Die wissenschaftliche Spur in Johann Wolfgang von Goethes Wahlverwandtschaften


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

25 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Bestandsaufnahme und Interpretation des Spurenlesen

3 Die Bedeutung der Wissenschaft für das Selbstverständnis Goethes und der Gesellschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
3.1 Haus und Welt – das Gegen- und Zusammenspiel zeitlosen friedlichen Daseins mit der Welt im Umbruch

4 Literaturdidaktik und die Lesestrategien – Zwei sich ergänzende Systematiken für den Literaturunterricht

5 Vorschlag zur didaktischen Verarbeiten des Spurenlesens im gymnasialen Deutschunterricht der 10. Klasse

6 Schlussbemerkung

7 Literatur

Anhang

1 Einleitung

„Wahlverwandtschaften“, von Goethe selbst als sein „bestes Buch“ beschrieben[1], erfreute sich in den letzten Jahren wachsender Beliebtheit. Erstrecht die weltanschaulichen Fragestellungen und die Orientierungslosigkeit, seit dem Ende des Kalten Krieges ähneln immer stärker den im Buch beschriebenen Empfindungen. So wurde der Roman schon auf vielseitiger Weise zeitgenössischen oder enthistorisierend interpretiert und analysiert, da sich kaum ein zweiter Roman finden lässt, der solch eine Anzahl Analogien und Metaphern beinhaltet und somit eine der wichtigsten Umbruchszeiten der Geschichte widerspiegelt. Nicht nur in der Geschichte stellt die Zeit um 1800, mit dem US-amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der französischen Revolution und den Eroberungen Napoleons ein wichtiges Zeitalter dar. Auch die Wissenschaft beginnt Erkenntnis orientiert und losgelöst vom christlichen Dogma die Natur kategorisch zu erschließen. Johann Wolfgang von Goethe, sowohl Dichter als auch Wissenschaftler, soll durch den von Schelling angenommenen Polaritätsgedanken angeregt worden sein, den Roman „Wahlverwandtschaften“ zu schreiben.[2] Neben dem Polaritätsgedanken bedachte er in diesem Roman die neusten chemischen, soziologischen und physikalischen Forschungsergebnisse seiner Zeit, um sie in Verbindung zu einander zu bringen. Daher ist es nicht von ungefähr, die Handlungsentwicklung mit einem großen chemischen Experiment der Trennung und Verwandtschaft zwischen verschiedenen Elementen zu vergleichen, und so die wissenschaftliche Spur innerhalb des Romans zu unterstreichen.

Die angesprochene Aktualität der Geschichte beinhaltet gleichzeitig eine Attraktivität für den gymnasialen Deutschunterricht. Da sich das Buch relativ schwer lesen lässt, bedarf es besonderer Lesestrategien, den Schülern die ausgereifte Bildsprache Goethes näher zu bringen. Das „Spurenlesen“ ist eine Möglichkeit, dies zu ermöglichen. In dieser Arbeit soll eine Bestandsaufnahme mit verschiedenen Zitaten dieser „Spur“, deren Interpretation durch zeitgenössische Wissenschaftserkenntnissen, sowie der Versuch, diese in einem didaktischen Konzept zu verankern, vorgelegt werden.

Methodisch soll die Arbeit folgendermaßen aufgebaut sein. Im ersten Abschnitt werden die wissenschaftlichen Zitate aus dem Werk aufgeführt und kurz interpretiert. Hierbei wird sich aufgrund der Akzentuierung dieser Arbeit darauf beschränkt, Deutungsmöglichkeiten kurz aufzuzeigen. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird die Verbindung zwischen der wissenschaftlichen Spur und dem Selbstverständnis der Gesellschaft zur Jahrhundertwende 1800 gezeigt. In den meisten Naturwissenschaften war dies die Zeit, in der überalterte Tabus gebrochen und die Natur anfänglich im rationalen Sinne erforscht wurde. Gleichfalls Goethe war neben seiner literarischen Arbeit ein Wissenschaftler, welcher sich beispielsweise mit vielen Experimenten der Farbenlehre widmete. Im letzten Abschnitt soll der Versuch unternommen werden, das Spurenlesen als Unterrichtsbeispiel für die 10. gymnasiale Klasse literaturdidaktisch zu verwerten.

