in der er sie ‚verführen’, ‚überlisten’ kann, sich „Dinge anzuhören, die sie sich sonst nicht so leicht anhören“[47] würden.

Da die Zeit sich nicht für heitere, unproblematische Lustspiele eigne, geht Dürrenmatt einen paradox erscheinenden Schritt, um seiner Welterfahrung Ausdruck zu verleihen. Schließt er auch die Tragödie im modernen Zeitalter aus, so hält er tragische Elemente im komischen Drama für möglich und nötig: „Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund“[48]. Das Tragische erscheint plötzlich und unerwartet im Komischen - dem Zuschauer bleibt das Lachen im Halse stecken.

2.4.2. Der Zufall als Einfall

Ein wichtiges, vielleicht das zentrale Element der grotesken Dürrenmattschen Komödie ist der Zufall, der die Unübersichtlichkeit und damit die Unvorhersehbarkeit der Welt anschaulich macht. Er stellt in seinen Werken jenen ‚Einfall’ dar, der in eine geordnete Welt einbricht und diese ins Wanken bringt.

Es liegt Dürrenmatt allerdings entschieden daran, den Zufall eben auch als solchen anzusehen, und nicht etwa als Fatum, so wie er bei den „Alten“[49] erschien. Der Zufall ist nicht logisch erklärbar oder durch einen geheimnisvollen Sinn zu legitimieren. Für Dürrenmatt erscheint der Zufall als das nicht Voraussehbare, plötzliche, unwahrscheinliche Ereignis ohne Hintersinn. Er ist für ihn „als widerspruchsvoller, sperriger, nicht begrifflich auflösbarer Wirklichkeitsrest die Garantie dafür, daß das Abbild der Wirklichkeit im Drama sich der faktischen Wirklichkeit annähert und nicht einem vom Intellekt des Menschen konstruierten Wunschbild der Wirklichkeit.“[50]

Auf die Bedeutung des Zufalls geht er besonders in seinen 21 Punkten zu den Physikern ein. Hier findet sich auch Dürrenmatts Forderung nach einem konsequenten „zu-Ende-Denken“ einer Geschichte. Demnach ist eine Geschichte dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre „schlimmst-mögliche Wendung“ genommen hat: „4. Die schlimmst-mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein. 5. Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen.“[51]

Wichtig dabei ist, dass Dürrenmatt den Zufall nicht als zusätzliches Stilmittel in seine Geschichten einbaut, sondern dem Zufall in einem ausschlaggebenden Maß die Regie der Handlung und deren unaufhaltsamen Ausgang überlässt. So räumt er sich jede Freiheit auf der Bühne ein, ermöglicht sich jeden Spielverlauf, da er auch die vermeintlich unmöglichsten Entwicklungen durch Verweis auf den Faktor ‚Zufall’ legitimieren kann.

Allerdings braucht der Zufall eine bestimmte Umgebung, in die er ‚einfallen’ kann, um zu wirken. Es muss eine Situation vorliegen, die dem Dazwischentreten eines unvorhergesehenen Geschehens nicht gewachsen ist und ihm Raum lässt, um seine fatale Wirkung zu entfalten. Genau in diesem Sinne verhält sich das Stück Die Physiker (1962), in dem das Genie Möbius sich freiwillig in die scheinbare Freiheit des Irreseins begibt, um die Welt vor seiner Entdeckung, der Ergründung der Baupläne für die Atombombe, zu schützen. Zwar scheitert sein Vorhaben an dem Zufall, dass er sich in die Obhut der Irrenärztin Mathilde von Zahnd begibt, die ihrerseits verrückt ist und es auf Möbius Baupläne abgesehen hat, doch macht erst die äußere Welt, welche die Bombe als nötig erachtet und Böses damit vorhat, diesen Zufall fatal.

[...]


