Sind Kindheitsjahre Schicksalsjahre? Der Einfluss früher Bindungserfahrungen auf die weitere Entwicklung - Schicksal oder interventionsoffen?


Magisterarbeit, 2005

106 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

1. Bindungstheoretische Grundaussagen
1.1 Die „Fremde Situation“ und ihre Bindungsqualitäten
1.2 Das Adult Attachment Interview (AAI) und seine Bindungsrepräsentationen
1.3 Das internale Arbeitsmodell

2 Stabilität vs. Labilität
2.1 Bindungsstabilität über Generationen
2.2 Die Bielefelder Längsschnittstudie
2.3 Von der Mutter-Kind-Dyade zur systemischen Betrachtung
2.3.1 Die Mutter und ihr feinfühliges Verhalten
2.3.2 Der Vater
2.3.3 Die eheliche Qualität
2.3.4 Das Kind als aktiver Mitgestalter der Interaktion
2.3.5. Der Einfluss von Fremdbetreuung
2.4 Risiko- und Schutzfaktoren und das Geheimnis der Resilienz
2.4.1 Die Kauai-Studie
2.5 Bindungsstörungen

3 Interventionen
3.1 Rückblick
3.2 Prävention, Intervention und mögliche Ansätze
3.2 Beispielhafte Interventionsstudien
3.2.1 Entwicklungspsychologische Beratung jugendlicher Mütter
3.2.2 Eltern-Kind-Psychotherapie unsicher gebundener Dyaden
3.2.3 Elterntraining mit Fokus auf mütterlicher Feinfühligkeit
3.2.4 Meta-Analyse verschiedener Interventionsstudien
3.2.5 allgemeine Bewertung bezüglich der Effektivität von Interventionen
3.3 Steps Toward Effective and Enjoyable Parenting (STEEP)
3.4 Positive Parenting Program (Triple P)

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang

Einleitung

Manche Menschen sind sich und dem Leben gegenüber optimistisch eingestellt, leben in stabilen Partnerschaften und haben einen verlässlichen Freundeskreis. Wenn sie mal Hilfe benötigen, dann haben sie keine Scheu, andere Menschen darum zu bitten und umgekehrt sind sie auch bereit, anderen zu helfen, wenn diese ihre Hilfe brauchen. Aber es gibt auch jene, denen das Leben eher schwer zu fallen scheint. Diese Menschen können ihrem Leben nichts Positives abgewinnen. Bei Problemen ziehen sie sich wie eine Schnecke in ihr Haus zurück, anstatt aktiv zu werden und nach Hilfe zu suchen. Sie geraten oft mit ihrem Partner oder ihren Freunden aneinander und leiden häufiger unter seelischen und körperlichen Beschwerden. Aber warum gelingt den einen scheinbar spielerisch, was den anderen schmerzlich verwehrt bleibt? Das Zauberwort lautet: „psychische Sicherheit“. Währendpsychische Sicherheit das Leben bereichert, schränkt psychische Unsicherheit dieses eher ein (vgl. Grossmann/Grossmann, 2004). Die Hauptgrundlage für eine solche psychische Sicherheit stellt eine sichere Bindungsbeziehung dar. Welch enorme Bedeutung eine sicher Bindung für die menschliche Entwicklung und das Verhalten eines Menschen besitzt, haben verschiedenste Untersuchungen bereits gezeigt. „Sicher gebundene Kinder zeigen mehr Kompetenz im Umgang mit anderen Kindern und eine positivere Wahrnehmung von sozialen Konfliktsituationen und sind sehr viel konzentrierter beim Spiel. Auch im Schul- und Jugendalter zeichnen sich sicher gebundene Kinder durch positive soziale Wahrnehmung, hohe soziale Kompetenz, beziehungsorientiertes Verhalten, bessere Freundschaftsbeziehungen mit Gleichaltrigen und Vertrauens- oder Liebesbeziehungen aus.“(Becker-Stoll, 2002). Im Vergleich dazu werden Jugendliche mit einer unsicheren Bindungsrepräsentation von ihren Freunden oftmals als wenig ich-flexibel, ängstlicher und feindseliger beschrieben, und sie zeigen auch häufiger spezifische Verhaltens- oder Bindungsstörungen. So konnte besonders in Untersuchungen an klinischen Stichproben gezeigt werden, dass bestimmte Störungsbilder von Jugendlichen systematisch mit deren Bindungsrepräsentanzen zusammenhingen.

Wenn bereits ein 12 Monate altes Kind eine Bindung zu seiner primären Bezugsperson aufgebaut hat, was mit der Methode von Mary S. Ainsworth (Strange Situation) erfassbar ist, gilt dann die Art der Bindung, auf der Basis der eben angeführten Zusammenhänge, als Schicksal? Bestimmt die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen, die kindliche Entwicklung dauerhaft? Sind das elterliche Verhalten und die daraus resultierenden Erfahrungen der Kinder Ursache für kindliche bzw. spätere Verhaltensauffälligkeiten oder –störungen? Und wenn ja, gibt es Möglichkeiten der Intervention?

Um einen allgemeinen Überblick zu erhalten, werde ich im ersten Teil meiner Arbeit auf bindungstheoretische Grundgedanken eingehen und die unterschiedlichen Bindungsmuster nach Ainsworth darstellen, wie sie innerhalb der „Fremden Situation“ erfasst werden. Des Weiteren gehe ich auf die so genannten Bindungsrepräsentanzen ein – wie sie erhoben werden und wie sie sich äußern. Der zweite Teil bezieht sich dann stärker auf die Frage nach der Stabilität bestehender Bindungsmuster, sowohl den Lebenslauf betreffend, als auch über Generationen hinweg. Dabei halte ich es für wichtig zu schauen, welche Faktoren einen Einfluss auf die Bindungsqualität, die Stabilität/ Labilität und die kindliche Entwicklung allgemein haben. Daran anschließend werde ich in meinem dritten Teil der Frage nach Interventionsmöglichkeiten nachgehen, unter Verwendung bereits durchgeführter Studien, um am Ende meine anfangs gestellte Frage zu beantworten: „Sind frühe Bindungserfahrungen Schicksal für die weitere Entwicklung oder gibt es Möglichkeiten der Intervention?“.

Ich werde in meiner Arbeit allerdings eher einer allgemeinen Betrachtung nachgehen, d.h. eventuelle Psychopathologien oder Behinderungen (körperlich, geistig, seelisch), sowohl der Eltern, als auch der Kinder und den Einfluss von Traumatisierungen werde ich ausschließen, da diese Themen meines Erachtens einen gesonderten Bereich darstellen, welcher stärker klinisch orientiert ist.

Zunächst jedoch beginne ich mit ein paar grundlegenden, bindungstheoretischen Aussagen.

1 Bindungstheoretische Grundaussagen

Die Bindungstheorie wurde durch den britischen Psychoanalytiker John Bowlby theoretisch begründet und in langjähriger Zusammenarbeit mit der Kanadierin Mary S. Ainsworth empirisch erhärtet. Den Anstoß zu seinem lebenslangen Forschungsprojekt erhielt Bowlby im England der Nachkriegszeit, als er als Kinderpsychiater Kontakt zu vielen Kindern hatte, die durch die Kriegswirren früh von ihren Eltern getrennt worden waren und zum Teil schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen aufwiesen, für die sich zunächst keine befriedigende Erklärung finden ließ. Er misstraute gleichermaßen den Erklärungsversuchen des Behaviorismus, für den sich jedes Verhalten in ein Reiz-Reaktionsschema pressen lässt, wie auch den empirisch nicht verifizierbaren Hypothesen der Psychoanalyse. Folglich sah er sich herausgefordert, eine erklärende Theorie für seine Beobachtungen zu formulieren, wobei ihm besonders die Erkenntnisse aus der Verhaltensbiologie (Konrad Lorenz mit seinem Werk über die Nachfolge-Reaktionen bei Enten- und Gänseküken und das Phänomen der Prägung) notwendige Anreize boten.

