Die "männliche Wunde" - Ursprung und Konsequenzen: Zur Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität


Zwischenprüfungsarbeit, 2005

53 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Greenson’s Modell der frühkindlichen Identifizierungsprozesse des Jungen

3. Das Modell der „männlichen Wunde“ von Hudson/Jacot

4. Diskussion und Kritik
4.1 Die fehlende Erklärung des Ursprungs der „Wunde“
4.1.1 Das Ausklammern der Probleme der (männlichen) Sexualitätskonstitution und die Bedeutung der Rekategorisierung
4.1.2 Die Vernachlässigung historischer und soziokultureller Einflüsse für die Konstitution der männlichen Geschlechtsidentität
4.2 Die „Wunde“ als Legitimierung männlicher Hegemonie
4.2.1 Der „männliche Mann“ als Basis des gesellschaftlichen Fortschritts und der Kultur
4.2.2 Die Abwertung von Frauen und „unmännlichen Männern“

5. Zur (Re-)Produktion hegemonialer Männlichkeit

6. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die männliche Geschlechtsidentität ist keinesfalls eine dem kleinen Jungen angeborene Qualität, sondern „Ausdruck [und Produkt] einer Geschichte, in der sich auf komplizierte Weise mehrere endogene und exogene Faktoren auf der Ebene der psychischen Realität überlagern und verdichten“[1]. Wie aber konstituiert sich die Geschlechtsidentität und welches sind die Faktoren, die dabei eine besondere Funktion einnehmen und die männliche Psyche prägen? Auf welchem Wege erwirbt das männliche Kind die Eigenschaften bzw. die Dispositionen zu den Eigenschaften, die im bipolar gesetzten Geschlechterverhältnis gemäß dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit als „typisch männlich“ gelten? Bestehen innerhalb der Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität und demzufolge der Männlichkeit Zwangsläufigkeiten oder ließe sich – theoretisch – Männlichkeit vollkommen frei konstruieren?

All dies sind Fragen, die in Theorien zur Männlichkeit und zur Bildung der Geschlechtsidentität zu beantworten versucht werden. Dabei geht es um das Erlangen eines Verständnisses von den Ursprüngen (scheinbar) ausschließlich männlicher „Phänomene“ wie bestimmten Denk- und Wahrnehmungsstrukturen und deren Ausdrucksformen und Bedeutung bezüglich Wissenschaft und Kultur sowie Beziehungsmustern, aber auch hinsichtlich Neigungen zu aggressiven Affekten wie Wut, Hass und Gewaltbereitschaft, die sich oftmals gegen Frauen richten. Von der Analyse letzterer und der Rückverfolgung ihres Entstehens bis in die früheste Kindheit sollen Erkenntnisse gewonnen werden, ob und unter welchen Bedingungen sich männliche Gewalt gegen Frauen eindämmen lässt.

Eine spezielle Richtung der Theorien, die sich mit der Konstitution von Männlichkeit beschäftigen, wird durch „Ent-Identifizierungstheorien“ vertreten, die der Ablösung des kleinen Jungen aus der Mutter-Kind-Symbiose für eine „erfolgreiche“ männliche Identitätsentwicklung den zentralen Stellenwert einräumen. Diese Ansätze gehen zurück auf die Thesen von Greenson, in denen er „die Beendigung der Identifizierung mit der Mutter und ihre besondere Bedeutung für den Jungen“[2] konstatiert. Darauf beziehen sich auch Hudson/Jacot in ihrem Modell der „männlichen Wunde“[3], in dem sie die beiden Schritte der „Ent-Identifizierung“ des Jungen mit der Mutter und die „Gegen-Identifizierung“ mit dem Vater als „existentiellen Abgrund“[4], aber auch als immerwährende „Quelle psychischer Energie“[5] des Jungen bzw. Mannes bezeichnen.

Diese beiden Ansätze – von Greenson und Hudson/Jacot – sollen hier beschreiben und auf überzeugende Argumente als auch Defizite hin untersucht werden. Dabei wird sich zeigen, ob es den Ent-Identifizierungstheorien gelingt, die Männlichkeitsentwicklung angemessen und vollständig zu begreifen. Die „männliche Wunde“, ihr Ursprung und ihre Konsequenzen sollen dabei den Fokus bilden, wobei den im Folgenden dargelegten Überlegungen ein mehrfaches Verständnis zugrunde liegt: auf der einen Seite sollen der Ursprung der „Wunde“ und deren Folgen innerhalb des Modells für das individuelle männliche Subjekt beschrieben werden, auf der anderen Seite geht es darum, welche historischen Voraussetzungen bei der (vermeintlich notwendigen und unabwendbaren) Entstehung dieser „Wunde“ eine Rolle gespielt haben bzw. zur Behauptung deren Modell geführt haben, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn die Geschlechterhierarchie aus der Sicht dieses Modells betrachtet wird und in welchen Wechselwirkungen die Behauptung einer „Wunde“ zu vorherrschenden Bedingungen in der Gesellschaft und im Geschlechterverhältnis steht. Zum Schluss sollen die gewonnenen Erkenntnisse in Beziehung gesetzt werden zu Fragen nach neuen zukünftigen Deutungsmustern von Männlichkeit sowie nach der Möglichkeit der Entwicklung positiv veränderter Weiblichkeitsbilder und Beziehungsmuster seitens der Männer im Zusammenhang mit etwaigen Aussichten auf eine Eindämmung der männlichen Weiblichkeitsabwehr.

