Die Politik des leeren Stuhles


Hausarbeit, 1999

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die Rahmenbedingungen der „Politik des leeren Stuhles“

2. Die „Politik des leeren Stuhles“
2.1. Festhalten am Bewährten
2.2. Die Entwicklung bis zur Gemeinschaftskrise
2.3. Die gescheiterte Agrarfinanzierung als Scheingrund
2.4. Die Entwicklung der Gemeinschaftskrise bis zum Luxemburger Kompromiß
2.5. Die Auswirkungen der Gemeinschaftskrise
2.6. Der Faktor de Gaulle

3. Resümee und Ausblick

1. Die Rahmenbedingungen der „Politik des leeren Stuhles“

Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in den Jahren 1952 und 1957 begannen die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg den europäischen Einigungsprozeß nach dem Zweiten Weltkrieg voranzutreiben.

Doch nach der erfolgreichen Zusammenarbeit im Bereich der Wirtschaft sollten die Nationalstaaten immer mehr Entscheidungen an die supranationalen Organe der Europäischen Gemeinschaften abgegeben. Entscheidungen im Ministerrat sollten daher ab dem 1. Januar 1966 nicht mehr einstimmig, sondern per Mehrheitsbeschluß gefällt werden. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle wendete jedoch diese in den Römischen Verträgen[1] festgehaltene Regelung im Jahr 1965 durch den Rückzug seiner Minister aus dem Ministerrat ab.

Dieser als „Politik des leeren Stuhles“ bezeichnete Boykott wirkt sich bis heute auf den europäischen Einigungsprozeß aus. Doch wie ist er in den politischen Kontext einzuordnen? Was war die Ausgangslage, aus der die „Politik des leeren Stuhles“ resultierte? Wie lief die Genese des Boykottes ab und was waren seine Auswirkungen? Welche Rolle spielte Charles de Gaulle für die „Politik des leeren Stuhles“ und welche Alternativen hätte es im Frankreich der 1960er Jahre zur Politik de Gaulles gegeben? Mit der Beantwortung dieser Leitfragen soll im Folgenden die „Politik des leeren Stuhles“ näher beleuchtet werden.

2. Die „Politik des leeren Stuhles“

2.1. Festhalten am Bewährten

Maurice Couve de Murville, der französische Außenminister der Jahre 1958 bis 1968, schrieb 1973, daß der Verzicht eines Landes auf die Durchsetzung seiner nationalen Interessen in dem jeweiligen Land auch wirklich akzeptiert werden müsse. Daher dürfe den Staaten der Europäischen Gemeinschaft eine Politik nicht durch Mehrheitsentscheidung aufgezwungen werden. Vielmehr sei das Prinzip der Einstimmigkeit unerläßlich, da nur so die souveränen Interessen eines Staates gewahrt blieben. Schließlich habe die Praxis der letzten zwölf Jahre nachweislich gezeigt, daß man nur mit der ständig gesuchten und erreichten Zustimmung der Mitgliedsstaaten handeln und vorankommen könne.[2]

Mit diesen Thesen gibt Couve de Murvilles genau die Standpunkte wieder, die von der französischen Regierung Charles de Gaulle vom Beginn ihrer Amtszeit im Jahre 1958 bis zu ihrer Demission 1969 vertreten worden sind. Mit seiner Argumentation, die Mehrheitsregel bei Entscheidungen im Ministerrat nicht einzuführen, führt Couve de Murville genau den Kernpunkt des Streites an, der die Europäischen Gemeinschaften im Jahr 1965 in eine existentielle Krise stürzte.

Die als „Politik des leeren Stuhles“ bezeichnete Krise war ein Boykott des Ministerrats durch die französischen Minister und fand ihren Ausgang in der Brüsseler Ministerratssitzung vom 28. bis 30. Juni 1965. Hier kamen die politischen Divergenzen zwischen den sechs Mitgliedsstaaten, die in den letzten Jahren immer deutlich geworden waren, voll zum Tragen.[3] Der Fortbestand der Gemeinschaften wurde somit grundlegend in Frage gestellt.[4] Doch wie konnte es zu solch einer Konfrontation zwischen den sechs verbündeten Staaten kommen?

2.2. Die Entwicklung bis zur Gemeinschaftskrise

Die Entscheidung Charles de Gaulles, keine französischen Vertreter mehr in den Ministerrat zu schicken, war im Juli 1965 keinesfalls eine Kurzschlußreaktion. Vielmehr kann die sich anschließende „Politik des leeren Stuhles“ als Folge oder Produkt einer langen Reihe von Differenzen zwischen den sechs Mitgliedsstaaten der europäischen Gemeinschaften betrachtet werden. De Gaulle machte sich dabei die Einstimmigkeitsregel zu Nutzen, die die übrigen Mitgliedsstaaten daran hinderte, Frankreich zu überstimmen.