Ich möchte im Folgenden kurz auf einige Grundbegriffe seiner Theorie näher eingehen (vgl. Becker-Stoll/Grossmann; 2002)

Bowlby geht davon aus, dass es neben den Grundbedürfnissen der Nahrungsaufnahme und Sexualität, noch weitere Grundbedürfnisse gibt, zu denen die Bindung zählt. So ist besonders der Aufbau und der Erhalt sozialer Bindungen notwendig, da diese dem Individuum Sicherheit geben und vor seelischen Zusammenbrüchen schützen. Bindungen erhalten somit einen Überlebenswert. Eine Bindung wird als imaginäres Band betrachtet, welches in den Gefühlen einer Person verankert ist und sie über Raum und Zeit hinweg an eine andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, bindet. Die Bindung selbst gilt dabei als umweltstabil, d.h. ein Säugling „bindet“ sich immer an seine jeweilige Bindungsperson, wobei dies nicht ausschließlich nur auf eine einzige Person beschränkt ist. Bowlby geht vielmehr von einer Hierarchie der Bindungspersonen aus, wobei die primäre Bindungsperson am häufigsten mit dem Kind interagiert und besonders bei Stress, Angst oder Schmerz von diesem bevorzugt aufgesucht wird. Ein solches zielgerichtetes Verhalten, was versucht, Nähe zur Bindungsperson herzustellen, wird als Bindungsverhalten bezeichnet. Dazu gehören nicht nur unmittelbares Nähesuchen in Form von Nachfolgen oder Suchen, sondern auch kommunikatives (Schreien, Rufen, Weinen) ebenso wie Nähe erhaltendes Verhalten (Festhalten, Anklammern oder Trennungsprotest). Der motivgeleitete, zielorientierte Steuerungsmechanismus für dieses Verhalten (Nähe zur Bindungsperson herstellen) wird als Bindungsverhaltenssystem bezeichnet. Verhaltensweisen, die der Erkundung der Umwelt zur Optimierung der Anpassung dienen, werden als Explorationsverhalten bezeichnet, ihr motivgeleiteter, zielorientierter Steuerungsmechanismus als Explorationsverhaltenssystem. Ein kontinuierliches und feinfühliges Umsorgen in der frühen Kindheit gilt als Grundlage seelisch gesunder Entwicklung, ebenso wie eine offene, kohärente und realitätsnahe Kommunikation über das Erleben des Kindes. Dabei geht es nicht nur um die verbale, sondern besonders auch um die nonverbale Kommunikation (Gestik und Mimik). Das Ausmaß, mit der eine Bindungsbeziehung Sicherheit aus der Sicht des „Schwächeren“ der Beziehung vermittelt, bezeichnet Bowlb y als Bindungsqualität, welche umweltlabil ist. Nach M. Ainsworth gibt es hauptsächlich drei verschiedene Bindungsqualitäten (siehe Punkt 1.1.). Diese sind aus den spezifischen Verhaltensstrategien gegenüber den jeweiligen Bindungspersonen definier- und beobachtbar und können auf die „internalen Arbeitsmodelle“ zurückgeführt werden. Das internales Arbeitsmodell ist ein theoretisches Konstrukt, welches die Steuerung des Bindungs- und Explorationsverhaltenssystems, ebenso wie die Steuerung von Verhalten, Kognition und Emotion in emotional belastenden Situationen zu erklären versucht. Während sich das Arbeitsmodell bei einem einjährigen Kind im Verhalten niederschlägt, wird es im Erwachsenenalter über die Bindungsrepräsentation erhoben. Diese verdeutlicht die Art, wie ein Individuum seine bindungsrelevanten Ereignisse aus frühster Kindheit gegenwärtig erinnert und bewertet. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Art der sprachlichen Darstellung (siehe Punkt 1.2.).

1.1 Die „Fremde Situation“ und ihre Bindungsqualitäten

Nach Bowlby stellt das Bindungssystem ein primäres, genetisch verankertes motivationales System dar, das zwischen der primären Bezugsperson (meist die Mutter) und dem Säugling nach der Geburt aktiviert wird und überlebenssichernde Funktion besitzt. Der Säugling kommt mit einem spezifischen Verhaltensrepertoire ausgestattet zur Welt, was ihm ermöglicht, Nähe zu seiner Bezugsperson herzustellen (Bindungsverhalten). Reagiert jene Bindungsperson in feinfühliger Weise auf die Signale des Kindes, so wird das Bindungsverhalten relativ schnell zu Gunsten des Explorationsverhaltens deaktiviert. Die Bezugsperson wird als „sicherer Hafen“ gesehen, der dem Säugling nicht nur Schutz und Trost spendet, sondern auch ein sicheres und angenehmes Gefühl vermittelt. Somit bietet die Feinfühligkeit der Bindungsperson eine wesentliche Grundlage für die Bindungsqualität, welche sich innerhalb des ersten Lebensjahres zwischen Säugling und Bindungsperson entwickelt.

Unter einem feinfühligen Pflegeverhalten versteht M. Ainsworth (vgl. Brisch, 1999, S.41):

1. Die Mutter muss in der Lage sein, die kindlichen Signale mit größter Aufmerksamkeit wahrzunehmen. Verzögerungen in der Wahrnehmung können durch äußere oder innere Beschäftigung mit eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten entstehen.
2. Sie muss die Signale aus der Perspektive des Säuglings richtig deuten, etwa das Weinen des Kindes in seiner Bedeutung entschlüsseln (Weinen wegen Hunger, Unwohlsein, Schmerzen, Langeweile, etc.). Dabei besteht die Gefahr, dass die Signale des Säuglings durch die eigenen Bedürfnisse sowie die Projektionen dieser Bedürfnisse auf das Kind verzerrt oder falsch interpretiert werden.
3. Sie muss angemessen auf die Signale reagieren, also etwa die richtige Dosierung der Nahrungsmenge herausfinden, eher beruhigen oder Spielanreize bieten, ohne durch Über- oder Unterstimulierung die Mutter-Kind-Interaktion zu erschweren.
4. Die Reaktion muss prompt, also innerhalb einer für das Kind tolerablen Frustrationszeit erfolgen. So ist die Zeitspanne, in der ein Säugling auf das Gestilltwerden warten kann, in den ersten Wochen sehr kurz, wird aber im Laufe des ersten Lebensjahres immer länger.

Schon an dieser Stelle wird die aktive Rolle des Säuglings im interaktiven Prozess mit seiner Bindungsperson deutlich. Verschiedenste Forschungen haben sich mit diesem Thema näher beschäftigt, wobei besonders der Aspekt des Temperamentes Gegenstand der Untersuchungen war. Im weiteren Verlauf meiner Arbeit werde ich auf diesen Sachverhalt noch einmal detaillierter eingehen.

Die Interaktion zwischen Kind und primärer Bindungsperson ist in der Regel wechselseitig fließend und unterstützt die Entstehung des internalen Arbeitsmodells, welches gegen Ende des ersten Lebensjahres im Verhalten des Kindes zum Ausdruck kommt. Um dieses Verhalten detailliert zu untersuchen, schufen Ainsworth et al. (1969) eine experimentelle Situation, in der eine kurzfristige Trennung des einjährigen Kindes von seiner Mutter erzeugt wurde. Die Trennung von der Mutter stellt dabei eine emotional belastende Situation dar, innerhalb welcher das Kind, nach Bowlbys Theorie, mit Bindungsverhalten reagieren müsste. Die darauf folgende Wiedervereinigung mit der Mutter sollte dann zur Beruhigung des Bindungsverhaltens und zur Aktivierung des Explorationsverhaltens führen.

Das gezeigte Verhalten der Kinder innerhalb dieser experimentellen Situation wird als Bindungsstrategie interpretiert und als Ausdruck einer zugrunde liegenden Bindungsqualität an die Bindungsperson verstanden (vgl. Gloger-Tippelt, 2001; Grossmann, 2004).

Ainsworth stellte in ihren Beobachtungen fest, dass die Kinder im Allgemeinen drei unterschiedliche Verhaltenstendenzen zeigten, welche sie als sicher, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent bezeichnete. Diese wurden in den 80er Jahren von Main und Solomon (1986) um eine vierte Klassifikation erweitert.

Bindungsqualitäten

Die sichere Bindung (B-Bindung):

Sicher gebundene Kinder kommunizieren in der Trennungssituation offen ihren Kummer, lassen sich allerdings in der Wiedervereinigungssituation schnell trösten und wenden sich auch bald wieder ihrem Spiel zu. Sie zeigen eine ausgewogene Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten, was als förderlich für die Entwicklung gilt.