2. Greenson’s Modell der frühkindlichen Identifizierungsprozesse des Jungen

In seiner Theorie der Ent-Identifizierung fokussiert sich Greenson explizit auf die psychische Entwicklung des Jungen in der präödipalen Phase. Seine These zur männlichen Geschlechtsidentität lautet, dass ein „gesundes Männlichkeitsbewusstsein“ für den kleinen Jungen nur durch das Aufgeben seines primären Identifizierungsobjekts – der Mutter – und ein anschließendes Identifizieren mit dem Vater zu erreichen ist. Zudem sei es genau dieser Prozess, den Mädchen nicht zu durchlaufen hätten, der als Ursache für spezielle Probleme des Mannes mit seiner Geschlechtsidentität bzw. der Konstitution der männlichen Geschlechtsidentität gilt.[6] Die „Beendigung der Identifizierung“ sei ein Kampf des Jungen um die Herauslösung aus der Mutter-Kind-Symbiose, die von Greenson für die Entfaltung von Individuations- und Autonomiefähigkeiten als unabdingbar angesehen wird. Die Loslösung von der Mutter entscheide zudem über den Erfolg der sich anschließenden Identifizierung mit dem Vater, wobei Greenson anmerkt, dass dabei die Persönlichkeit und das Verhalten beider Elternteile von entscheidender Bedeutung sind.[7]

Gelingt die Loslösung von der mütterlichen Identifikation beispielsweise nicht aufgrund einer besitzergreifenden Mutter oder scheitert die Gegenidentifizierung an einem schwachen Vater, so ergeben sich daraus schwerwiegende Folgen für den Jungen. Im ersten Fall würde sich keine Ausbildung der Fähigkeit, zwischen Identifizierung und Objektliebe zu unterscheiden, einstellen, unter den Bedingungen des zweiten Falls könnten zwar Selbst- von Objektrepräsentanzen differenziert werden, jedoch nicht in Bezug auf das Herausbilden einer eindeutigen Geschlechtsidentität, geschlechtsspezifische Kategorisierungen blieben demnach wohl aus.[8] Aus diesen Beispielen bezieht Greenson eine Bestätigung für die Unverzichtbarkeit der Ent-Identifizierung des Jungen von der Mutter für die Entwicklung seiner Männlichkeit, da sonst keine „realistische Geschlechtsidentität“[9] entstehen könne.

Allgemein seien für die Entwicklung der Geschlechtsidentität drei Faktoren bedeutsam: Die Erfassung eigener anatomischer Gegebenheiten des Kindes, die eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht durch die Eltern gemäß den anatomischen Strukturen und eine „biologische Kraft“, die sich zwar darin zeige, dass einige Kinder ihrer Anatomie und der Geschlechtszuschreibung durch die Eltern „entgegenwirken“ würden, die aber in ihrer Beschaffenheit nicht näher von Greenson beschrieben wird. Diese Schritte befänden sich bei der Bildung der Geschlechtsidentität in Interaktion und würden gleichermaßen für beide Geschlechter gelten. Die Ausnahme bestehe in jenem 4. Faktor, der eben nur von Jungen geleistet werden müsse und in der dargelegten „Identifizierungsumkehr“ bestehe.[10] Die besondere Schwierigkeit dabei sei es auf die „Lust und Sicherheit spendende“[11] Mutter zu verzichten und stattdessen die Identifizierung „mit dem weniger zugänglichen Vater“[12] zu suchen. Dabei sei es wiederum wichtig, dass die Mutter sich nicht für die Gegenidentifizierung hinderlich verhält, sie soll im Gegenteil den Jungen dazu ermutigen und sich bei Gelingen über seine „jungenhaften Merkmale“[13] freuen. Der Vater müsse seinerseits eine „lohneswerte Motivation“ für die Gegen-Identifizierung darstellen, womit wohl gemeint ist, dass er „Männlichkeit“ ausstrahlen muss, wobei die Liebe und Achtung der Mutter ihm gegenüber dabei eine große Rolle spiele.[14]

Für die Mädchen hingegen existierten all diese Hindernisse auf dem Weg zu einer sicheren Geschlechtsidentität nicht, da zwar auch sie zur Individuation die Identifizierung mit der Mutter aufgeben müssten, aber diese „hilft [dem Mädchen], seine Weiblichkeit zu begründen“[15]. Aufgrund der Beschaffenheit der frühkindlichen Identifizierungsprozesse schließt Greenson, „dass sich Männer ihrer Männlichkeit weit unsicherer sind als Frauen ihrer Weiblichkeit“[16]. Mit diesem Umstand verbunden seien auch der unterschwellige Neid und die Verachtung des Mannes gegenüber Frauen. Diese Affekte würden einer „früheren, unbewussten Ebene“[17] entspringen und stellen offensichtlich gewissermaßen als „Störfaktor“ eine große Gefahr für die männliche Geschlechtsidentität dar, und verleihen ihr ein gewisses Maß an Brüchigkeit. Obwohl Frauen Männer auch wegen bestimmter anatomischer Attribute und Privilegien auf sozialer Ebene beneiden würden, sei der unbewusste Neid der Männer auf die Frauen weitaus zerstörerischer als der offene, bewusste Neid der Frauen.[18]

Diese von Greenson beschriebene Zerstörungskraft richtet sich offensichtlich nicht nur gegen die eigene, die männliche Geschlechtsidentität. Sie ist vielmehr eine Facette derselben, soll die Geschlechtsidentität in Abgrenzung des Weiblichen schützen und verrät dabei die eigene Fragilität, die durch diesen Schutz- und Abwehrmechanismus gezeichnet ist, insbesondere wenn sie sich direkt gegen Frauen richtet. Die (fragile) Geschlechtsidentität, die die Männlichkeit eigentlich begründen soll, stellt ihre eigene Fragilität selber her. Diese „Schwäche“ widerspricht auf den ersten Blick dem Entwurf der hegemonialen Männlichkeit, in dem der Mann als „Erzeuger – Beschützer – Versorger“[19] erscheint.