Bereits kurz nach seiner Wahl zum französischen Staatspräsidenten im Jahr 1958[5] sprach sich de Gaulle gemeinsam mit dem französischen Kabinett gegen die Einführung von Mehrheitsentscheidungen aus. Diese sollten laut den Römischen Verträgen ab dem 1. Januar 1966 eingeführt werden.[6] Frankreich wollte zwar die Entwicklung der EWG fördern, um so von den großen wirtschaftlichen Vorteilen des Gemeinsamen Marktes zu profitieren. Doch war es nicht bereit, dabei nationalstaatliche Rechte an supranationale Organisationen abzugeben[7] und nationale Interessen zurückzustellen. Dieses Anliegen konnte Frankreich verwirklichen, in dem es das Einstimmigkeitsprinzip zu seinen Gunsten ausnutzte.

So mußte bereits die erste große Aufgabe innerhalb der neuen Gemeinschaft, die Errichtung eines Gemeinsamen Agrarmarktes, durch einen Kompromiß geregelt werden, da es zwischen der französischen Seite und der Position der anderen Mitgliedsstaaten erhebliche Interessensunterschiede gab.[8] Da dieses Projekt auf keinen Fall scheitern sollte und die Entscheidung der Einstimmigkeit bedurfte, mußten die Benelux-Staaten, Italien und die Bundesrepublik erheblich Zugeständnisse machen, um die Zustimmung Frankreichs zu erlangen.

Auch wenn dieses erste Projekt aufgrund der Einstimmigkeit weitgehendst zur Zufriedenheit Frankreichs gelöst wurde, so war es dennoch beschlossene Sache, 1966 das Mehrheitsprinzip einzuführen. Daher startete de Gaulle 1961 einen neuen Versuch, diese die nationalen Interessen so einschränkende Regelung doch noch abzuwenden. Er beauftragte seinen treuen Anhänger, den französischen Botschafter in Dänemark Christian Fouchet, ein Konzept einer Europäischen Politischen Union auszuarbeiten. Diese sollte zwar auch das Europäische Parlament und eine „Europäische Politische Kommission“ umfassen, doch war der Ministerrat mit den jeweiligen Staats- und Regierungschefs bzw. den jeweiligen Fachministern jedes Landes als einziger relevanter Entscheidungsträger vorgesehen. Dadurch wollte de Gaulle erreichen, daß der Einzelstaat seine eigenen Geschicke weiterhin selbst bestimmen konnte. Hierfür sahen die Fouchet-Pläne vor, daß der Ministerrat seine Entscheidungen einstimmig fällen sollte.[9] Doch scheiterten die Fouchet-Pläne, die zweifellos eine Abänderung der Römischen Verträge darstellten,[10] am Widerstand der Niederlande und Belgiens.[11] Somit scheiterten die Pläne selbst am Einstimmigkeitsprinzip, das de Gaulle ja eben durch diese Pläne gerade festschreiben wollte.

Nach dem Scheitern der Europäischen Politischen Union blieb de Gaulle, um die französischen Interessen zu wahren, fast keine andere Wahl als auf den bedingungslosen Einsatz des französischen Vetos zu setzen und somit Entscheidungen, die zur Folge haben sollten, daß nationale Entscheidungskompetenzen an die supranationalen Organisationen abgegeben werden, durch die fehlende Einstimmigkeit zu verhindern.

Somit war de Gaulle darauf bedacht, daß Frankreich weiterhin die unumstrittene Führungsrolle in der Sechsergemeinschaft inne hatte und lehnte daher jegliche britische Beteiligung an der Gemeinschaft ab, damit der Inselstaat durch den Gemeinsamen Markt nicht profitieren und seine Machtstellung in Europa nicht weiter ausbauen konnte. So sprach sich de Gaulle gegen die von Großbritannien 1956 vorgeschlagene europäische Freihandelszone aus und erreichte damit, daß sich die EWG an dieser nicht beteiligte.