Basierend auf seinen bisherigen Interaktionserfahrungen mit der primären Bindungsperson und den daraus resultierenden Erwartungen beginnt das Kind sein Verhalten zielgerichteter einzusetzen (Bindungsverhaltensstrategie), was auf ein bereits vorhandenes, aber noch recht primitives internales Arbeitsmodell hinweist. Kennzeichnend für die sichere Bindung ist dabei ein angemessenes und feinfühliges Eingehen der Bindungsperson auf die kindlichen Bedürfnisse, insbesondere für sein Bedürfnis sowohl nach Nähe als auch nach Exploration.

Die unsicher-vermeidende Bindung (A-Bindung):

Kinder, die als unsicher-vermeidend klassifiziert werden, zeigen innerhalb der Trennungssituation nur wenig Kummer und konzentrieren sich verstärkt auf ihr Spiel. Beim Wiederkehren der Bindungsperson vermeiden sie aktiv deren Nähe. Ihre Aufmerksamkeit ist dabei größtenteils auf das Explorationsverhalten gerichtet, das Bindungsverhaltenssystem dagegen ist deaktiviert. Auf einen außenstehenden Beobachter wirken diese Kinder enorm selbständig, unabhängig und beinahe gefühlskalt. Bei der Untersuchung des Cortisolspiegels jedoch zeigte sich ein ganz anderes Bild, denn trotz vermeidender Haltung waren diese Kinder enorm gestresst. Demnach kann ihre Vermeidungsstrategie auch als maladaptiv bezeichnet werden. Auch hier spiegeln sich die frühen charakteristischen Erfahrungen mit der Bindungsperson wider, welche gekennzeichnet sind durch fehlende Unterstützung, Unfeinfühlichkeit und Zurückweisung. Die gezeigte kindliche Verhaltensstrategie stellt somit eine Anpassung dar, welche das Kind vor weiterem Schmerz oder Verwirrung schützt.

Die unsicher-ambivalente Bindung (C-Bindung):

Unsicher-ambivalente Kinder weinen innerhalb der Trennungssituationen heftig und lassen sich auch nur schwer beruhigen. Ihr Verhalten ist von Ambivalenz geprägt, d.h. einerseits suchen sie die Nähe zur Bindungsperson, reagieren gleichzeitig aber auch kontaktabwehrend, was sich in Form von Ärger, Wut oder passiver Verzweiflung äußert. Ihre Aufmerksamkeit ist dabei größtenteils auf das Bindungsverhalten gerichtet. Sie scheinen in ständiger Alarmbereitschaft zu stehen, was so gut wie keine Exploration mehr ermöglicht. Die Bindungsperson selbst ist in Ihrem Verhalten oft sehr ambivalent. Dies löst eine enorme Verunsicherung des Kindes bezüglich zu zeigender Reaktionen aus, da es nicht genau weiß, welches Verhalten seitens der Bindungsperson zu erwarten ist.

Die desorganisierte/desorientierte Bindung (D-Bindung):

Dieses Muster wird zusätzlich zu den anderen Klassifikationen bewertet. Während der Trennungssituation verfügen die Kinder über keine Bewältigungsstrategien und zeigen innerhalb der Wiedervereinigungsepisode unvereinbare Verhaltensweisen, wie z.B. stereotype Bewegungen nach dem Aufsuchen von Nähe, Phasen der Starrheit („freezing“) oder Ausdruck von Angst gegenüber einem Elternteil. Main und Hesse (1990) erarbeiteten in diesem Zusammenhang ein Beschreibungssystem, mit dem sieben Formen des desorganisierten Bindungsverhaltens differenziert werden konnten (vgl. Zulauf-Logoz, 2004). Desorganisiertes Verhalten wird besonders von vernachlässigten oder misshandelten Kindern gezeigt, oder von Kindern, deren Eltern eigene traumatische Erlebnisse noch nicht verarbeitet haben. Ahnert (2004) führt bezüglich der Desorganisation an: „Desorganisiertes Bindungsverhalten dagegen reflektiert Bindungsstörungen, da sie sich auf deutlich abweichende Merkmale innerhalb der bekannten Bindungsbeziehungen beziehen (Brisch 1999; Main/Solomon 1986; 1990; van IJzendoorn et al. 1999). Es sind Merkmale, welche die Organisation und Struktur einer Beziehung nur schwer erkennen lassen, wie beispielsweise unvollendete oder zeitlich unlogische Bewegungsabfolgen sowie das gleichzeitige Auftreten gegensätzlicher Verhaltenstendenzen.“(S. 69). Desorganisierte Bindung kann daher auch als Risiko-Faktor für die weitere emotionale Entwicklung betrachtet werden.

Die Fremde Situation hat sich als Methode zur Erfassung der Bindungssicherheit einjähriger Kinder vielfach bewährt und findet auch heute noch ihre Anwendung.

Ich möchte an dieser Stelle auf eine weitere wichtige Untersuchungsmethode eingehen – das Adult Attachment Interview von George, Kaplan und Main (1984/1985/1996). Es ist heute ebenso populär wie die Fremde Situation von Ainsworth. Gloger-Tippelt (2001) hat sich sehr ausführlich mit dieser Erhebungsmethode auseinander gesetzt.

1.2 Das Adult Attachment Interview (AAI) und seine Bindungsrepräsentationen

Das AAI ist ein halbstrukturiertes, klinisches Interview, was die Bindungsrepräsentation von Jugendliche und Erwachsenen erhebt. In seinen Fragestellungen befasst es sich besonders mit den frühen Bindungserfahrungen des Interviewten innerhalb seiner Herkunftsfamilie und der persönlichen Einschätzung der Bedeutung dieser aus heutiger, aktueller Sicht. Dabei ist zu beachten, dass vielmehr die subjektiven Erfahrungen erfasst werden und nicht die realen. Im Mittelpunkt steht damit auch nicht der Inhalt selbst, d.h. konkrete Erlebnisse aus der Kindheit, sondern ihre jeweilige Verarbeitung und Bewertung, welche in der Art der sprachlichen Darstellung zum Ausdruck kommt (Fragen des Adult Attachment Interviews, siehe Anhang 1). Ausgehend von der persönlichen Beschreibung und Erörterung bindungsrelevanter Erlebnisse seitens des Interviewten kann auf seine verinnerlichte Bindungsrepräsentation geschlossen werden. Zentraler Gesichtspunkt bei der Auswertung ist dabei die Einhaltung zentraler Konversationsmaximen (siehe Gloger-Tippelt, 2001, S. 111 ff.)

Im Zuge der Auswertung fand man auch hier wieder die vier Grobklassifikationen, welche ich kurz darstellen möchte.

Bindungsrepräsentationen

Das sicher - autonome Bindungsmodell

Personen mit diesem Modell erinnern sich gut und lebhaft an Kindheitserfahrungen und sprechen offen und frei auch über widersprüchliche und unangenehme Gefühle zu ihren Bezugspersonen Dabei ist es weniger wichtig, ob diese Erfahrungen eher unterstützend oder einschränkend waren, sondern vielmehr wie sie heute bewertet werden. Autonome Menschen urteilen wertschätzend über ihre Bindungsbeziehungen und erachten diese als wesentlich für ihre persönliche Entwicklung und ihre Elternschaft. Dabei werden eventuelle negative Erfahrungen mit den Eltern aus aktueller Sicht in einer eher versöhnlichen oder humoristischen Weise berichtet. Ein wichtiges Kennzeichen des autonomen Modells besteht somit in der Kohärenz, d.h. wie und ob spezifische Erfahrungen integriert und ausgewogen dargestellt werden. Der Zugang zu bindungsrelevanten Erlebnissen ist dabei vollständig und unverzerrt, statt lückenhaft und brüchig. Kohärenz stellt somit das wichtigste Kriterium für eine sichere Bindung dar.

Das unsicher - distanzierende Modell

Bei Menschen mit diesem Bindungsmodell fällt die Kohärenz eher sehr niedrig aus. Sie besitzen nur wenige, vage oder keine Erinnerungen an Kindheitsbeziehungen und neigen trotz zurückweisender Erfahrungen häufig dazu, ihre Eltern zu idealisieren ohne dafür konkrete Beispiele oder Erlebnisse benennen zu können. Sie bagatellisieren oder leugnen ihre negativen Erfahrungen und werten Bindungen komplett ab. Ein markantes Merkmal unsicher-distanzierter Menschen ist die enorme Betonung ihrer Unabhängigkeit, Leistung und Stärke, was dazu führt, das sie sehr selbstsicher, aber auch gefühlskalt wirken.