Greenson schließt seine Ausführungen zu den Identifizierungsprozessen des Jungen mit dem implizierten Aufwerfen der Frage nach jener Abwehr des Weiblichen durch den Mann, der Frage, inwieweit die Gegen-Identifizierung als Endpunkt eines „schwierigen, unsicheren Pfad[s]“[20] eine (unfreiwillige) Abwehr der aus der Identifizierung mit der Mutter entstandenen Selbstrepräsentanzen darstellt und sich daraufhin Verachtung und Neid gegenüber allem Weiblichen einstellen. Diese weitreichende Überlegung wird aber wiederum eingeschränkt durch die Bemerkung, dass die Identifizierung mit dem Vater vermutlich leichter falle, wenn die frühe Identifizierung mit der Mutter zugelassen werde.[21]

Wodurch wird der Junge also zur Ent- und Gegen-Identifizierung motiviert? Gibt es eine „ideale“ Entwicklung, bei der keine Abwehr des Weiblichen entsteht, wenn „das frühe Bedürfnis des Knaben, sich mit der Mutter zu identifizieren, befriedigt wurde“[22] ? Oder – wenn dies nicht der Fall ist – warum ist mit der Ausbildung der männlichen Geschlechtsidentität dann immer eine latente Tendenz zum Frauenhass verbunden?

Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden, dazu wird zunächst das Modell der „männlichen Wunde“ von Hudson/Jacot betrachtet, bevor im späteren Verlauf diskutiert wird, ob sich gemäß der Ent-Identifizierungstheorien einleuchtende und überzeugende Antworten ergeben haben.

3. Das Modell der „männlichen Wunde“ von Hudson/Jacot

Hudson/Jacot gebrauchen ihr Modell der „männlichen Wunde“ in erster Linie, um eine „erklärungsbedürftige Form von Verbogenheit“[23] der männlichen Imagination aufzudecken zu wollen. Der zwischen den beiden bereits von Greenson beschriebenen Schritten der Ent-Identifizierung von der Mutter und der Gegen-Identifizierung mit dem Vater im Unbewussten ausgelöste „existentielle Abgrund“ wird hier als „männliche Wunde“ bezeichnet, die zur Ausbildung spezieller Stärken und Schwächen der männlichen Identität führe.

Das Modell der „männlichen Wunde“ stelle eine Hypothese zu biologischem und sozialem Geschlecht dar[24], die durch besondere Nähe zur Psychoanalyse gekennzeichnet sei[25]. Dabei geht es darum, dass der kleine Junge aufgrund der Trennung von seiner Mutter eine „Quelle des Unbehagens“[26] erfahre und somit in der frühkindlichen Entwicklung psychisch einen anderen Weg zu gehen hätte als das Mädchen. Daraus resultierten lebenslang bestimmte Spannungen, für die es kein Äquivalent in der Ausbildung der weiblichen Geschlechtsidentität gebe.[27] Die „Wunde“ mache den Mann zu einem „Getriebenen“[28] und versorge ihn mit „imaginativer Energie“[29], führe aber auch zu einer Spaltung des männlichen Geistes, infolge dessen Belebtes als unbelebt und Unbelebtes als lebendig angesehen werde.[30] Das Ergebnis aus diesem Umstand seien für Männer typische Denkweisen und Verhaltensmuster. Die innere Spaltung bringe bestimmte „Nutzen“ und „Kosten“ mit sich, die für viele kulturelle Bereiche nahezu unabdingbar seien[31]. Hudson/Jacot betonen zwar, die „Wunde“ sei keine „angeboren[e] […] Grammatik“[32], gemäß der die männliche Geschlechtsidentität und ihre Ausdrucksformen konstituiert sind, dennoch wird die Gesamtdiskussion „männlicher Phänomene“ im Selbstverständnis der Autoren als „Beitrag zur Naturgeschichte“[33] gesehen.

Die „Wunde“ entstehe beim männlichen Kleinkind im Alter von 2-3 Jahren. In diesem Zeitraum würde eine „Verschiebung“[34] eintreten, die den Jungen in seiner Entwicklung aus einem bisher von beiden Geschlechtern geteilten Muster herausdränge. Alle Kinder würden in der symbiotischen Beziehung zur Mutter erstmalig Sicherheit und Trost, aber auch Schmerz und Frustration erleben.[35] Doch wenn es darum gehe, eine eigene Geschlechtsidentität zu entwickeln, bleibe das Mädchen gewissermaßen mit der „ersten Quelle des Wohlbefindens und der Wut“ identifiziert, würde sich selbst zwar ebenso ambivalent wahrnehmen, wie es auch die Mutter wahrnimmt, aber dennoch mit ihr verbunden bleiben und seine Realitätswahrnehmung an diese Verbindung knüpfen. Auch die Objektwahl werde von der Mutter übernommen und auf das „Fremde“, das Männliche, das, was das kleine Mädchen und die Mutter nicht sind, gerichtet.[36] Der Junge hingegen müsse sich von der Mutter trennen und sich mit dem Vater identifizieren, da auf anderem Weg kein „gesundes Gefühl für Männlichkeit“[37] zu erreichen sei. Gemäß Greenson bezeichnen auch Hudson/Jacot dies als „speziellen Schicksalsschlag“[38].