2 Bestandsaufnahme und Interpretation des Spurenlesen

Vergleich des Verhältnisses zwischen Eduard und dem Hauptmann mit der Wirtschaftslehre. Das zweite Zitat zeigt die Stellung des Geldes, die Bedeutung der Wirtschaftskraft, in einer Gesellschaft, welche im Übergang von der Feudalordnung in die kapitalistische bürgerliche Ordnung begriffen ist.

„In seinem letzten Briefe herrscht ein stiller Ausdruck des tiefsten Mißmutes; nicht daß es ihm an irgendeinem Bedürfnis fehle: denn er weiß sich durchaus zu beschränken, und für das Notwendige habe ich gesorgt; auch drückt es ihn nicht, etwas von mir anzunehmen: denn wir sind unsre Lebzeit über einander wechselseitig uns so viel schuldig geworden, daß wir nicht berechnen können, wie unser Kredit und Debet sich gegeneinander verhalte […]“[3]

„[…] Luciane, war kaum aus die Pension in die große Welt getreten, […], und ein junger sehr reicher Mann gar bald eine heftige Neigung empfand, sie zu besitzen. Sein ansehnliches Vermögen gab ihm ein Recht, das Beste jeder Art sein eigen zu nennen, und es schien ihm nichts weiter abzugehen als eine vollkommene Frau, um die ihn die Welt so wie um das übrige zu beneiden hätte.“[4]

Charlotte drückt in der Landschaftspflege ihre Liebe zu der Natur und zu der Landschaft im Allgemeinen aus.

„Aber wie verwundert war er, als er fand, daß Charlotte auch hier für das Gefühl gesorgt habe. Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten. Auch dem ältesten Stein hatte sie seine Ehre gegönnt. Den Jahren nach waren sie auf der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und geziert.“[5]

Mittler symbolisiert die aufstrebende historische Rechtsschule des anfänglichen 19. Jahrhunderts. Sie hatte in Abkehr von der Epoche des Natur- oder Vernunftrechts zum Ziel, dass die Rechtspflege von Juristen nach den Bedürfnissen des Volkes durchzuführen sei.[6] Vor allem an seinem Willen, jeden Streit zum Vorteile beider Parteien zu schlichten erkennt man die oben genannte Zielsetzung der historischen Rechtsschule.

„[…] und hatte sich bei einer rastlosen Tätigkeit in seinem Amte dadurch ausgezeichnet, daß er alle Streitigkeiten, sowohl die häuslichen, als nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden und mehrerer Gutsbesitzer zu stillen und schlichten wußte. Solange er im Dienst war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen […]. Wie nötig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr. Er warf sein ganzes Studium darauf, und fühlte sich den geschicktesten Advokaten gewachsen.“[7]

Die Problematik der chemischen Verwandtschaften, sowie deren Beziehung zur geometrischen Form der Kugel, werden in einem Vortrag für Charlotte geäußert. Hieraus entwickelt sich eine Hauptanalogie des Romans.

„Und so begann der Hauptmann: ‚An allen Naturwesen, die wir gewahr werden, bemerken wir zuerst, daß sie einen Bezug auf sich selbst haben. […] Stelle dir nur das Wasser, das Öl und das Quecksilber vor, so wirst du eine Einigkeit, einen Zusammenhang ihrer Teile finden. Diese Einigung verlassen sie nicht, außer durch Gewalt oder sonstige Bestimmung. Ist diese beseitigt, so treten sie gleich wieder zusammen. […] daß nämlich dieser völlig reine, durch Flüssigkeit mögliche Bezug sich entschieden und immer durch die Kugelgestalt auszeichnet. Der fallende Wassertropfen ist rund; von den Quecksilberkügelchen haben sie selbst gesprochen; ja ein geschmolzenes Blei wenn es Zeit hat völlig zu erstarren, kommt unten in Gestalt einer Kugel an.’“[8]