[1] Friedrich Dürrenmatt über F. D. in: Text + Kritik, S. 19

[2] Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme, S. 47

[3] Friedrich Dürrenmatt in: Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold, S. 41

[4] Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe in 30 Bänden, Band 18, S. 12

[5] Ebd., S. 17

[6] Ebd., Band 20, S. 21

[7] Ebd., S. 34

[8] Theaterprobleme, S. 30

[9] Friedrich Dürrenmatt: Theater- Schriften und Reden, S. 60

[10] Theaterprobleme, S. 43

[11] Ebd.

[12] Theaterprobleme, S. 43

[13] Ebd.

[14] Ebd., S. 44

[15] Ebd.

[16] Theaterprobleme, S. 47

[17] Ebd.; neu ist diese Theorie aber nicht. Der österreichische Dramatiker Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929) beurteilt die Situation nach Ende des Ersten Weltkriegs ähnlich: „Nach verlorenen Kriegen muß man Lustspiele schreiben.“ Auch der amerikanische Dramatiker Eugene O’Neill (1888 – 1953) prophezeite 1945: „Jetzt ist die Zeit für Lustspiele gekommen. Es werden sehr bittere Komödien sein.“ Aus: Der Spiegel, Nr.28, 1959, S. 49

[18] Friedrich Dürrenmatt: Romulus der Große, Werkausgabe Band 2, S. 25

[19] Friedrich Dürrenmatt in: Horst Bienek: Werkstattgespräch mit Schriftstellern, S. 101

[20] Theaterprobleme, S. 47

[21] Ebd., S. 7

[22] vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Band 12

[23] Sigrid Mayer, Friedrich Dürrenmatt, S. 4

[24] Theaterprobleme, S. 8

[25] Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 38

[26] Friedrich Dürrenmatt: Die Wiedertäufer, in: Werkausgabe in 37 Bänden, Band 10, S. 130

[27] Die Wiedertäufer, S. 132

[28] Die Wiedertäufer, S. 131

[29] Friedrich Dürrenmatt: Dramaturgisches und Kritisches, S. 185

[30] Bienek, S. 101

[31] Ebd., S. 109

[32] Manfred Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss, S. 34

[33] Theater- Schriften und Reden, S. 185

[34] Ebd., S. 186

[35] Theater- Schriften und Reden, S. 186

[36] Friedrich Dürrenmatt in: Fritz J. Raddatz: ZEIT-Gespräche 3, S. 207

[37] Theater- Schriften und Reden, S. 63

[38] Bienek, S. 101

[39] Theater- Schriften und Reden, S. 133

[40] Ebd., S. 136

[41] Theater- Schriften und Reden, S. 136

[42] Bienek, S. 106

[43] Ebd., S. 101

[44] vgl. beispielsweise: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, 21 Punkte zu den Physikern, Werkausgabe in 37 Bänden, Band 7, S. 92, dort heißt es: „10. Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd [sinnwidrig]. 11. Sie ist paradox.“

[45] Theaterprobleme, S. 48

[46] Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss, S. 43

[47] Theaterprobleme, S. 50

[48] Ebd., S. 48

[49] Friedrich Dürrenmatt: Sätze über das Theater, in: Text und Kritik, S. 13

[50] Manfred Durzak: Dramaturgie des Labyrinths, S. 184

[51] Die Physiker, S. 91

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
"Uns kommt nur noch die Komödie bei" - Eine Untersuchung zu Friedrich Dürrenmatts 'Meteor' und seiner Dramaturgie des Einfalls
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
1,4
Autor
Jahr
2005
Seiten
85
Katalognummer
V50787
ISBN (eBook)
9783638469265
Dateigröße
681 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Komödie, Eine, Untersuchung, Friedrich, Dürrenmatts, Meteor, Dramaturgie, Einfalls
Arbeit zitieren
Susanne Zolke (Autor:in), 2005, "Uns kommt nur noch die Komödie bei" - Eine Untersuchung zu Friedrich Dürrenmatts 'Meteor' und seiner Dramaturgie des Einfalls, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50787

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