Die Jugendbewegung 'Wandervogel' als Teil der sozialen Bewegungen im Kaiserreich 1871 - 1918


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

19 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

0. Einleitung

1. Vorbetrachtungen
1. 1. Agrarreformen
1. 2. Industrialisierung
1. 3. Veränderungen der Gesellschaftsstruktur

2. Der Wandervogel – eine Jugendbewegung
2. 1. Entstehung und Geschichte des Wandervogels
2. 2. Organisation und Ziele der Bewegung
2. 3. Stellung im System der Jugendbewegungen und –organisationen

3. Schlussbetrachtungen

4. Quellenverzeichnis

0. Einleitung

Die Zeit des Kaiserreichs (1871 – 1918) ist durch gravierende Veränderungen in der deutschen Gesellschaft gekennzeichnet. Es transformieren sich nahezu alle Bereiche des wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen Lebens.

Ziel der vorliegenden Arbeit soll es sein, am Beispiel der Wandervogelbewegung, die Veränderungen im Bereich des Alltagslebens der Jugend zu beleuchten, um diese anschließend im System der gesamten Gesellschaft des betrachteten Zeitraums zu lokalisieren. Hiezu sollen im ersten Teil die ausschlaggebenden Veränderungsprozesse (Industrialisierung, Bevölkerung, Sektoren der Arbeit) beleuchtet werden, um einen Überblick über den Zustand der Gesellschaft im Kaiserreich zu bekommen. Anschließend soll der Blick auf die sozialen Bewegungen gelenkt werden, angefangen bei den kleinsten sozialen Einheiten (Familie, Gemeinde, Schule) und endend mit den organisierten Jugendbewegungen.

Der Hauptteil der Analyse fällt der ausführlichen Untersuchung des „Wandervogels“ zu, wobei die ausschlaggebenden Fragewörter WER, WAS, WO, WARUM und WIE sein werden. Hier sollen auch die anderen Jugendorganisationen der betrachteten Zeitperiode in die Analyse miteinbezogen werden.

Letztendlich soll auf die Bedeutung und die Auswirkungen des „Wandervogels“ eingegangen werden, wobei die Begriffe „Jugend“, „Organisation“ und „Politik“ eine Rolle spielen werden.

1. Vorbetrachtungen

Die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs erfährt im Zeitraum zwischen der Mitte des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts einige gravierende Veränderungen. Um diese zu verstehen, muss man mit den bedeutendsten anfangen – der Agrarrevolution und der Industrialisierung.

1. 1. Agrarreformen

Die Agrarevolution setzt am Ende des 18. Jahrhunderts ein und wird auch als „Bauernbefreiung“ bezeichnet. Sie ist gekennzeichnet durch einen strukturellen Umbau der gesamten Agrarwirtschaft: die Bauern werden von an den Landherren gebundenen „Fronarbeitern“ zu freien Bauern, die für Belohnung arbeiten und Land besitzen dürfen; die Bodenbearbeitung wird durch effizientere Kultivierungsmethoden modernisiert; zum Zwecke der Profitmaximierung wird die Landwirtschaft in eine Konkurrenzwirtschaft umorganisiert. Zusammenfassend kann man folgendermaßen die wichtigsten Punkte der Agrarevolution aufzählen:

1. Rechtsreformen: Bodenrechte (Besitz für alle möglich), Personenrechte (Abschaffung der Leibeigenschaft), Gerichtsbarkeit;
2. Konkurrenzwirtschaft und Gewinnmaximierung im landwirtschaftlichen Sektor mittels Lohnarbeit;
3. Modernisierung der Bodenkultivierung;
4. Expansion der Landwirtschaft (der Anteil des Ackerlandes am Gesamtgebiet stieg von 26,5 % 1816 auf 51,4 % 1866 !);
5. Gewinne aus Exporten (durch Aufhebung der Kornzölle 1846).

Auf weitere Einzelheiten soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, es soll nur so viel gesagt werden: Die Agrarrevolution führt zu einem Konjunkturanstieg, welcher wiederum zur Grundlage für die einsetzende Industrialisierung wird[1].

1. 2. Industrialisierung

Selbstverständlich setzt der Prozess der industriellen Expansion schon früher ein, denn die produktionsfördernden Verfahren und Methoden, die Transportwege und die Verarbeitungsverfahren werden schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts eingesetzt, jedoch wird der Beginn der sprunghaft beschleunigten Industrialisierung in der geschichtlichen Fachliteratur auf 1871, das Gründungsjahr des Deutschen Reichs, datiert[2].