Vor allem die erwähnte notwendige „Gewalt oder sonstige Bestimmung“ bezieht sich im besonderen Maße auf die Handlung des Romans. Ottilie und der Hauptmann sind für Eduard beziehungsweise Charlotte Träger dieser äußeren Gewalt oder Bestimmung, um ihre eheliche Verbindung zu entsagen.

Weiterführend kommt es zum Vergleich mit den Menschen, womit es dem Bereich der Soziologie und Psychologie streift.

„Lassen Sie mich voreilen, sagte Charlotte, ob ich treffe, wohin sie wollen. Wie jedes gegen sich selbst ein Bezug hat, so muß es auch gegen andere ein Verhältnis haben. Und das wird nach der Verschiedenheit der Wesen verschieden sein, fuhr Eduard eilig fort. Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte begegnen, die schnell zusammentreten, sich vereinigen, ohne aneinander etwas zu verändern, wie sich Wein mit Wasser vermischt. Dagegen werden andere Fremd nebeneinander verharren und selbst durch mechanisches Mischen und Reiben sich keineswegs verbinden, wie Öl und Wasser zusammengerüttelt sich den Augenblick wieder auseinander sondert.“[9]

Der gesellschaftliche Vergleich wird umso konkreter als Charlotte konstatiert:

„Die meiste Ähnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen haben die Massen, die in der Welt sich gegenüberstellen, die Stände, die Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der Zivilist.“

Eduard vergleicht nun folgend Gesetze und Gebräuche, die diese von sich einander abstoßenden Bevölkerungsgruppen in gesellschaftlichen Räumen friedlich koexistieren lassen, mit „chemischen […] Mittelglieder[n]“[10], welche wiederum einen Verweis auf die oben erwähnte Rechtsschule zulässt. „So verbinden wir, fiel der Hauptmann ein, das Öl durch Laugensalz mit dem Wasser“. Der Begriff der „Verwandtschaft“ wird so mit Hilfe der Alkalien und Säuren erklärt:

„An den Alkalien und Säuren, die obgleich einander entgegengesetzt und vielleicht eben deswegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich am entschiedensten suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen einen neuen Körper bilden, ist diese Verwandtschaft[11] auffallend genug“[12].

Die Vergleiche mit der Chemie werden fortgeführt. Der Begriff „Scheidung“, als Gewaltwort von Eduard gegen Charlotte gebraucht, wird vom Hauptmann chemisch folgendermaßen erklärt:

„Zum Beispiel was wir Kalkstein nennen ist eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig mit einer zarten Säure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden ist. Bringt man ein Stück solchen Steines in verdünnter Schwefelsäure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zarte luftige Säure hingegen entflieht. Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaften anzuwenden, weil es wirklich so aussieht als wenn ein Verhältnis dem anderen vorgezogen eins vor dem anderen erwählt würde“.

In diesen genannten Zitaten wird eindeutig die Verbindung zwischen der inhaltlichen Problematik des Titels und dem chemischen Begriff der Affinität gezeigt: Gibt man zwei verwandten Stoffen A und B einen dritten Stoff C hinzu und besitzt dieser eine stärkere Verwandtschaft, d.h. Affinität, zu A als A zu B, so verbinden sich A und C wahlverwandtschaftlich. Diese Passagen kennzeichnen den Höhepunkt der wissenschaftlichen Spur in Goethes Wahlverwandtschaften, trotz dessen es weitere wissenschaftliche Spuren gibt.[13]

Die Wahlverwandtschaft zwischen Eduard und Ottilien wird immer stärker und verkörpert somit perfekt jene Anziehungskraft. So versinkt er in sie, „keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen spricht ihm zu; alles was in seiner Natur gebändigt war, bricht los, sein ganzes Wesen strömt gegen Ottilien“.[14]

[...]