In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu wissen, ob die frühkindlichen Erfahrungen nicht erinnert werden können oder nicht erinnert werden wollen. Innerhalb des AAI werden Erfahrungen aus dem deklarativen Gedächtnis erfragt, wogegen die Fremde Situation das Verhalten (prozedurale Perspektive) von Kleinkindern beobachtet. Bowlby folgte in seiner Konzeption der internalen Arbeitsmodelle dem Modell von Tulving. Danach wird das deklarative Gedächtnis in semantisches und episodisches Gedächtnis unterteilt. Das semantische Gedächtnis umfasst verbal enkodierte Informationen auf einem allgemeinen und abstrakten Niveau, was auch Einstellungen und Vorstellungen anderer Personen (Eltern) enthält. Hier scheint der Ursprung der Idealisierung zu liegen. Das episodische Gedächtnis dagegen umfasst persönliche Erinnerungen, die chronologisch aufeinander folgen bzw. in räumlich-zeitlicher Beziehung stehen. Sie enthalten visuelle oder auditive Informationen ebenso wie die mit den Erinnerungen verbundenen Gefühle. Dabei müssen die Inhalte der Gedächtnissysteme nicht immer identisch sein. Ein Kind kann seine Bindungsperson episodisch als zurückweisend erleben, wenn diese sagt, er solle sich nicht so anstellen. Es kann sie auf der semantischen Ebene aber auch als liebevoll und fürsorglich speichern, wenn diese wiederholt und häufig auf ihre Fürsorge verweist (vgl. Gloger-Tippelt, 2001, S. 157 ff.). Bezüglich der internalen Arbeitsmodelle erstellt das Kind nicht nur ein Modell von sich selbst, sondern auch von seiner Bindungsperson und von seiner Interaktion mit dieser (siehe Punkt 1.3.). Solcherart inhaltlich widersprüchliche Informationen des semantischen und episodischen Gedächtnisses bilden die Anfänge in der Entwicklung möglicher Abwehrmechanismen, die im Ausschluss von bindungsrelevanten Informationen münden kann (Bowlby, 1983). Somit scheinen die Abwehrmechanismen verantwortlich für die nur vage Erinnerung episodischer Gedächtnisinhalte zu sein. Der Interviewte scheint folglich wirklich keinen Zugang zu diesen zu haben.

Das unsicher - präokkupierte, verwickelte Modell

Diesem Modell werden Personen zugeordnet, die als Erwachsene immer noch emotionale Verwicklungen mit den Bezugspersonen aus ihrer Kindheit aufweisen. Dabei bewerten sie ihre häufig negativen Beziehungen zu den Eltern über, wobei sie sich nicht wirklich von diesen abgrenzen können. Während sie über persönliche Bindungserfahrungen sprechen, sind begleitende Gefühle von Ärger oder „hilflos ausgeliefert sein“ dominierend, wobei ihre Aussagen eher verwirrend, widersprüchlich und wenig objektiv sind. Die Kohärenz des Berichtes fällt somit auch bei diesen Personen sehr gering aus.

Der unverarbeitete Bindungsstatus

Diese Klassifikation ist den drei Hauptkategorien insofern vorgeordnet, da sie zusätzlich vergeben wird. Als typisch gelten dabei sprachliche Auffälligkeiten (Versprecher), ängstliche oder irrationale Schilderungen früher Verluste von Bindungspersonen oder Traumata, z.B. Vorstellungen über das eigene Verschulden des Todesfalles, ebenso wie logische Fehler oder uneindeutige Angaben.

Vergleicht man die Bindungsmuster der Fremden Situation mit den Bindungsrepräsentationen aus dem AAI, so kommt man zu dem Schluss, dass diese eine enorme Ähnlichkeit aufweisen. Vielmehr noch, denn in beiden Methoden sind die grundlegenden Strategien gleich, nur dass diese sich innerhalb der Fremden Situation im Verhalten äußern (prozedural), sich innerhalb des AAI jedoch aus der sprachlichen Darstellung ergeben (deklarativ). Grundlage dafür bildet das „internal working model“ nach Bowlby. Dieses internale Arbeitsmodell dient nicht nur dazu, das Verhalten der Bindungsperson zu interpretieren und vorherzusagen, sondern steuert auch die Regulation des eigenen Verhaltens, Fühlens und Denkens.

1.3 Das internale Arbeitsmodell

Das internale Arbeitsmodell ist ein theoretisches Konstrukt. Bowlby orientierte sich dabei an den Entwicklungsphasen nach Piaget. Dieser nimmt an, dass der Säugling sich innerhalb der ersten Phase (sensumotorisch) über die Prozesse der Assimilation und Akkomodation die Welt organisiert und verinnerlicht. Die kognitive Entwicklung erstreckt sich weiter über so genannte Entwicklungsstufen von der präoperationalen Phase über die konkret-operationale hin zur formal-operationalen Phase. Dabei zeigt er anhand detaillierter Beobachtungen auf, wie ein Kind lernt, dass Personen und Objekte auch dann weiter existieren, wenn diese nicht zu sehen sind (anhand des kindlichen Suchverhaltens). Im Zuge der weiteren Entwicklung lernt es, Perspektiven zu übernehmen und auf mehrere Dimensionen gleichzeitig zu achten, wobei das kindliche Denken, anfänglich noch an konkrete Operationen gebunden, immer hypothetischer und abstrakter wird. Orientierend an den Entwicklungsstufen nach Piaget schrieb Bowlby, dass ein Kleinkind innerhalb seines ersten Lebensjahres auf der Basis der Interaktionserfahrungen mit seiner Bindungsperson bereits ein primitives, noch sehr flexibles Arbeitsmodell erstellt hat, welches anfangs noch sehr stark an das konkreten Verhalten der Bindungsperson angepasst ist. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Kleinkindes entwickelt sich auch sein Arbeitsmodell.

Bowlby (1969/1982) schrieb in diesem Zusammenhang:

„Starting, we may suppose, towards the end of his first year, and probably especially actively during his second and third when he acquires the powerful and extraordinary gift of language, a child is busy constructing working models of how the physical world may be expected to behave, how his mother and other significant persons may be expected to behave, how he himself may be expected to behave, and how each interacts with the other. Within the framework of these working models he evaluates his situation and makes his plans. And within the framework of the working models of his mother and himself he evaluates special aspects of his situation and makes his attachment plans.”

(p. 354)

Bowlby bezeichnet die ersten Jahre als “sensible Phase”. Durch die Sprach- und Denkentwicklung beginnt das Kind zielkorrigierte Partnerschaften einzugehen, d.h. es weiß, das andere Menschen nicht die selben Ziele und Absichten verfolgen, wie es selbst und dass sich auch die jeweiligen Bedürfnisse voneinander unterscheiden können. Auf dieser Grundlage ist das Kind fähig, Abstimmungen mit seiner Bindungsperson einzugehen und Pläne zu erstellen. Während in der Säuglingszeit primär eine Anpassung des elterlichen Verhaltens auf die kindlichen Bedürfnisse erfolgte, ist es nun möglich, die elterlichen mit den kindlichen Bedürfnissen abzustimmen.

Das internale Arbeitsmodell umfasst dabei in seiner Organisation und Struktur ein Modell der Welt, in welcher das Individuum lebt und agiert, ebenso wie ein Modell von seiner Bindungsperson und von sich selbst, in Interaktion mit dieser. Dabei verweist Bowlby auf die Tatsache, dass ein Mensch mehrere Arbeitsmodelle unterschiedlicher Personen erstellt. Dies wird besonders bei Kindern deutlich, welche zur Mutter eine andere Bindungsqualität aufweisen als zum Vater (vgl. van IJzendoorn, 1995). Sind die Interaktionserfahrungen durch Feinfühligkeit und emotionale Unterstützung gekennzeichnet, so erlebt sich das Kind selbst als wertvoll, kompetent und geschätzt, wobei beide Modelle sich im Einklang befinden, was zu einem kohärenten Bild führt. Wird das Bindungsverhalten des Kindes dagegen konsistent abgelehnt, lächerlich gemacht oder absichtlich ignoriert, dann behindern „Abwehrprozesse“ den Aufbau adäquater Arbeitsmodelle. „Um die Prozesse zu erklären, die sich in solchen Bindungsbeziehungen abspielen, wandte sich Bowlby der Literatur aus dem Bereich Informationsverarbeitung zu. Er bezog sich besonders auf den immer wieder belegten Befund, daß Informationsverarbeitungsprozesse unumgänglich selektiv sein müssen, weil die verfügbare Informationsmenge die menschliche Verarbeitungskapazität weit übertrifft. In Anlehnung an den selektiven Informationsausschluß, der im Laufe der normalen Informationsverarbeitung eintritt, führte Bowlby als Sonderfall den Begriff >>abwehrbedingter Ausschluß<< ein.“ (Bretherton, 2002, S. 17/18).