Die beschleunigte Entwicklung des industriellen Sektors erfasst vor allem die Schwerindustrie und den Bergbau, jedoch der gesamte industrielle Sektor wird „mitgezogen“. Zwischen 1870 und 1874 werden allein in Preußen 857 selbständige Gesellschaften gegründet (in den 80 Jahren zuvor waren es gerade mal 300)[3]. Es entwickeln sich vor allem folgende strategischen Industriezweige weiter:

1. Roheisenabbau, -produktion und –verarbeitung;
2. Erz- und Kohlebergbau;
3. Maschinenbau;
4. Eisenbahnbau und Transportwesen[4].

Natürlich ist hier unter dem Begriff der industriellen Revolution keine langanhaltende Entwicklung im Deutschen Reich gemeint, sondern eine kurze, beschleunigte, galoppierende, ruckartige Gesellschaftsentwicklung, welche nicht ohne Unterbrechungen vonstatten geht (Konjunkturkrise 1857, Rezession 1866 und Weltwirtschaftskrise 18739). Diese vollzieht sich vor allem zwischen 1850 und 1870. Während dieser Zeit setzt sich der Industrialisierungsprozess über die „naturwüchsige“[5] Wachstumsgeschwindigkeit der Wirtschaft hinweg und macht einen gewaltigen Sprung nach vorn. Steigerungen der Produktion, der Fördermenge und der Arbeitsleistung (und der Preise) um 100 - 150 % bilden während dieses Konjunkturaufschwungs keine Ausnahme.[6]

Die Gründe, Bedingungen und Ursachen für die schnelle industrielle Entwicklung sind einerseits spontaner Natur (Erfindungen, Gelegenheiten, unvorhersehbare Folgeentwicklungen), andererseits werden sie bewusst geschaffen (Reparationszahlungen werden in die Industrie umgeleitet, Mammutfirmen werden von staatlicher Stelle gefördert)[7].

Parallel zur rasanten Entwicklung der Industrie entwickelt sich der Finanzsektor, die großen deutschen Banken entstehen: Deutsche Bank, Dresdner Bank, Darmstädter Bank und die Discont-Gesellschaft. Diese stellen das Finanzierungskapital für viele der neugegründeten Firmen, genauso wie sie den Aktienhandel für diese übernehmen.

Obwohl die Grundlagen des Bildungssystems im Kaiserreich schon vor der industriellen Revolution existierten, entstehen zwischen 1820 und 1870 im Bildungswesen neue Tendenzen. Auf Naturwissenschaften wird, gefördert durch die Industrie, immer mehr Wert gelegt. Die Industrie ist es auch, welche die ersten wissenschaftlichen Beraterposten schafft, was wiederum als Folge hat, dass dafür Nachwuchs rekrutiert und herangezogen wird. Es entstehen die ersten technisch-wissenschaftlichen Lehranstalten, polytechnische Schulen und Gewerbeschulen[8].

1. 3. Veränderungen der Gesellschaftsstruktur

Mit der Veränderung der unterschiedlichen Sektoren der Arbeit verändert sich die gesamte Gesellschaft des Kaiserreichs. Infolge der, durch die sich steigernde Konjunktur, begünstigten Umstände wächst die Bevölkerung des Kaiserreichs von 39,8 Millionen um 1866 auf 67,8 Millionen um 1914. Während die Bevölkerungsdichte um 1871/72 bei 76 Einwohner pro Quadratkilometer liegt, ist diese um 1910/14 bei 120! Die hinzugekommene Bevölkerung verteilt sich jedoch nicht gleichmäßig auf das gesamte Land, sondern besiedelt hauptsächlich die entstehenden Großstädte. Während vor 1871 noch zwei Drittel aller Deutschen auf dem Land lebten, sind es um 1910 nur noch zwei Fünftel, in diesem Zeitabschnitt wächst die Landbevölkerung um nur 28 %, während die Stadtbevölkerung um 137 % wächst[9].