Die Ent-Identifizierung von der Mutter erzeuge die Eigenständigkeit des Jungen, die Gegen-Identifizierung mit dem Vater würde seine Männlichkeit etablieren.[39] Um eine „Verbündung“ mit dem Vater zu erreichen, müsse er durch die Imitation der männlichen Objektwahl „innerhalb seiner Selbst eine Verlagerung“[40] bewirken. Dadurch ergebe sich letztendlich im Zuge der Ausbildung der Geschlechtsidentität eine Umkehr dessen, was bislang als „dasselbe“ und „das andere“ angesehen wurde: Die Wahrnehmungsstruktur würde sich vom Modus der „Ähnlichkeit im Unterschied“[41] (während der Identifizierung mit der Mutter) in die Form von „Unterschied in Ähnlichkeit“[42] (im Zuge der Gegen-Identifizierung) verändern. Auf die Konsequenzen dieser Veränderung wird im Weiteren noch einzugehen sein.

Welche Faktoren es jedoch sind, die das männliche Kleinkind zur Ent-Identifizierung mit seiner Mutter motivieren und „eine Verlagerung innerhalb seiner Selbst“ hervorzurufen, wird von Hudson/Jacot nicht erklärt. Vielmehr wird dieser entscheidende Punkt deshalb offengelassen, da laut den Autoren dies „bisher niemand [wisse]“[43]. Dennoch werden kurz drei Möglichkeiten angesprochen, wobei Hudson/Jacot vor allem eine biologische Ursache für wahrscheinlich halten, die sich in einer bereits intrauterin angelegten, geringeren Frustrationstoleranz seitens des Jungen ausdrü name="_ftnref44" title="">[44]

Ein alternativer Erklärungsansatz bezieht sich mehr auf die Interaktion zwischen Mutter und Kind, indem die Motivation zur Ent-Identifizierung auf das spezifische Verhalten von Müttern gegenüber Söhnen zurückgeführt wird, das sich vom Umgang mit Töchtern unterscheidet. Jedoch werden selbst hierfür „biologische Gründe“ angenommen. Im Unterschied zum Jungen selber würde die Mutter von Beginn an um seine Anatomie wissen und somit biologische Unterschiede vergrößern, da sie in ihrer Wahrnehmung und ihren Handlungen selber von kulturellen Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit geprägt sei, kurz: sie behandelt ihren Sohn vom Tag seiner Geburt an als „Mann“.[45]

Der dritte Ansatz kommt einer psychoanalytischen Erklärung am nächsten. Dabei wird der Grund für die Ent-Identifizierung oder zumindest deren Beschleunigung im erotischen Begehren der Mutter gegenüber dem Jungen gesucht. Die Angst vor einem Verschlungen-Werden durch die Mutter oder der Schock über die intuitive Erfassung der Verschiedenheit des Körpers der Mutter von dem eigenen würde eine Abwendung auf Seitens des Jungen bewirken.[46] Keine dieser Möglichkeiten wird jedoch systematisch von den Autoren entwickelt oder weiterverfolgt.

Jenseits dieser Erklärungsversuche sei es jedoch deutlich, dass anhand der von Greenson festgestellten Schritte der Ent- und Gegen-Identifizierung im wesentlichen drei verschiedene Muster entstehen könnten, denn anders als bei Greenson hängt eine „erfolgreiche“ Ent-Identifizierung bei Hudson/Jacot nicht zwingend mit einer anschließenden Gegen-Identifzierung zusammen: Das erste denkbare Muster sei das „konventionelle“, bei dem sich das biologisch männliche Kind von der Mutter ent- und mit dem Vater gegen-identifiziere, im zweiten vorstellbaren Schema würde weder eine Ent-, noch eine Gegen-Identifizierung des Jungen vorgenommen, und im dritten möglichen Fall käme es zwar zur Ent-, aber nicht zur Gegen-Identifizierung des Jungen mit seinem Vater. Dabei produziere das erste Muster den „männlichen [Mann]“[47], der sich als männlich wahrnehme und dementsprechend agiere, das zweite Muster führe zur „Verweiblichung“[48], indem der Junge eine weibliche Geschlechtsidentität annehme, die seiner Anatomie entgegenstehe, und das Resultat des dritten Musters sei der „androgyne Mann“, der ein Gefühl von Geschlechtslosigkeit verspüre.[49] Neben den drei Grundmustern seien noch weitere Kombinationen möglich, beispielsweise eine Gegen-Identifizierung mit dem Vater ohne vorausgegangene Ent-Identifizierung mit der Mutter. Dies könne dann geschehen, wenn sich beide Eltern in ihrer Persönlichkeit sehr ähneln, beide in die Pflege des Kindes involviert seien und für das Kind keine klare Zuordnung von „männlichen“ und „weiblichen“ Eigenschaften möglich sei. Auch hier würde keine eindeutige männliche Geschlechtsidentität herausgebildet, vielmehr existierten schwach ausgeprägte männliche und weibliche Charakteristika in der Identität des Jungen nebeneinander.[50] Normalerweise sollte es gemäß Hudson/Jacot jedoch gerade die Vaterrolle sein, die dem Jungen helfe, verschiedene an den Eltern wahrgenommene Qualitäten durch das „männliche“ Auftreten des Vaters intuitiv geschlechtsspezifisch zuzuordnen.[51] Demnach erfahren nur „männliche Männer“ die „Wunde“ mit all ihren Auswirkungen oder – anders herum betrachtet: Nur die „Wunde“ bringt „echte“, „männliche Männer“ hervor mit all den Eigenschaften, die gesellschaftlich normiert als „männlich“ gelten, und dies wohl nur unter dem Einfluss eines ebenso „männlichen“ Vaters.