[1] Vgl. Michael Niedermeier, Das Ende der Idylle, Berlin 1992, S.123: Trotz allen gab Goethe keinerlei Interpretationshilfen seines Werkes und machte den Roman somit noch stärker zu einem potentiell sehr vieldeutigen Werk.

[2] Ebd., S. 113.

[3] Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Stuttgart 1956, S. 5.

[4] Ebd., S. 143.

[5] Ebd., S. 15.

[6] Iris Denneler: Friedrich Karl von Savigny, Berlin 1985, S.22.

[7] Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 16.

[8] Ebd., S. 33.

[9] Ebd., S. 34.

[10] Vgl. Niedermeier, Das Ende der Idylle, S.115 – 116: Gerade vor diesen Mittelgliedern flohen Eduard und Charlotte auf das Land, wo beispielsweise Charlotte bewusst den Landschaftsarbeiten Vorschub gewährt. Zwar gibt es Versuche, wie durch den Mittler, solche Verknüpfungspunkte zu holen, doch seine Eile charakterisieren die diastolischen Freiheitsbestrebungen der Jahrhundertwende, bspw. durch die frz. Revolution. Friedrich Engels schrieb dazu, dass die sittlichen Normen in der Geschlechterbeziehung in einer Zeit des sozialen Umbruchs grundsätzlich von schwindender Bedeutung sind.

[11] Anmerkung des Autors: Gemeint ist die Verwandtschaft zwischen den chemischen Elementen. Zum besseren Verständnis sei noch erwähnt, dass Charlotte nach diesem Vortrag Eduards und des Hauptmannes den Begriff der „Geistes- und Seelenverwandtschaft“ als Gegennennung zur Blutsverwandtschaft, um „diese wunderlichen Wesen verwandt nennen“ zu können.

[12] Vgl. Niedermeier, Das Ende der Idylle, S. 110: Mit diesem Polaritätsgedanken unterscheidet sich der Hauptmann wesentlich von der traditionellen Chemie und verweist auf Goethes Polaritätsauffassung, die sich ja am deutlichsten in den Gruppengefüge: Eduard, Charlotte, Hauptmann, Ottilie, Luciane und deren Ab- und Anreisen zeigt.

[13] Zitate: Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 34 – 36.

[14] Niedermeier, Das Ende der Idylle, S. 115. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Wahlverwandtschaften u. http://de.wikipedia.org/wiki/Christiane_Vulpius am 22.10.2006: Goethe selbst lebte lange Zeit und trotz seines Sohnes August mit Christiana Sophie Vulpius in einer eheähnlichen Gemeinschaft und hatte mit Christiane Friederike Wilhelmine Frommann eine Affäre. Letztere soll als für die literarische Figur Ottilie als Vorlage gedient haben.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Die wissenschaftliche Spur in Johann Wolfgang von Goethes Wahlverwandtschaften
Hochschule
Universität Rostock  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Lesestrategien und Leseförderung
Note
2
Autor
Jahr
2006
Seiten
25
Katalognummer
V67008
ISBN (eBook)
9783638593274
ISBN (Buch)
9783638666923
Dateigröße
524 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Hausarbeit beschäftigt sich mit diesem bedeutenden Werk Goethes und zeigt gleichzeitig Möglichkeiten auf, dieses im Unterricht den Schülern näher zu bringen.
Schlagworte
Spur, Johann, Wolfgang, Goethes, Wahlverwandtschaften, Lesestrategien, Leseförderung
Arbeit zitieren
Matthias Widner (Autor:in), 2006, Die wissenschaftliche Spur in Johann Wolfgang von Goethes Wahlverwandtschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67008

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die wissenschaftliche Spur in Johann Wolfgang von Goethes Wahlverwandtschaften



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden