Grammatikalisierung im Französichen - Ein Überblick


Hausarbeit, 2006

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Grammatikalisierungsforschung gestern und heute

3. Grammatikalisierungsprozesse
3.1 Desemantisierung
3.2 Vom freien Diskurs zur grammatischen Form: Die formale Entwicklung grammatischer Formen

4. Verschiedene Grade der Grammatikalisierung
4.1 Übergangsstadien und Abstufungen
4.2 Parameter der Grammatikalisierung

5. Motive der Grammatikalisierung
5.1 Phonologische Reduktion, Reanalyse und Analogie
5.2 Expressivität und linguistischer Zyklus

6. Kognitive Grundlagen der Grammatikalisierung: Metapher und Metonymie

7. Schlussbemerkung

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema „Grammatikalisierung“. Dass Grammatikalisierungsforschung ein linguistisches Gebiet ist, das durchaus lebensweltlichen Bezug hat, ist dem Außenstehenden vielleicht nicht auf Anhieb eingängig, soll aber durch diese Arbeit bestätigt werden. Die Frage, wie und warum grammatische Elemente entstehen, beschäftigt sich letzten Endes mit einem wichtigen Aspekt des menschlichen Daseins: seiner Sprache und der Möglichkeit, sich in ihr und durch sie verständlich auszudrücken. Auch wenn mit dieser weit gefassten Definition fast jedes linguistische Gebiet Lebenswelt-Bezug hat, so trifft es doch bei Grammatikalisierung in sehr konkreter Weise zu. Immerhin vollzieht sie sich in allen Sprachen der Welt, und damit sind sozusagen alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft überall unmittelbar von ihr betroffen. Wegen des Sprachuniversalismus eignet sich Grammatikalisierungsforschung auch gut für sprachvergleichende Studien[1]. Die vorliegende Arbeit richtet ihren Fokus auf die französische Sprache, d.h. aber nicht, dass nicht auch gelegentlich Beispiele aus anderen Sprachen herangezogen werden, nicht zuletzt, um noch einmal die universelle Bedeutung des Forschungsgebietes zu betonen. Zu Beginn werde ich einen kurzen Blick auf die Grammatikalisierungsforschung werfen. Dieser wird deutlich machen, dass Grammatikalisierung schon immer ein wichtiger Bestandteil der Sprachforschung war, auch wenn es damals ihren Namen noch nicht gab. Namhafte Sprachforscher wie Wilhelm von Humboldt und Gregor von Gabelentz haben bereits weitreichende Erkenntnisse über die Entstehung grammatischer Formen hervorgebracht, auf die die folgende Forschung aufbauen konnte. Die jüngeren Konzepte haben diese Erkenntnisse weiter ausdifferenziert und sie vor allem für die synchrone Sprachbetrachtung nutzbar gemacht[2], wie sich anhand der Untersuchung der unterschiedlichen Grade von Grammatikalisierung im aktuellen Sprachbestand zeigen wird.[3] Zunächst einmal sollen aber die inhaltlichen und formalen Abläufe des Grammatikalisierungsprozesses im Mittelpunkt stehen. Das Hauptmerkmal beim Übergang eines sprachlichen Zeichens in eine grammatische Einheit, die Desemantisierung[4], wird ausführlich dargestellt und an Beispielen erläutert, ferner wird der formale Verlauf des Grammatikalisierungsprozesses nachvollzogen. Schließlich werden die verschiedenen Grammatikalisierungsgrade anhand einiger Beispiele aus dem aktuellen Bestand der französischen Sprache verdeutlicht. Ein Blick auf die Motive und die kognitiven Mechanismen, die den Grammatikalisierungsprozessen zu Grunde liegen, rundet die Untersuchung ab und unterstreicht zugleich noch einmal die universelle, auf die menschliche Kognition zurückgehende Bedeutung des grammatischen Sprachwandels.

2. Grammatikalisierungsforschung gestern und heute

Die Frage nach Ursprung und Entwicklung grammatischer Kategorien beschäftigt Linguisten und Sprachkundler seit jeher. Als direkte Vorläufer des Forschungszweiges, den man heute „Grammatikalisierung“ nennt, können im 18. Jahrhundert Etienne Bonnot de Condillac, John Horne Tooke, August Wilhelm Schlegel und vor allem Wilhelm von Humboldt genannt werden[5]. Humboldt hatte in seinem Werk „Über das Entstehen der grammatikalischen Formen und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung“[6] (1822) die Entwicklung von grammatikalischen Kategorien in vier Phasen eingeteilt, auf denen spätere Grammatikalisierungsmodelle aufbauen konnten. Humboldt nannte sie: 1. pragmatisches Stadium, 2. syntaktisches Stadium, 3. Stadium der Klitisierung und 4. das morphologische Stadium. Diese Theorie wurde später „Agglutinations-Theorie“ genannt[7]. Damit beschreibt Humboldt im Grunde bereits den Übergang der Wörter vom Objekt-Status über syntaktische Strukturen hin zu Klitika und synthetischen Wortkomplexen, wie er später z.B. von Talmy Givón weiter ausdifferenziert beschrieben wird (s. Kap. 3.2).

Ende des 19. Jahrhunderts war es Georg von Gabelentz, der auf der Grundlage von Humboldts Theorie die Untersuchung der Entwicklung grammatischer Formen weiter betrieb. Er ging bereits von einem zyklischen Charakter der Sprachevolution aus und verglich diesen mit einer Spiralbewegung:

„Nun bewegt sich die Geschichte der Sprachen in der Diagonale zweier Kräfte: des Bequemlichkeitstriebes, der zur Abnutzung der Laute führt, und des Deutlichkeitstriebes, der jene Abnutzung nicht zur Zerstörung der Sprache ausarten läßt. Die Affixe verschleifen sich, verschwinden am Ende spurlos; ihre Funktion aber oder ähnliche drängen wieder nach Ausdruck. Diesen Ausdruck erhalten sie (...) durch Wortstellung oder verdeutlichende Wörter. Letztere unterliegen wiederum mit der Zeit dem Agglutinationsprozesse, dem Verschliffe und Schwunde, und derweile bereitet sich für das Verderbende neuer Ersatz vor: periphrastische Ausdrücke werden bevorzugt; mögen sie syntaktische Gefüge oder wahre Komposita sein (...); immer gilt das Gleiche: die Entwicklungslinie krümmt sich zurück nach der Seite der Isolation, nicht in die alte Bahn, sondern in eine annähernd parallele.“[8]

Neben der Spiralbewegung, die später auch als zyklische Bewegung bezeichnet wird[9], wird hier schon das Bedürfnis einer Sprechergemeinschaft nach Ausdruck, also „Expressivität“ als Motivation für den Sprachwandel angesprochen, auf das ich später noch ausführlicher zu sprechen komme[10]. Auch auf die „gegensätzlichen Kräfte“, die nach Gabelentz der sprachgeschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen, also den „Bequemlichkeitstrieb“ und den „Deutlichkeitstrieb“ wird noch einmal zurückzukommen sein.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde von Antoine Meillet der Begriff der Grammatikalisierung erstmals eingeführt. In seinem Aufsatz „L’évolution des formes grammaticales“[11] (1912) greift Meillet Gabelentz’ Bild von der Spiralentwicklung aufgrund des Expressionswunsches wieder auf:

„Les langues suivent ainsi une sorte de développement en spirale; elles ajoutent des mots accessoires pour obtenir une expression intense; ces mots s’affaiblissent, se dégradent et tombent au niveau de simples outils grammaticaux; on ajoute de nouveaux mots ou des mots différents en vue de l’expression; l’affaiblissement recommence, et ainsi sans fin.“[12]

Alle drei zitierten Forscher hatten also bereits entdeckt, dass der Grammatikalisierung eine Folge von Abschwächung und Neubetonung einzelner Wörter zu Grunde liegt. Dieser Prozess wird im Folgenden noch genauer zu betrachten sein.

In der Folgezeit – bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein, war die linguistische Forschung vor allem vom Strukturalismus bestimmt, dessen synchrone Ausrichtung die Weiterentwicklung der Grammatikalisierungsforschung zunächst verlangsamte[13] – vielleicht auch weil man die Grammatikalisierung irrtümlich als rein diachrones Phänomen einstufte[14]. Erst in den 70er Jahren bekam das Thema Grammatikalisierung einen neuen Schub, namentlich durch Talmy Givón. Dessen 1971 erschienene Arbeit „Historical syntax and synchronic morphology“[15] brachte die inzwischen berühmt gewordene treffende Formel „Today’s morphology is yesterday’s syntax“ hervor und legte ein differenziertes Stufenmodell der einzelnen Prozesse auf dem Weg eines sprachlichen Elements zur grammatikalisierten Form vor (s.u.).

Als bahnbrechend erwies sich schließlich die Arbeit von Christian Lehmann, der in seinen „Thoughts on grammaticalization“[16] 1982 sein Hauptaugenmerk auf die verschiedenen Grade von Grammatikalisierungsprozessen legte und verschiedene Parameter zu ihrer Messung entwickelte. Damit wurde auch die synchrone Bedeutung der Grammatikalisierung unterstrichen, da man nun nicht nur beschreiben konnte, wie grammatikalisierte Zeichen historisch entstanden waren, sondern zugleich den aktuellen Sprachbestand zum Gegenstand der Untersuchung machen konnte. Außerdem ließen sich fortan auch Sprachwendungen aus verschiedenen Sprachen auf ihre jeweilige Grammatikalizität hin vergleichen. In den 90er Jahren schließlich hat die Grammatikalisierungsforschung einen regelrechten „Boom“ erfahren[17] und eine Reihe von Untersuchungen zu diesem Bereich, sind erschienen[18], wobei u.a. auch die kognitiven Grundstrukturen von Grammatikalisierungsprozessen erforscht wurden[19]. Deren Ergebnisse werden teilweise in den folgenden Ausführungen berücksichtigt werden.