Wie jedoch bei der Entstehung der „Wunde“ im Einzelnen biologische, psychologische und kulturelle Faktoren aufeinander einwirkten und zu den verschiedenen Ergebnissen führten, „weiß [wie bereits bei der Frage nach den Gründen der Ent-Identifizierung] niemand“[52] und deswegen sei es „abwegig, detaillierte Erklärungen vorzutragen“[53]. Dementsprechend bleibt ein weiterer entscheidender Punkt ungeklärt, aber laut Hudson/Jacot sei es auch ohne eine systematische Verfolgung dieses Problems unübersehbar, dass die Auswirkungen der Ent- und Gegen-Identifizierung beim „männlichen Mann“ in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter deutlich zum Tragen kommen, mehr als zum Zeitpunkt der Entstehung der „Wunde“ selber.[54] Möglicherweise ist es diese von den beim erwachsenen Mann sichtbar werdenden „Ergebnissen“ ausgehende Betrachtungsweise, die aus der Sicht der Autoren eine kritische Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Entstehungsfaktoren der „Wunde“ bzw. der männlichen Geschlechtsidentität und ihrer Vernetztheit untereinander marginal erscheinen lässt.

Die für den „männlichen Mann“ „positiven“ sowie „negativen“ Konsequenzen der „Wunde“ bezeichnen Hudson/Jacot als „Kosten“ und „Nutzen“.[55] Demnach müsse der „männliche Mann“ für gewisse „Vorzüge“ „bezahlen“.

Im Zusammenhang mit den „Kosten“ schreiben die Autoren, dass der Junge, der eine eindeutig männliche Geschlechtsidentität entwickele (bzw. entwickeln wolle), vom Trost der Mutter abgeschnitten sei und somit etwas anderes „in sich [hat]“[56] als Mädchen und wohl auch „weibliche“ und „androgyne“ Männer, wobei wie bereits erwähnt kein Hinweis darauf gegeben wird, was dieses „Abschneiden“ bewirkt, warum die Ent-Identifizierung auch automatisch das Aufgeben der Mutterliebe bedeuten soll. In jedem Fall gehe von eben diesem Defizit eine charakteristische Kombination von Eigenschaften aus. Insbesondere würden durch den „existentiellen Abgrund“ Unsensibilität, Frauenhass und sexuelle Perversionen hervorgerufen als auch die Problematik, Liebe zu geben und zu empfangen sowie bipolare Kategorisierungen alles Emotionalen, eine eingeschränkte Empathiefähigkeit und eine eingeschränkte Fähigkeit zur intersubjektiven Beziehungserfahrung.[57] Beim Heraustreten aus der „warmen, symbiotischen Präsenz seiner Mutter“[58] würden beim Jungen Gefühle von Verlust und unterschwelliger Abneigung, Furcht und Angst vor Rache entstehen.[59] Dabei bleibt die genaue Genese dieser Affekte wiederum unklar, da ja der Trennungsgrund des Jungen von der Mutter nicht genant wird. Ergebnis dieser Affekte seien jedoch „negative Strömungen“ im Unbewussten der männlichen Psyche, die sich entweder symbolisch äußern könnten oder sich direkt gegen ihre „Quelle“, die Weiblichkeit bzw. den weiblichen Körper richteten.[60] „Unterhalb“ der normalen Interaktion mit Frauen würden diese in der männlichen Phantasie als „Wesen, die beschmutzen, köpfen und kastrieren“[61] erscheinen. Aber wieso sind solche Bilder von Angst und Panik das Resultat der aufgelösten Symbiose? Was veranlasst den Mann, Frauen derart negativ zu betrachten, wo es doch nicht die Mutter ist, die ihm Liebe versagt und die gegen seinen Willen das symbiotische Band zerschneidet? Wieso wird eine lebensnotwendige Quelle, die sowohl erste Erfahrungen von abwechselndem Wohl- und Unbehagen bereitet, derart eindimensional von der negativsten Seite betrachtet?

Auch auf diese Fragen wird an dieser Stelle keine Antwort gegeben, jedoch schreiben Hudson/Jacot, Frauenhass sei ein fester Bestandteil der männlichen Psyche, und weder ein „Nebenprodukt“ der Erziehung oder sexistischer Vorurteile.[62] Frauenhass würde „durch Ängste gespeist, die eine direkte Konsequenz der Wunde sind“ und führe „ein Schattendasein in einem Bereich, wo Vorstellungen von Trennung und Verschlungen-Werden, erotischer Erregung und Abscheu sich vermischen“[63]. Diese Gefühle würden entweder transformiert oder destruktiv ausgelebt, zu vermeiden seien sie nicht.

Auf der „Nutzenseite“ hingegen lägen die „positiven“ Konsequenzen der „Wunde“ vor allem im Erreichen einer besonderen individuellen, unabhängigen, selbstbestimmten Kraft des Handelns, der Möglichkeit, abstrakte Leidenschaften zu entwickeln und der Tatsache, dass die „Wunde“ eine lebenslange, unerschöpfliche Quelle psychischer Energie für den „männlichen Mann“ darstelle. Indem sich der Junge aus der Symbiose löse, könne er durch das anschließende Finden eines neuen Identifikationsobjekts eine Selbstständigkeit erreichen, die dem Mädchen durch die Aufrechterhaltung der Identifizierung mit der Mutter vorenthalten bliebe.[64] Der Junge hingegen trennt sich von der „Quelle der Frustration“[65] und entdecke für sich einen unabhängigen Standpunkt und somit größere Handlungsfreiheit, jedoch um den oben dargelegten Preis der Angst. Hudson/Jacot weisen darauf hin, dass nicht nur gewissermaßen die „Tiefe“ der „Wunde“ für den Grad der Ausprägung dessen, was normativ bzw. stereotypisierend mit Männlichkeit verbunden wird, verantwortlich sei, sondern dass eine ausgeprägte „Wunde“ und demzufolge auch „ausgeprägte Männlichkeit“ mit einer entsprechenden „existentiellen Unsicherheit“ korreliert.[66] Durch die Abtrennung von der Quelle primären Trosts werde also die „männliche“ Eigenschaft der Autonomie erreicht, demgemäß groß sei aber auch die Fragilität der männlichen Geschlechtsidentität. Dennoch sei die „Wunde“ mit ihrer Spannung zwischen Autonomie und Angst die wichtigste Energiequelle des „männlichen Mannes“. Sie bewirke „symbolisch signifikante Aktivitäten – typischerweise in Bereichen, die von […] Sexualität und Geschlecht weit entfernt sind“[67]. Abstrakte Aktivitäten würden aus „Selbstzweck“ mit derselben Leidenschaft verfolgt wie ansonsten zwischenmenschliche Beziehungen, die Beziehungen des „männlichen Mannes“ würden aber vor allem Ideensystemen und Technik gelten.