Mit Bevölkerungswachstum, Verstädterung, Landflucht und Industrialisierung beginnt ein umfassender Veränderungsprozess, der schnell die gesamte Gesellschaft des Kaiserreichs erfasst. Aus der deutschen Gemeinschaft wird die deutsche Gesellschaft, aus der Werkzeugkultur wird die vollendete Technokratie, in der Technik und Arbeit den Alltag des Menschen dominieren[10]. Dieser Prozess beginnt in den Städten, und zwar vornehmlich in den Großstädten und den mittelgroßen Städten, da hier die Bevölkerung insgesamt am jüngsten ist und daher offener für Innovationen[11]. Seine Bandbreite ist enorm, jedoch die Hauptpunkte sind überschaubar:

- Aufbrechen von Traditionen (Einbindung der einzelnen Menschen in Familie und Gemeinde lockert sich bis zur Auflösung dieser Instanzen);
- Aufbruch der Frauen in die Berufswelt und in die finanzielle Unabhängigkeit[12] ;
- Entstehung der Schicht der Arbeiter und Angestellten mit deren späterer Organisierung;
- Schulbildung wird zur Erziehung zum „Staatsbürger“;
- Entstehung des Phänomens „Freizeit“ in der Schicht der Arbeiter und Angestellten;
- Entstehung der modernen Marktwirtschaft mit ihren Gesetzmäßigkeiten (Kapitalbegriff, Arbeitgeber und –nehmer, internationaler Markt (Börse), Produzenten-Konsumenten-Verhältnisse, Angebot-Nachfrage-Gesetzmäßigkeiten);
- Entstehung von ersten organisierten oppositionellen Interessengruppen und Parteien[13] ;
- Entstehung des Phänomens „Jugend“ als Zwischenphase zwischen Kindsein und Erwachsenensein[14].

Von allen diesen sozialen „Ereignissen“, welche hier nur aufgezählt sein sollen, soll das letzte der Ausgangspunkt der folgenden Betrachtung sein. Denn das Phänomen „Jugend“ mit all` seinen Auswirkungen beginnt gerade in der Zeit des Kaiserreichs eine Rolle im Gesamtsystem der deutschen Gesellschaft zu spielen. In der Zeit zuvor kann fast überhaupt nicht von „Jugend“ die Rede sein, denn die traditionellen Gesellschaftsmechanismen führten Kinder direkt ins Erwachsensein.

[...]


[1] Leuschner, J. (Hrsg.), Deutsche Geschichte: Band 9: Wehler, H. – U., Das Deutsche Kaiserreich

1871 – 1918, 6. bibliographisch erneuerte Auflage, Göttingen 1988, S. 20 ff

[2] Wurm, F. F., Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland 1848 – 1948, Opladen 1969, S. 85

[3] Wurm, F. F., Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland 1848 – 1948, Opladen 1969, S. 102

[4] Leuschner, J. (Hrsg.), Deutsche Geschichte: Band 9: Wehler, H. – U., Das Deutsche Kaiserreich

1871 – 1918, 6. bibliographisch erneuerte Auflage, Göttingen 1988, S. 26

[5] Ebenda

[6] Ebenda, S. 26 f

[7] Ebenda, S. 24

[8] Leuschner, J. (Hrsg.), Deutsche Geschichte: Band 9: Wehler, H. – U., Das Deutsche Kaiserreich

1871 – 1918, 6. bibliographisch erneuerte Auflage, Göttingen 1988, S. 28

[9] Nipperdey, T., Deutsche Geschichte 1866 – 1918: Erster Band – Arbeitswelt und Bürgergeist, 2.

Auflage, München 1990, S. 9 u. 34 f

[10] Postman, N., Das Technopol: Die Macht der Technologien und die Entmündigung der

Gesellschaft, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1992, S. 52 ff

[11] Nipperdey, T., Deutsche Geschichte 1866 – 1918: Erster Band – Arbeitswelt und Bürgergeist,

2. Auflage, München 1990, S. 30

[12] Nipperdey, T., Deutsche Geschichte 1866 – 1918: Erster Band – Arbeitswelt und Bürgergeist,

2. Auflage, München 1990, S. 50 f

[13] Born, K. E., Der soziale und wirtschaftliche Strukturwandel Deutschlands, In: Wehler, H.-U.

(Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Berlin/Köln 1968, S. 273 ff

[14] Nipperdey, T., Deutsche Geschichte 1866 – 1918: Erster Band – Arbeitswelt und Bürgergeist,

2. Auflage, München 1990, S. 58 f

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Jugendbewegung 'Wandervogel' als Teil der sozialen Bewegungen im Kaiserreich 1871 - 1918
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
19
Katalognummer
V68883
ISBN (eBook)
9783638611886
ISBN (Buch)
9783638776950
Dateigröße
452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jugendbewegung, Wandervogel, Teil, Bewegungen, Kaiserreich
Arbeit zitieren
Anton Reumann (Autor:in), 2005, Die Jugendbewegung 'Wandervogel' als Teil der sozialen Bewegungen im Kaiserreich 1871 - 1918, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68883

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