Bretherton und Munholland (1999) fügten an anderer Stelle an, dass: „ However, if one takes seriously Bowlby`s suggestion that defensive processes run the gamut from conscious suppression to unconscious repression, some of the phenomena Bowlby described make more sense in terms of the defensive misattributions than merely in terms of defensive exclusion and diversion.” (S. 98).

Nach Bretherton wäre es folglich besser, nicht von Unterdrückung oder Verdrängung zu sprechen, sondern von einer abwehrbedingten Fehlattribution auszugehen. Attributionen (Ursachenzuschreibungen) selbst dienen primär der sozialen Orientierung und sind unvermeidlich, so die Annahme der Attributionstheorie. Irrtümer bzw. Fehlattributionen können sich dabei im Selbstwertbezug, im falschen Konsens oder in der Vermenschlichung niederschlagen. Bezogen auf den Selbstwert werden internale von externalen Attributionen unterschieden. So kann ein Mensch persönliche Erfolge in Leistungssituationen auf das eigene Können zurückführen (internal) und Misserfolge dagegen der Übermacht oder Bosheit der Umwelt zuschreiben (external), oder umgekehrt, je nach Orientierung – Misserfolgs- vs. Erfolgsorientierung. Des Weiteren neigen Menschen dazu, ihr eigenes Verhalten als weit verbreitet und normal anzusehen, während sie (unwillkommene) Handlungen anderer als außergewöhnlich und unangemessen einschätzen, was zu einem falschen Konsens führt. In Bezug auf die Vermenschlichung hat man festgestellt, dass Menschen dazu neigen, Handlungen eher auf menschliche Einwirkungen oder persönliche Merkmale zurückführen als auf Umwelteinflüsse (Brockhaus Psychologie, 2001). Erstes und letzteres zeigt sich besonders bei Menschen mit unverarbeitetem Bindungsstatus, die traumatische Lebensereignisse dem eigenen Verschulden zuschreiben.

Das Modell des internalen Arbeitsmodells, ebenso wie seine steuernde Funktion, erscheinen sehr plausibel. Wie und welche Erfahrungen der Mensch jedoch aufnimmt, verarbeitet und bewertet, scheint nicht wirklich klar zu sein, was u. U. daran liegt, dass es sich bei dem internalen Arbeitsmodell um ein theoretisches Konstrukt handelt, was nur schwer zu erfassen ist. Die Arbeitsmodelle selbst stellen eine Art zentralen Punkt dar, von dem aus Situationen bewertet, Emotionen reguliert und Handlungen gesteuert werden. Der empirische Zugang kann sowohl auf der prozeduralen, als auch auf der deklarativen Ebene erfolgen, d.h. sowohl das Verhalten als auch aktuelle Bewertungen bindungsrelevanter Erfahrungen gelten als Veräußerung des internalen Arbeitsmodells. Mit Bowlby mitgehend lässt sich ein wünschenswerter seelischer Zustand wie folgt beschreiben: Ein Kind bzw. eine Person besitzt ein internales Arbeitsmodell von seinen Bindungspersonen, wonach sie prinzipiell verfügbar und bereit zu reagieren und zu helfen sind, wenn dies gewünscht wird, und sie hat eine entsprechende komplementäre Vorstellung von sich als einer im Grunde liebenswerten und wertvollen Person, die es verdient, dass man ihr hilft, wenn sie Hilfe benötigt (vgl. Grossmann, 2004, S. 79). Bowlby geht weiter davon aus, dass eine sichere Bindung zu emotionaler und psychischer Gesundheit führt. Bedeutet dies wiederum, dass eine unsichere Bindung mit Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen einhergeht? Wie stark ist dabei der prognostische Wert frühzeitiger Bindungserfahrungen? Bowlby ging davon aus, dass innerhalb der sensiblen Phase das Arbeitsmodell noch sehr leicht veränderbar ist und erst danach immer stabiler wird. In diesem Zusammenhang erscheint es mir als wichtig, erst einmal die Stabilität der Bindungsmuster und damit einhergehend die Stabilität der Arbeitsmodelle einer näheren Betrachtung zu unterziehen, um anschließend auf den eventuellen pathogenen Charakter unsicherer Bindungen einzugehen.

2 Stabilität vs. Labilität

Wie bereits anfangs erwähnt bestimmt das feinfühlige Verhalten der Bindungsperson die Bindungsqualität des Kindes, welche innerhalb der Fremden Situation erfasst werden kann. Im Zuge der Entwicklung des Adult Attachment Interviews war es den Forschen möglich, Bindungsqualitäten in ihrer Entwicklung über die Lebensspanne hinweg näher zu betrachten. Auch Bowlby nahm an, dass die Bindung nicht einfach im Jugendalter aufhört, sondern sich von der Geburt bis zum Grabe hin erstreckt. Anhand einer Langzeituntersuchung (Bielefelder) unter Anleitung von Klaus Grossmann werde ich der Frage nachgehen, ob frühste Bindungserfahrungen einen Einfluss auf die weitere Entwicklung haben. Zuvor möchte ich jedoch auf eine Erkenntnis aus Querschnittsuntersuchungen eingehen, die nicht nur theoriebestätigenden, sondern auch theorieerweiternden Charakter besitzt.

2.1 Bindungsstabilität über Generationen

In Untersuchungen, welche die Bindungsqualität von Kindern in der Fremden Situation klassifizierten, wurde zusätzlich die Bindungsrepräsentation der Mütter mit dem AAI erhoben. Im Ergebnis stellte sich heraus, dass beide, sowohl die Bindungsrepräsentation der Mutter als auch die Bindungsqualität ihres Kindes, bezüglich der Klassifikation übereinstimmten. Unsichere Mütter hatten unsicher gebundene Kinder und sicher gebundene Kinder konnten auf eine sichere Mutter zurückgreifen. In einer Meta-Analyse untersuchte van IJzendoorn (1995) die Vorhersagevalidität des Adult Attachment Interviews. Er stellte fest, dass bei einer Grobunterscheidung zwischen unsicherer und sicherer Bindung die Übereinstimmung zwischen elterlicher und kindlicher Bindungsklassifikation bei 75% lag. Bei einer Unterscheidung der drei klassischen Bindungsmuster (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent) ergab sich eine etwas geringere Übereinstimmung von 70%. „The standardized residuals showed that an autonomous parental attachment representation was less compatible with an insecure infant attachment.” (van IJzendoorn, 1995, S. 393). Besonders bedeutsam sind dabei vorgeburtliche Untersuchungen der elterlichen Bindungsrepräsentation. Miriam und Howard Steel (2002) erfassten die Bindungsrepräsentanz schwangerer Frauen und verglichen diese mit der Bindungsklassifikation ihrer Kinder im Alter von 12 Monaten in der Fremden Situation. Bei der Betrachtung der drei klassischen Bindungsmuster ergab sich auch hier eine Übereinstimmung von 69%. Wurden alle vier Bindungskategorien in die Untersuchung mit einbezogen, so zeigte sich eine Übereinstimmung von 63%-65%. Die Weitergabe der Bindungsmuster über die Generationen hinweg wird in der Literatur oft als „transgenerationaler Effekt“ oder „transgenerational cycle“ bezeichnet und betont dabei die enorme Stabilität der Bindungsmuster.