An diesem Punkt betonen die Autoren, dass sich ihre Hypothese der „Wunde“ von bisherigen Erklärungsansätzen abhebt, die die abstrakte Leidenschaft des Mannes in der Sublimierung oder Kanalisierung biologischer Energien verorten wollten. Die „männliche Wunde“ hingegen biete eine einfache logische Erklärung für die leidenschaftliche Hingabe an Unbelebtes: sie resultiere aus einer frühen psychischen Trennung, durch die Unbelebtes mit emotionalen Bedeutungen versehen werde, die zuvor Menschen zugeschrieben wurden, während Menschen „ent-emotionalisiert“ wie Unbelebtes behandelt würden.[68] Dies schließt gedanklich wohl an die bereits erwähnte Wahrnehmungsverschiebung während der Ent- und Gegen-Identifizierung vom Modus der „Ähnlichkeit-im-Unterschied“ zum Modus des „Unterschieds-in-Ähnlichkeit“ an, aber was genau die „psychische Trennung“ bezeichnet, bleibt wiederum offen. Geht es dabei gesondert um die mit der Loslösung von der Mutter verbundene Abtrennung von Liebe und Trost zugunsten der angesprochenen Handlungsautonomie? Müssen die Überlegungen hinsichtlich dieses Vertauschens von Mensch und Sache aber nicht schon bei frühsten Spaltungs- und Abwehrmechanismen und ihren sie auslösenden Erfahrungen ansetzen, die erst unter der Erkenntnis der Geschlechterdifferenz geschlechtsspezifisch rekategorisiert werden können, wobei das Objektstreben als weiblich eingeordnet wird und entwertet werden muss, um die als „männlich“ idealisierte und angestrebte, aber stets bedrohte Kontrolle und Unabhängigkeit (vor allem von der Frau) herzustellen versuchen, zu deren Zweck auf unbewusster psychischer Ebene zum Mittel der Dehumanisierung gegriffen wird? Sind mit dem Verweis auf die „männliche Wunde“ wirklich männliche Phänomene wie Frauenhass, Perversionen und die ihnen verwandte Dehumanisierung potentieller Liebesobjekte einerseits und Fixierungen auf Abstraktes bzw. Unbelebtes andererseits ausreichend erklärt?

Hudson/Jacot stellen diese Frage nicht, sondern sehen in der „Wunde“ die gesamte Erklärung für ein besonderes Charakteristikum der menschlichen Spezies, nämlich jener Fähigkeit zu abstrakter Leidenschaft, der Fähigkeit, außerhalb biologischer Bedürfnisse und Gelüste Ziele mit Leidenschaft zu verfolgen. Die „Wunde“ erkläre die „Psychologie männlichen Denkens“ und zeige, warum für „männliche Männer“ die Leidenschaften am befriedigendsten seien, die am stärksten von menschlichen Bedürfnissen und Intimität getrennt sind.[69] All dies sei von großem kulturellen Nutzen, die Schwierigkeit würde jedoch darin bestehen, dass für den „männlichen Mann“ (wohl dann, wenn er „männlich“ bleiben will), „die Arbeit, die Trennungen aufrechtzuerhalten, niemals zu Ende ist“[70].

All dies klingt sehr danach, dass Männlichkeit hart erkämpft werden muss und doch stets fragil bleibt. Es stellt sich die Frage, ob dieser Kampf tatsächlich notwendig ist, und wenn ja, warum er notwendig ist. Was „ermutigt“ den kleinen Jungen zu diesem Kampf? Gerade eine Antwort darauf sind die Autoren die ganze Zeit über schuldig geblieben, und es soll in der folgenden Diskussion und Kritik der Ent-Identifizierungstheorien versucht werden, Faktoren aufzuzeigen, die bei Greenson und Hudson/Jacot nicht berücksichtigt wurden, aber für eine systematische Darlegung einer Männlichkeitsentwicklung von hoher Bedeutung sind. Begonnen wird dabei mit dem Problem der durch die Ausklammerung einer Betrachtung der Konstitution männlicher Sexualität entstehenden Verkürzungen sowie der Bedeutung der Erkenntnis der Geschlechterdifferenz und der Rekategorisierung für die Bildung der männlichen Geschlechtsidentität.

4. Diskussion und Kritik

4.1 Die fehlende Erklärung des Ursprungs der „Wunde“

Hudson/Jacot erklären zwar innerhalb ihres Modells, wie die „Wunde“ entsteht, nämlich aus den zwei Schritten der Ent- und Gegenidentifizierung. Aber wie es zu diesen beiden Schritten kommt, bleibt unbeantwortet, genauso wie die reflektierende Frage nach dem Verhältnis der historischen Entstehung des Deutungsmusters der hegemonialen Männlichkeit zur „Wunde“ bzw. zur Entstehung eines solchen Modells. Anstatt solche Reflexionen vorzunehmen, suggerieren Hudson/Jacot, die „Wunde“ sei als Resultat einer angeblich intraunterin erzeugten biologischen Programmierung der für den „männlichen Mann“ einzig konstitutive Faktor.

4.1.1 Das Ausklammern der Probleme der (männlichen) Sexualitätskonstitution und die Bedeutung der Rekategorisierung

Um zu zeigen, wie wichtig die Berücksichtigung von psychosexuellen Entwicklungsphasen und der Sexualitätskonstitution für das Verständnis der Männlichkeitsentwicklung bzw. die Organisation der männlichen Geschlechtsidentität und deren Charakteristika sind, muss der Weg des Jungen in seiner Sexualitäts- bzw. Genitalitätsentwicklung zumindest einigermaßen detailliert nachvollzogen werden. Die Grundlage der im Folgenden dargelegten Mechanismen bilden vor allem die Ausführungen von Pohl zum Verhältnis von männlicher Sexualität und Frauenhass.[71]

Spaltungsmechanismen und Identifizierung

„Kein gesetzmäßiges Müssen [treibt] den kleinen Jungen in eine sadistische Bewegung weg von der Mutter, sondern eine Summe von kulturtypischen Besonderheiten in der bewussten und unbewussten Interaktion zwischen ihm als männlichem Kind und seinen Erwachsenen.“[72]

Nach den Ent-Identifizierungstheorien erscheint es jedoch so, als handle es sich dabei um eine ontologische Gesetzmäßigkeit, eine Gesetzmäßigkeit, die unumgehbar mit der „Produktion“ hegemonialer Männlichkeit verbunden ist, denn diese ist es wohl, die Hudson/Jacot meinen, wenn sie vom „männlichen Mann“ sprechen. Eine eigenständige, männliche Identität könne gemäß des Verständnisses der Ent-Identifizierungstheorien erst durch die radikale Trennung von der Mutter erreicht werden, aber beginnt denn der gesamte Prozess der Identitätsbildung tatsächlich erst mit der Loslösung aus der Symbiose? Zunächst einmal kann gar nicht genau zwischen zwei aufeinander folgenden Phasen der Identifizierung und der Ent-Identifizierung und einer erst daran anschließenden Objektliebe unterschieden werden, denn Identifizierung und Objektbeziehung überlagern sich von Beginn an: „Uranfänglich sind Objektbesetzung und Identifizierung wohl nicht voneinander zu unterscheiden.“

Die erste Objektbeziehung besteht bereits mit einem Teilobjekt, der mütterlichen Brust. Schon hier kommt es zu einer Objektspaltung, indem in der Wahrnehmung des Kindes Empfindungen der Lust und des Wohlbefindens von Empfindungen der Frustration zwei verschiedenen imaginativen Objekten zugeordnet werden. Das „gute“ Objekt ist dann für das Hervorrufen negativer Gefühle beim Kleinkind nicht verantwortlich, und umgekehrt wird jeder Affekt des Unbehagens in die Schuld des „schlechten“ Objekts projiziert.[73] Es existiert demnach keine „reine“ Identifizierung des Kindes mit der Mutter, auch dann nicht, wenn sie als Gesamtes und nicht mehr als Teilobjekt erfahren wird, da frühe Spaltungs- und Abwehrmechanismen Ambivalenzen und keine „idyllische Einheit“ erzeugen. Eine Identifizierung ist also nicht von Objektbeziehungen zu trennen. Deshalb ist die Identifizierung mit der Mutter auch nicht frei von Spannungen und somit nicht als „identitätsloses Stadium“ des Kindes zu bezeichnen.[74] Die Entwicklung einer eigenständigen Identität ist aus diesem Grund nicht zwingend an die Trennung der Mutter-Kind-Symbiose gebunden. Das Kind seinerseits ist jedoch an seine Bezugspersonen gebunden, es benötigt sie, um seine Triebe zu befriedigen. Triebbefriedigung ist ohne ein Objekt nicht zu erreichen, und an dieser Feststellung wird das, was Pohl als „Sexualitätsdilemma“ bezeichnet, festgemacht. Für den Fortgang dieses Dilemmas werden später wiederum die frühen Spaltungsmechanismen bedeutsam.

Tatsache ist, dass die monokausalen, entsexualisierten Ableitungen der Entwicklung einer eigenständigen männlichen Identität, die nur auf eine gelungene Ent-Identifizierung von der Mutter reduziert werden, vernachlässigen, dass erstens die Grundlage der Subjektbildung für den Jungen bereits in der Symbiose angelegt wird, da der Identifizierung zweitens bereits komplexe Objektbezüge verhaftet sind und diese drittens schon von Erfahrungen von Mangel, Angst, Verlust, Trennung und Differenzierung gekennzeichnet sind,[75] so dass der Junge nicht erst durch die Hilfe des Vaters mittels der Gegen-Identitfizierung zur Subjektivität gelangt. Die Erfahrungen der Frustration des Kindes in der Symbiose bleiben zwar von Hudson/Jacot nicht unerwähnt, sie bleiben aber für die Wichtigkeit der Thematik der frühen Identifizierungsprozesse unbeachtet, auch dahingehend, dass die sexuelle Dramatik in der Mutter-Kind-Dyade ausgeblendet wird. Damit wird übersehen, dass „Ressentiments“, Projektionen und Hassgefühle keine direkte Folge einer „Trennungswunde“ sind, sondern bereits viel früher auftreten, wenn die Geschlechterdifferenz vom Kind noch gar nicht erkannt worden ist. Auch Erfahrungen von Einheit, Ähnlichkeit und Differenz werden bereits vor der Ent-Identifizierung gemacht und in unbewussten Wahrnehmungsstrukturen von sich herausbildenden Trieb- und Objektrepräsentanzen verarbeitet und eingelagert.[76] Hass wird nicht primär als Hass gegenüber allem Weiblichem empfunden, sondern wird erst nach dem Gewahrwerden des Geschlechtsunterschieds zu Frauenhass, wenn bisherige Erfahrungen rekategorisiert werden.[77] Die von Greenson und Hudson/Jacot beschriebenen entsexualisierten Identifizierungsprozesse können für sich gesondert nicht die für die männliche Identität charakteristische Verknüpfung von Sexualität, Narzissmus und Hasspotentialen erklären, die gerade für das Verständnis der Entstehung von Frauenhass und der „Devitalisierung“ des Lebendigen so wichtig ist, denn „das männliche Geschlecht hängt an seinem Geschlecht“[78].