Die daraufhin 1959 gegründete European Free Trade Association (EFTA), der neben dem Vereinten Königreich auch die Schweiz, Österreich, Norwegen, Schweden, Dänemark und Portugal angehörten, erwies sich allerdings als nicht dynamisch und erbrachte kaum wirtschaftliche Vorteile. Daher entschied sich Großbritannien am 9. August 1961 für einen Beitrittsantrag zur EWG.[12] Während Frankreichs Partner einen Beitritt begrüßten,[13] kam dies für die Grande Nation aus allein machtpolitischen Gründen nicht in Frage. Mußte Frankreich in der Gemeinschaft der Sechs die größte Machtposition allenfalls mit der Bundesrepublik teilen, wobei diese aber allein wegen ihrem historischen Erbe aus dem Zweiten Weltkrieg eine schwächere Position einnahm, so hätte der Beitritt der anderen europäischen Siegermacht eine eindeutige Gefährdung der französischen Machtstellung in der EWG bedeutet.[14] Außerdem sah Frankreich den geplanten Gemeinsamen Agrarmarkt existentiell gefährdet, da Großbritannien immer noch große Bindungen zu den Staaten des Commonwealth hatte, die ihrerseits ihre Interessen in die Europäische Gemeinschaft hineintragen hätten können.[15] Hinzu kam Großbritanniens enge Beziehung zu den USA. De Gaulles Konzeption zielte auf ein von den beiden Weltmächten USA und Sowjetunion unabhängiges „europäisches Europa“ ab und da ein britischer Beitritt wohl auch die Befürworter einer atlantischen Partnerschaft aus den übrigen EWG-Ländern gestärkt hätte, war zu befürchten, daß de Gaulles Absichten nach einem britischen Beitritt weniger Chancen gehabt hätten.[16] So war es eine logische Konsequenz, daß de Gaulle sich das Einstimmigkeitsprinzip ein weiteres Mal zu Nutzen machte. Am 14. Januar 1963 lehnte er den Beitritt Großbritanniens ab und konnte diesen bis ins Jahr 1973 hinauszögern.

[...]


[1] Die Römischen Verträge, die die Gründung der Euratom und der EWG regeln, traten am 1. Januar 1958 in Kraft. Vgl. Weidenfeld 1997, S.17.

[2] Couve de Murville 1973, S.245-246.

[3] Mirow 1977, S.172.

[4] Mirow 1977, S.172.

[5] Charles de Gaulle wurde an 1. Juni 1958 bereits zum zweiten Mal zum französischen Staatspräsident. Bereits von September 1944 bis zu seinem Rücktritt 1946 hatte er dieses Amt - zunächst provisorisch und ab November 1945 dann gewählt – inne.

[6] Mirow 1977, S.172.

[7] Mirow 1977, S.120.

[8] Frankreich, das als einziger EWG-Mitgliedsstaat seine Lebensmittelversorgung weitgehend durch Eigenversorgung decken konnte, war im Gegensatz zu den anderen fünf EWG-Mitgliedern nicht an billigen Einfuhren aus Drittländern, sondern an einem großen geschützten Exportmarkt interessiert. So kam es 1960 zu dem Kompromiß, das Frankreich Zugeständnisse bei der Reduzierung von Binnenzöllen machte, während die anderen fünf Staaten ihre Interessen bei den Außenzöllen und auf dem Agrarsektor zurückstecken sollten. Vgl. Mirow 1977, S.129.

[9] Mirow 1977, S.258.

[10] De Gaulle hatte die Römischen Verträge - und damit die Verlagerung von nationalen Interessen auf supranationale Ebene - ohnehin nur deshalb akzeptiert, weil er Westdeutschland ökonomisch an Frankreich binden wollte und dessen Handelsbeziehungen mit Osteuropa verhindern wollte. Dies gestand de Gaulle am 21. Dezember 1959 dem britischen Premier Macmillan. Vgl. Linsel 1998, S.170.

[11] Die Niederlande und Belgien ließen den Fouchet-Plan 1961 aus mehreren Gründen scheitern. Zum einen wandten sie sich dagegen, daß Großbritannien als künftiger Mitgliedsstaat nicht an der Ausarbeitung der Pläne beteiligt werden sollte. Vgl. Mirow 1977, S.260. Zum anderen befürchteten die zwei Staaten wohl zurecht, die Europäische Politische Union könne durch Frankreich und Deutschland dominiert werden. Vgl. Carstens 1993, S.249. 1962 wurde ein zweiter Fouchet-Plan vorgestellt, der die Rechte des Europäischen Parlament noch weiter beschnitt und auch in den Wirkungsbereich der Europäischen Kommission eingriff. Auch dieser Plan scheiterte. Vgl. Mirow 1977, S.263.

[12] Carstens 1993, S.246.

[13] Belgien und die Niederlande sahen in einen britischen EWG-Beitritt einen Gleichgewichtsfaktor innerhalb der Gemeinschaft, der die übermächtige Position Frankreichs und Deutschlands begrenzen sollte. Italien und Deutschland befürworteten den Beitritt aufgrund ihrer engen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich. Vgl. Mirow 1977, S.139.

[14] Ledwidge 1982, S.285.

[15] Mirow 1977, S.140.

[16] Mirow 1977, S.141.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die Politik des leeren Stuhles
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Institut für Politische Wissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
1999
Seiten
15
Katalognummer
V59310
ISBN (eBook)
9783638532891
ISBN (Buch)
9783638752626
Dateigröße
482 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politik, Stuhles
Arbeit zitieren
Dirk Wippert (Autor:in), 1999, Die Politik des leeren Stuhles, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59310

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