3. Grammatikalisierungsprozesse

3.1 Desemantisierung

Antoine Meillet beschrieb Grammatikalisierung als „le passage d’un mot autonome au rôle d’élément grammatical“[20], also als den Übergang eines autonomen Wortes in die Rolle eines grammatischen Elements. Diese Definition ist heute nicht nur immer noch gern gebraucht, sondern sie bildet immer noch die Grundlage eines der wesentlichsten Aspekte von Grammatikalisierung. Was aber beinhaltet sie genau? Gemeint ist, dass ehemals lexikalische sprachliche Einheiten ihren semantischen Gehalt verlieren und statt dessen zu einem Teil des grammatischen Regelwerks werden. Den Verlust an semantischem Gehalt bezeichnet man auch als Desemantisierung.

[...]


[1] Vgl. hierzu auch: Gabriele Diewald, Grammatikalisierung – Eine Einführung in Sein und Werden grammatischer Formen, Tübingen 1997. (Im Weiteren: Diewald, Grammatikalisierung).

[2] Besonders die Arbeiten von Christian Lehmann haben hier Pionierarbeit geleistet. Vgl. z.B.: Christian Lehmann, Thoughts on grammaticalization, München Newcastle, 1995. (Im Weiteren: Lehmann, Grammaticalization). Auch: Christian Lehmann, Grammatikalisierung und Lexikalisierung, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung (42) 1989, 11-19. (Im Weiteren: Lehmann, Grammatikalisierung).

[3] Vgl. insbesondere Kap. 4 dieser Arbeit.

[4] Der Begriff stammt von Lehmann und meint den Verlust von semantischem Gehalt eines Zeichens im Zuge der Grammatikalisierung (Vgl. Kap. 2).

[5] Vgl. u.a.: Sibylle Kriegel, Grammaticalisation et créoles: un élargissement du concept?, in: Christian Touratier, La grammaticalisation – la terminologie, Aix-en-Provence 2003, 35-39. Hier: 36. (Im Weiteren: Kriegel, Grammaticalisation).

[6] Wilhelm von Humboldt,Über das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung, in: Ders.; Werke in fünf Bänden, Bd. III, Schriften zur Sprachphilosophie 6, 31-63.

[7] „Agglutination“ bedeutet die Verschmelzung einzelner Wörter oder Wortteile zu einem Morphemkomlex. Vgl. hierzu auch: Kriegel, Grammaticalisation, 36.

[8] So Georg von der Gabelentz in seiner „Sprachwissenschaft“ von 1891. Zitiert aus: Lehmann, Grammaticalization, 3.

[9] Vgl. ebda; auch Kapitel 5.2 dieser Arbeit.

[10] Vgl. Kap. 5.

[11] Antoine Meillet, L évolution des formes grammaticales, in : Linguistique historique et linguistique générale, Paris, 130-148. (Im Weiteren : Meillet, Evolution).

[12] Zitiert nach: Ebda, 140.

[13] Vgl.: Kriegel, Grammaticalisation, S. 37.

[14] Die synchrone Bedeutung der Grammatikalisierung wurde erst in jüngerer Zeit von der Forschung erkannt, als man die Untersuchung verschiedener Grammatikalisierungsgrade bestimmter Elemente eines Sprachbestandes in den Mittelpunkt der Untersuchungen stellte. Hierfür zeichnet v.a. Christian Lehmann verantwortlich, vgl. Kap.4.

[15] Talmy Givón, Historical.syntax and synchronic morphology – an archeologist’s field trip, in: Chicago linguistic society (7) 1971, 394-415.

[16] Vgl. Anm.2. Diese Arbeit war zunächst nur eine interne Studie, die erst 1995 neu aufgelegt wurde.

[17] Vgl. Kriegel, Grammaticalisation, 38.

[18] Ohne alle Arbeiten aufzählen zu können, möchte ich hier stellvertretend zwei Arbeiten nennen: Joan l. Bybee, William Pagliuca, Revere D. Perkins, The evolution of grammar: tense, aspect and modality in the languages of the world, Chicago 1994 ; Paul J. Hopper, Elizabeth Closs Traugott, Grammaticalization, Cambridge 1993. Für die Grammatikalisierung im Deutschen muss besonders die Arbeit von Gabriele Diewald (Vgl: Anm. 1) genannt werden, der auch die vorliegende Arbeit viele Anregungen verdankt.

[19] Vgl. hierzu v.a.: Ulrike Claudi, Bernd Heine, Friederike Hünnemeyer, Grammaticalization: A conceptual framework, Chicago 1991. (Im weiteren: Claudi u.a., Grammaticalization).

[20] Zitiert aus: Meillet,.Evolution, 133.

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Details

Titel
Grammatikalisierung im Französichen - Ein Überblick
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Romanisches Seminar)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
21
Katalognummer
V68749
ISBN (eBook)
9783638600552
Dateigröße
463 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit untersucht die Frage, wie und warum grammatikalische Elemente in der Sprache entstehen. Der Fokus liegt auf dem Französischen, andere Sprachen werden auch hinzugezogen.
Schlagworte
Grammatikalisierung, Französichen, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Anja Mallmann (Autor:in), 2006, Grammatikalisierung im Französichen - Ein Überblick, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68749

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