[...]


[1] Pohl, Rolf: Feindbild Frau. Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen. Hannover: Offizin 2004. S. 27.

[2] Greenson, Ralph R.: Die Beendigung der Identifizierung mit der Mutter und ihre besondere Bedeutung für den Jungen. In: Greenson, Ralph R.: Psychoanalytische Erkundungen. Stuttgart: Klett-Cotta 1968. S. 257-264.

[3] Hudson, Liam u. Jacot, Bernadine: Wie Männer denken. Intellekt, Intimität und erotische Phantasien. Frankfurt a.M., New York: Campus 1993. S. 7.

[4] Hudson/Jacot. S. 64.

[5] Hudson/Jacot. S. 67.

[6] Vlg. Greenson. S. 257.

[7] Vlg. Greenson. S. 258.

[8] Vlg. Greenson. S. 261.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Greenson. S. 263.

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Vgl. Greenson. S. 264.

[15] Greenson. S. 257.

[16] Ebd.

[17] Greenson. S. 259.

[18] Vlg. ebd.

[19] Pohl gemäß Gilmore. S. 23.

[20] Greenson. S. 261.

[21] Vgl. Greenson. S. 264.

[22] Ebd.

[23] Hudson/Jacot. S. 7.

[24] Vgl. Hudson/Jacot. S. 35.

[25] Vgl. Hudson/Jacot. S. 9.

[26] Hudson/Jacot. S. 7.

[27] Vgl. ebd.

[28] Ebd.

[29] Ebd.

[30] Vgl. Hudson/Jacot. S. 69.

[31] Vgl. Hudson/Jacot. S. 8.

[32] Vgl. Hudson/Jacot. S. 10

[33] Ebd.

[34] Hudson/Jacot. S. 57.

[35] Vgl. ebd.

[36] Vgl. Hudson/Jacot. S. 58.

[37] Hudson/Jacot gemäß Greenson. S. 58.

[38] Ebd.

[39] Vlg. Hudson/Jacot. S. 59.

[40] Ebd.

[41] Ebd.

[42] Ebd.

[43] Ebd.

[44] Ebd.

[45] Vgl. Hudson/Jacot. S. 60.

[46] Vgl. Hudson/Jacot. S. 61.

[47] Ebd.

[48] Ebd.

[49] Vgl. ebd.

[50] Vgl. Hudson/Jacot. S. 62.

[51] Vgl. Hudson/Jacot. S. 63.

[52] Hudson/Jacot. S. 62.

[53] Ebd.

[54] Vgl. ebd.

[55] Vgl. Hudson/Jacot. S. 8.

[56] Hudson/Jacot. S. 64.

[57] Vlg. Hudson/Jacot. S. 65.

[58] Ebd.

[59] Vgl. ebd.

[60] Vgl. ebd.

[61] Ebd.

[62] Vgl. Hudson/Jacot. S. 67.

[63] Ebd.

[64] Vgl. ebd.

[65] Hudson/Jacot. S. 68.

[66] Vgl. ebd.

[67] Ebd.

[68] Vgl. Hudson/Jacot. S. 69.

[69] Vgl. Hudson/Jacot. S. 70.

[70] Hudson/Jacot. S. 78.

[71] Pohl, Rolf: Feindbild Frau. Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen. Hannover: Offizin 2004.

[72] Schmauch, Ulrike: Über Frauen und Männer. Eine Entgegnung auf Reimut Reiches „Mann und Frau“. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Hrsg. von Margarete Mitscherlich-Nielsen, Helmut Dahmer u. Lutz Rosenkötter. Jahrgang 41. Stuttgart: Klett-Cotta 1987. S. 442.

[73] Pohl gemäß Klein. S. 168.

[74] Vgl. Pohl. S. 262.

[75] Vgl. Pohl. S. 265.

[76] Vgl. Pohl. S. 268.

[77] Vgl. Pohl. S. 255.

[78] Pohl. S. 272.

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Die "männliche Wunde" - Ursprung und Konsequenzen: Zur Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Institut für Soziologie und Sozialpsychologie)
Veranstaltung
Psychoanalyse und Männlichkeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
53
Katalognummer
V62483
ISBN (eBook)
9783638557146
ISBN (Buch)
9783656803096
Dateigröße
652 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
sehr dichte Arbeit (einfacher Zeilenabstand) Anm. der Red.
Schlagworte
Wunde, Ursprung, Konsequenzen, Entwicklung, Geschlechtsidentität, Psychoanalyse, Männlichkeit
Arbeit zitieren
Julia Haase (Autor:in), 2005, Die "männliche Wunde" - Ursprung und Konsequenzen: Zur Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62483

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