Wenn nach Ainsworth das feinfühlige Verhalten der Mutter ausschlaggebend für die Qualität der Mutter-Kind-Bindung ist, nun aber auch anhand der Bindungsrepräsentation Vorhersagen auf die Bindungsqualität getroffen werden können, was beeinflusst dann mehr? Oder ergibt sich das eine aus dem anderen? Auch dieser Frage ging van IJzendoorn (1995) in seiner Meta-Analyse nach, indem er sich die Effektstärken näher betrachtete. Ausgehend von den Effektstärken, welche sich im Zusammenhang zwischen Bindungsrepräsentation der Eltern und Bindungsqualität des Kindes ergeben, schlussfolgerte van IJzendoorn, dass das Bindungsinterview für Erwachsene ca. 25% der Varianz des kindlichen Verhaltens in der Fremden Situation erklären kann (vgl. Spangler / Zimmermann, S. 163). Der Zusammenhang zwischen elterlicher Bindungsrepräsentation und dem feinfühligen Verhalten dagegen erklärt nur 12% der Varianz. Folglich scheint nur ein Teil der Bindungsrepräsentation die Feinfühligkeit direkt zu beeinflussen, was bedeutet, dass die Übertragung der Bindungsmuster nicht allein durch diese (Feinfühligkeit) erklärt werden kann. „The understanding of the transmission of attachment through responsiveness is, however, far from complete.“ (van IJzendoorn, 1995, S. 398), was er als “transmission gap” bezeichnet.

Er betont weiter, dass “[...] the largest part of influence would operate through mechanisms other than responsiveness as rated by the Ainsworth scales.”(S. 398).

Dabei verweist van IJzendoorn zum einen auf den Einfluss des Temperaments, ebenso wie auf die Annahme der genetischen Übertragung solcher Temperamentscharakteristiken, wie Aktivität und Irritierbarkeit. Möglicher Weise spielen auch andere Interaktionsmechanismen eine Rolle, welche im Feinfühligkeitskonzept nicht berücksichtigt werden. Er zeigt in seiner Diskussion auch auf, dass in der Übertragungsdebatte eher von einem jeweils kausalen Einfluss ausgegangen wird, wobei das Zusammenwirken mehrerer Faktoren viel eher eine effektive Erklärung darstellen könnte. „Correlated measurement errors, genetic influences, and interactive transmission mechanisms yet to be discovered might, in combination, account for the transmission gap.” (S. 399). Selbst wenn das Problem des “transmission gaps” gelöst werden würden, so kann dennoch nur ein Teil der kindlichen Bindungsqualität auf der Basis der elterlichen Bindungsrepräsentation vorhergesagt werden, da nicht alle sicher-autonomen Eltern auch sicher gebundene Kinder haben, und umgekehrt. In israelischen Kibbutz - Familien (Sagi u. a. 1994; van IJzendoorn, 1999) beispielsweise scheint eine derartige Bindungsübertragung eher nicht der Fall zu sein. Sagi und Kollegen untersuchten Kinder aus dem Kibbutz, eine israelische Gemeinschaft, und deren Bindungsqualität zur Mutter in Abhängigkeit ihrer Feinfühligkeit. Dabei unterschieden sie Kinder, welche zu Hause schliefen und Kinder, welche in einer kommunalen Einrichtung übernachteten. Im Ergebnis fanden sie eine Überrepräsentation des unsicher-ambivalenten Bindungsmuster bei Kindern in kommunalen Schlafarrangements. Während innerhalb dieser Gruppe nur 48% der Kinder eine sichere Bindung aufwiesen, zeigten 80% der Kinder eine sichere Bindung, wenn sie zu Hause übernachteten (vgl. van IJzendoorn, 1999). Eine mögliche Erklärung: „[…] collective sleeping, experienced by infants as a time during which mothers were largely unavailable and inaccessible, was responsible for the greater insecurity found in this group. Inconsistent responsiveness was inherent in the reality of these infants, given that sensitive responding by a mother or caregiver during the day contrasted sharply with the presence of an unfamiliar person at night.” (van IJzendoorn, 1999, S. 722). Neben der Inkonsistenz scheint auch der soziale Kontext und die Umgebung allgemein (äußere Faktoren) Einfluss auf die kindliche Bindungsqualität zu nehmen, denn trotz Feinfühligkeit der Mutter waren viel Kinder unsicher gebunden. Die Untersuchungen der Kibbutz - Familien sind reichhaltiger, als wie ich sie hier dargestellt habe. Allerdings schien mir besonders wichtig, dass Sagi und Kollegen gezeigt haben, dass die Feinfühligkeit der Mutter allein nicht als erklärende Variable betrachtet werden kann, da sich gerade im Kibbutz mehrere Menschen an der Erziehung der Kinder beteiligen (vgl. De Wolff und van IJzendoorn, 1997). Folglich stellt sich die Frage, wann Kinder trotz schwieriger Umstände eine sichere Bindung entwickeln, wenn dies eben nicht allein die elterliche Feinfühligkeit erklärt. Vielleicht gibt die Bielefelder Längsschnittstudie mehr Aufschluss.

Zusammenfassung:

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass mehrere Studien eine Stabilität der Bindungsmuster über Generationen hinweg gefunden haben. Die Art, wie Eltern ihre eigenen Bindungserfahrungen verarbeitet und bewertet haben, ermöglicht Vorhersagen bezüglich der kindliche Bindungsqualität mit einem Jahr, klassifiziert in der Fremden Situation. Nach Ainsworth ist besonders das feinfühlige Verhalten der Bindungsperson ausschlaggebend für die Bindungsqualität. Auch hier zeigt sich ein Zusammenhang, welcher jedoch geringer ausfällt als der Zusammenhang zwischen elterlicher Bindungsrepräsentation (erfasst im AAI) und kindlicher Bindungsqualität. Ausgehend von diesen Ergebnissen schlussfolgerte van IJzendoorn, dass die Feinfühligkeit allein den Zusammenhang nicht ausreichend erklärt, sondern andere Einflüsse mit in Betracht gezogen werden müssen. Einige dieser Einflussfaktoren werden wahrscheinlich innerhalb des AAIs erhoben, nicht aber innerhalb des Feinfühligkeitskonzeptes. Van IJzendoorn führte daraufhin den Begriff des „transmission gap“ ein, da die Generationenübertragung allein auf der Basis der Feinfühligkeit nicht ausreichend erklärt werden kann. Langzeitstudien scheinen dabei eher Aufschluss darüber zu geben, welche Faktoren die Mutter-Kind-Bindung zusätzlich beeinflussen und inwieweit frühste Bindungsmuster stabil bleiben, denn selbst Bowlby war der Meinung, dass „[…] attachment representation is formed on the basis of early attachment experiences but is also influenced by later relationships.“(van IJzendoorn, 1995, S. 399)

2.2 Die Bielefelder Längsschnittstudie

Die Bielefelder Längsschnittuntersuchung unter Anleitung von Klaus Grossmann begann 1976 mit einer ersten Datenerhebung im Neugeborenenalter. Allerdings waren über 50% der Kinder unsicher gebunden, was eher unrealistisch zu sein schien. Selbst in den „cross-cultural“ Studien von van IJzendoorn (1999) war die Mehrzahl der Kinder sicher gebunden. Ein methodischer Fehler konnte ausgeschlossen werden und somit startete 1980 eine weitere Längsschnittstudie, die „Regensburg I“, erneut unter der Anleitung von Klaus Grossmann. Die Kinder der Bielefelder Untersuchung wurden anschließend wiederholt im Alter von 2, 6, 10, 12, 18 und 24 Monaten, dann mit 3, 5, 6, 10 und 16 Jahren untersucht. Parallel zu den beiden bisherigen Studien wurden noch drei kleinere durchgeführt, „Regensburg II – IV“. Im Anhang 2 befindet sich unter anderem eine graphische Darstellung dieser fünf deutschen Studien. Die Forschung in Bielefeld und Regensburg kann in vier Epochen unterteilt werden, wobei stets spezifische Themen im Vordergrund stehen.

In der ersten Epoche ab 1976 wurden die Entwicklung individueller Unterschiede in der Bindungsqualität im ersten Lebensjahr und ihre Determinanten untersucht. Die zweite Epoche ab 1980 beschäftigte sich mit der Auswirkung der jeweiligen Bindungsqualität im Vorschul- und Schulalter. Dabei gingen die Forscher speziell der Frage nach, welche Konsequenzen unterschiedliche Bindungsqualitäten haben. Die dritte Epoche ab etwa 1983 stellt im Zusammenhang mit meiner Arbeit den wichtigsten Punkt dar. Hier stand die Kontinuität individueller Unterschiede in der Bindungsqualität im Zentrum des Interesses, worauf ich gleich näher eingehen werde. Die vierte und letzte Epoche ab 1986 beschäftigte sich mit Fragen nach den biologischen Grundlagen der Bindung (vgl. Spangler/ Zimmermann, 2002).

Kontinuität individueller Unterschiede in der Bindungsqualität:

Sind Kinder, die im Alter von 12 Monaten in der Fremden Situation als sicher klassifiziert wurden, auch später in ihrer Bindungsrepräsentation sicher-autonom? Dies ist die allgemeine Leitfrage innerhalb der Kontinuitätsuntersuchung.

In der Bielefelder Längsschnittstudie wurde eine erste Kontinuitätsprüfung im Alter von 6 Jahren durchgeführt. Hier setzten Wartner, Grossmann, Fremmer-Bombik und Süß (1994) eine abgewandelte Form der Fremden Situation ein, die Trennungs- und Wiedervereinigungssituation. Main und Cassidy (1988) haben die Bindungsqualität von 6jährigen dabei wie folgt beschrieben (vgl. Grossmann, K., 2002):

Begrüßt das Kind seine zurückkehrende Bindungsperson herzlich, wendet sich dieser in Gestik und Mimik offen zu und ist von sich aus auch gesprächsbereit, wobei eine entspannte Atmosphäre vorherrscht, dann spricht man von einem sicheren Bindungsmuster. Kinder dagegen, welche kaum grüßen, keine Gesprächsbereitschaft zeigen und eher abgewandt von der Bindungsperson spielen, wobei eine neutrale bis kühle Stimmung zwischen beiden überwiegt, werden als unsicher-vermeidend bezeichnet. Das ambivalente Muster äußert sich in einer übertriebenen Kleinkindhaftigkeit und dramatisierten Wünschen nach Interaktion und Fürsorge, wobei die Stimmung eher wechselhaft ambivalent ist. Kinder, die in der Fremden Situation als desorganisiert/desorientiert klassifiziert wurden, erscheinen als Sechsjährige eher kontrollierend in einer entweder altklug wirkenden Fürsorge oder in beleidigender Zurückweisung, während die Stimmung angespannt oder übertrieben fröhlich ist.

40 Mutter-Kind-Paare wurden in der Kontinuitätsprüfung (von 0-6 Jahre) untersucht. Die folgende Tabelle stellt die Stabilität der Bindungsmuster dar:

Abbildung in ieser Leseprobe nicht enthalten

Diese Zahlen verdeutlichen eine 87,5%-Stabilität der Mutter-Kind-Bindung über fünf Jahre hinweg (Wartner u. a., 1994). Betrachtet man alle vier Bindungsmuster, so ergibt sich eine Stabilität von 82%. Von 12 Kindern, die als desorganisiert klassifiziert wurden, zeigten 9 Kinder im Alter von 6 Jahren ein kontrollierendes Verhalten innerhalb der Trennungs-Wiedervereinigungs-Situation.

Diese Bindungskontinuität wurde in ähnlicher Form auch in der „Regensburg I“ -Studie gefunden. Hier bediente man sich der Methode des Trennungs-Angst-Tests (SAT). Bei dieser Erhebungsmethode werden den Kindern Bilder mit Trennungssituationen gezeigt, wobei sie eine fiktive Geschichte aus der bildlichen Darstellung heraus erzählen sollen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass der Inhalt der Geschichte und die gezeigten Emotionen, Aufschluss über erste Bindungsrepräsentationen und den damit verbundenen bindungsrelevanten Erfahrungen geben. Während die Trennungs-Wiedervereinigungs-Situation Bindungsmuster auf der Verhaltensebene erfasst, erfolgt der SAT eher auf verbaler Ebene, angepasst an bisherige Erfahrungen (nicht an verarbeitete und bewertete Erfahrungen wie im AAI).

Die Übereinstimmung der Bindungsklassifikation im Alter von einem Jahr (in der Fremden Situation), und die Klassifikation im SAT im Alter von 6 Jahren verdeutlichten ebenfalls eine Stabilität von über 80%. Somit kann von einer Kontinuität der Bindungsmuster vom Säugling- bis zum Vorschulalter ausgegangen werden. Weitere Untersuchungen erfolgten im Schul- und Jugendalter. Mit den in der Bielefelder Längsschnittstudie mittlerweile 10jährigen Kindern wurde ein Interview zu bindungsrelevanten Themen durchgeführt, wo sie nach ihrer Repräsentation der emotionalen Verfügbarkeit und Unterstützung durch die Eltern bei belastenden oder schwierigen Situationen gefragt wurden. Zeitgleich erfolgte auch eine Befragung der Eltern bezüglich ihrer Haltung gegenüber emotionaler Belastung bei ihren Kindern. Die mit 12 Monaten als sicher klassifizierten Kinder berichteten im Vergleich zu unsicher gebundenen Kindern über mehr Bindungsverhalten und elterliche Unterstützung, sowohl in emotional belastenden Situationen, als auch bei der Lösung von Alltagsproblemen. Freundschaftsbeziehungen schätzten sie realistischer ein, wobei sie auch weniger Konflikte mit Gleichaltrigen hatten. Im Vergleich dazu sprachen die mit einem Jahr als unsicher-vermeidend klassifizierten Kinder nur selten über negative Gefühle und verhielten sich bei bindungsrelevanten Fragen und emotional belastenden Themen eher sehr reserviert. Im Verhalten der Mütter ergab sich ebenfalls ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Feinfühligkeit im ersten Lebensjahr der Kinder und einer unterstützenden Haltung neun Jahre später. Im Alter von 16 Jahren wurde, neben eventuellen kritischen Lebensereignissen (Tod oder Erkrankung eines Elternteils, Erkrankung des Kindes selbst, Scheidung der Eltern, Arbeitslosigkeit, Umzug usw.) auch die Bindungsrepräsentation der Jugendlichen mit Hilfe des AAI erfasst. Es fanden sich zwar keine Stabilitäten zwischen der Bindungsqualität mit 12 Monaten und der Bindungsorganisation im Alter von 10 Jahren, allerdings stieß man auf Zusammenhänge zwischen der mütterlichen und der jugendlichen Bindungsrepräsentation, ebenso wie auf Zusammenhänge der Bewertung elterlicher Unterstützung mit 10 Jahren und der Bindungsrepräsentation mit 16. Die Art der Bewertung elterlicher Unterstützung mit 10 Jahren und auch die Bindungsrepräsentation der Mutter stehen dabei im Zusammenhang mit der Bindungsrepräsentation des Jugendlichen. „Die 16jährigen Jugendlichen mit einer sicheren Bindungsrepräsentation hatten auch auffällig häufiger Mütter mit einer ebenfalls sicheren Bindungsrepräsentation.“ (Brisch, 1999, S. 56). Selbiges traf auf Jugendliche mit einer unsicheren Bindungsrepräsentation zu. Die beiden Längsschnittstudien – Bielefelder und Regensburger I – fanden mit vielen offenen, gesprächsartigen Interviews und einigen Fragebögen für die 22jährigen „Bielefelder“ und die 20jährigen „Regensburger“ dann ihr Ende. Die jungen Erwachsenen wurden dabei nicht nur zu ihrer Bindungsrepräsentation befragt, sondern auch zu ihrer Partnerschaftsrepräsentation. Während mit den 22jährigen in der Bielefelder Untersuchung erneut das Adult Attachment Interview durchgeführt wurde, erfolgte bei den 20jährigen Regensburgern die Erhebung der Bindungsrepräsentanz mit Hilfe des Adult Attachment Projective (AAP). „Bei dieser Methode werden dem Interviewten acht Bilder vorgelegt, die, mit Ausnahme des ersten, Szenen mit einer oder mehreren Personen zeigen, die das Bindungssystem aktivieren sollen. Die Interviewten sollen bei jedem Bild sagen, was wohl passiert sein könnte, was zu der Situation geführt hat und die Person auf dem Bild denken und fühlen könnte und was als nächstes passieren könnte.“ (Grossmann/ Grossmann, 2004, S. 536). Bei der Auswertung dieses Verfahrens wird, wie auch beim AAI, nicht nur auf den Inhalt der Erzählung geachtet, sondern auch auf die Art der Darstellung, wobei die sprachliche Kohärenz wieder im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Die Transkripte werden danach ausgewertet, ob die Personen im Bild aktiv oder passiv das Geschehen beeinflussen, ob Verbundenheit und Gegenseitigkeit (Synchronie) thematisiert werden und ob bestimmte Aspekte der dargestellten Wirklichkeit ausgeblendet (psychisch abgewehrt) werden (vgl. Gloger-Tippelt, 2001). Das AAP wurde von Carol George entwickelt und stellt eine günstigere und kürzere Alternative zum AAI dar.

Die Partnerschaftsrepräsentation dagegen wurde mit dem von Monika Winter erstellten Partnerschaftsinterview (PI) erhoben. In der Auswertung der Daten ergab sich ein Zusammenhang zwischen der Bindungsrepräsentation und der Partnerschaftsrepräsentation der Jugendlichen, allerdings ist zu erwähnen, dass beide Verfahren recht nah nacheinander durchgeführt wurden. Der gefundene Zusammenhang zwischen Verstrickung im Bindungsinterview und Unklarheit im Partnerschaftsinterview war sogar noch höher als für die Dimension Sicherheit, d.h. je höher die Verstrickung im Bindungsinterview beurteilt wurde, desto unklarer war derjenige auch im Partnerschaftsinterview. Bezüglich der Stabilitätsprüfung ergab sich eine höhere Stabilität zwischen den Bindungsrepräsentationen an sich, als zwischen den Bindungs- und Partnerschaftsrepräsentationen. Die Jugendlichen der Regensburger Studie wiesen in ihren Bindungsrepräsentationen im Alter von 16 Jahren und 2 Jahre später, im Alter von 18 Jahren, eine Stabilität von 77% auf. Selbiges zeigte sich auch in der Bielefelder Untersuchung. Die Bindungsrepräsentation der 16jährigen war über 4 Jahre hinweg zu 77% stabil, im Alter von 18 Jahren auf 20 Jahre erfassten die Forscher eine Stabilität von 75%. Allerdings konnten keine Stabilitäten von der Bindungsqualität der Jugendlichen mit damals einem und sechs Jahren auf die aktuelle Bindungs- und Partnerschaftsrepräsentation im Alter von 20 Jahren festgestellt werden. Die gefundene Stabilität zwischen der Bindungsrepräsentation der Jugendlichen im Alter von 16 Jahren und der elterlichen Bindungsrepräsentation bestand auch mit 22 Jahren.

Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass Zusammenhänge zwischen der elterlichen Bindungsrepräsentation, ihrem beobachtbaren Pflege- und Interaktionsverhalten sowie der Entwicklung der Bindungsqualität ihrer Kinder bestehen. Kontinuitäten in der Entwicklung der Bindung lassen sich vom ersten Lebensjahr an bis zur Adoleszenz auf der Verhaltens- sowie auf der Repräsentationsebene finden. Zimmermann (2002) unterschied in diesem Zusammenhang zwei Arten der Kontinuität – homotypische und heterotypische. Die homotypische Kontinuität bezieht sich auf die Ebene des Verhaltens, z.B. im offenen Zugang und Ausdruck von negativen Emotionen und in der Suche nach direkter Nähe und Unterstützung in emotional belastenden Situationen. Im Gegensatz dazu bezieht sich die heterotypische Kontinuität auf Zusammenhänge zwischen Bindungsverhalten im ersten Lebensjahr und der Bindungsrepräsentation später. Mit anderen Worten, der Zusammenhang zwischen frühster Bindungsqualität und späterer erfolgreicher Bewältigung altersspezifischer Lebensthemen bzw. Entwicklungsaufgaben wird als heterotypische Kontinuität bezeichnet (vom Verhalten zur Repräsentation). Die gefundene Diskontinuität zwischen der Bindungsqualität mit 12 Monaten und der Bindungsorganisation im Alter von 10 Jahren könnte folglich durch die Kontinuitätsunterscheidung erklärt werden. Während das Bindungsverhalten kleiner Kinder sich sehr stark an körperlicher Nähe und direkter Anwesenheit der Bindungsperson orientiert, richtet es sich im Verlauf der Entwicklung immer stärker auf die psychische und verbale Nähe aus. Folglich ergibt sich in der Bielefelder Längsschnittuntersuchung zwar keine homotypische Kontinuität von Kleinkind- zum Jugendalter, die heterotypische Kontinuität konnte jedoch nachgewiesen werden.

Die vier wichtigsten zentralen Erkenntnisse aus den gesamten Befunden fassen Karin und Klaus Grossmann (2004) wie folgt zusammen:

1. Die elterliche Feinfühligkeit, Unterstützung und Akzeptanz der Mutter ebenso wie die des Vaters haben von den frühen Jahren an einen bleibenden Einfluss darauf genommen, welchen Wert Bindungen für ihr Kind haben.
2. Der tatsächliche Umgang der Eltern mit dem Kind formt maßgeblich seinen beobachtbaren Umgang mit anderen und seinen gedanklichen Umgang mit negativen Gefühlen und Herausforderungen, die es selbst nicht meistern kann.
3. Die Erlebnisse des Kindes mit jedem Elternteil sind zu jedem Altersabschnitt wichtig, in der Kleinkindzeit, in der mittleren Kindheit wie auch im Jugendalter.
4. Kinder, die aufgrund ihrer Erfahrungen mit den Eltern eine Strategie im Umgang mit negativen Ereignissen entwickelt haben, die durch Offenheit, angemessene Gefühlsregulation, Bereitschaft, sich helfen zu lassen, und kommunikative Kompetenz gekennzeichnet ist, entwickelten ein klares, differenziertes inneres Modell von Bindung und Partnerschaft, das ihnen psychische Sicherheit gibt. Kinder mit eingeschränkteren Strategien entwickelten später innere Modelle von Bindung und Partnerschaft, die durch Unsicherheit gekennzeichnet waren. Sicherheit bedeutet entweder Vertrauen in die Verfügbarkeit eines anderen, sollte es notwendig sein, oder aber die klare und reflektierte Einsicht, warum eine enge Beziehung keine Sicherheit vermittelt.

Die elterliche Feinfühligkeit und die Unterstützung schließen somit nicht nur die Exploration und Autonomie ein, sondern auch die Wertschätzung von Bindungen. Eltern begeleiten und lehren ihre Kinder nicht nur, sie sind auch Vorbild und Modell. Die Wichtigkeit einer feinfühligen Interaktion in Bezug auf eine sichere Bindung konnte immer wieder bestätigt werden, aber, wie schon van IJzendoorn anführte, kann sie allein das Entstehen einer sicheren Bindung nicht ausreichend erklären. Neben dem Einfluss von Zweitvariablen auf die Bindungssicherheit eines Kindes, ist es ebenso interessant zu fragen, welche Faktoren feinfühliges Verhalten bedingen. Zusätzlich müssen auch jene Einflussvariablen betrachtet werden, welche zu Änderungen in der kindlichen Bindungssicherheit führen. So führt Brisch (1999) an: „Die Bindung im ersten Lebensjahr ist nicht ausschließlich für die weitere Bindungsentwicklung determinierend und lässt keine absolute Vorhersage zu. Vielmehr spielen weitere Einflussfaktoren offensichtlich eine große Rolle […].“ (S. 57/58).

Einige Befunde ergaben einen deutlichen Effekt der erfassten Risikofaktoren (kritische Lebensereignisse) auf die aktuelle Bindungsrepräsentation der Jugendlichen, die im Alter von 16 Jahren erfasst wurden. „Jugendliche mit unsicherer Bindungsrepräsentation wiesen vermehrt Risikofaktoren wie Trennung der Eltern, psychische oder schwere, lebensbedrohende Erkrankung der Eltern auf.“ (Zimmermann, 2002, S. 212). Welche Faktoren als Risikofaktoren gelten und welchen Einfluss diese auf die Bindungsmuster haben können, werde ich an späterer Stelle genauer darstellen. Zuvor jedoch möchte ich die Perspektive von der Mutter-Kind-Dyade etwas erweitern.

[...]

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Sind Kindheitsjahre Schicksalsjahre? Der Einfluss früher Bindungserfahrungen auf die weitere Entwicklung - Schicksal oder interventionsoffen?
Hochschule
Universität Erfurt  (Erziehungswissenschaftliche Fakultät)
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
106
Katalognummer
V61988
ISBN (eBook)
9783638553193
ISBN (Buch)
9783656795803
Dateigröße
2958 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sind, Kindheitsjahre, Schicksalsjahre, Einfluss, Bindungserfahrungen, Entwicklung, Schicksal
Arbeit zitieren
Nicole Graumüller (Autor:in), 2005, Sind Kindheitsjahre Schicksalsjahre? Der Einfluss früher Bindungserfahrungen auf die weitere Entwicklung - Schicksal oder interventionsoffen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61988

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