Konsequentialistische Ethik als Makroethik


Magisterarbeit, 2004

102 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Der Konsequentialismus
2.1 Die Struktur des Konsequentialismus
2.1.1 Handlungsalternativen
2.1.2 Handlungsumstände und ihre Wahrscheinlichkeit
2.1.3 Handlungsfolgen und ihre Bewertung
2.1.4 Probleme des Konsequentialismus in der Anwendung
2.1.5 Klugheitsdilemmata
2.2 Deontologismus und Regelkonsequentialismus
2.2.1 Der Deontologismus
2.2.2 Der Regelkonsequentialismus
2.2.3 Der Konsequentialismus und die Individualrechte
2.3 Fazit

3 Der Utilitarismus
3.1 Das individuelle summum bonum
3.1.1 Das Glück
3.1.2 Effektiv- und Eigeninteressen
3.1.3 Zentrale oder dezentrale Bewertung
3.2 Das soziale summum bonum
3.2.1 Der interpersonale Nutzenvergleich
3.2.2 Das universalistische Prinzip
3.2.3 Das Glückskalkül
3.3 Der Utilitarismus in der Praxis

4 Der Gerechtigkeitsutilitarismus
4.1 Der Nutzen im Gerechtigkeitsutilitarismus
4.1.1 Die Bestimmung der reinen Nutzenwerte
4.1.2 Die Berücksichtigungswürdigkeit
4.2 Die Aggregationsfunktion des Gerechtigkeitsutilitarismus
4.2.1 Die mathematischen Eigenschaften der Funktion
4.2.2 Die ethischen Eigenschaften des Kalküls
4.3 Zusammenfassung

5 Der Gerechtigkeitsutilitarismus als Makroethik
5.1 Die Nutzenwerte
5.2 Die Berücksichtigungswürdigkeit
5.3 Anwendung des Gerechtigkeitsutilitarismus in der Politik
5.4 Ein gerechtigkeitsutilitaristisches Staatsmodell

6 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Im Rahmen dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass konsequentialistische Ethiken, wie der Gerechtigkeitsutilitarismus, prinzipiell als Makroethik einsetzbar sind.

Der Gerechtigkeitsutilitarismus bietet sich, wie zu zeigen sein wird, hierfür in besondere Weise an, da er in der Lage ist, die Wertvorstellungen der betroffenen Menschen bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Dadurch kann er sowohl zur Entscheidungsfindung eingesetzt werden, als auch zur Analyse und Rekonstruktion unseres Entscheidungsverhaltens in vergangenen Situation. Dabei bedingt er durch die Bewusstmachung von Entscheidungs­prozessen eine Offenlegung der mit ihnen verbundenen Wertvorstellungen. Dies kann helfen Entscheidungen, die sonst aus dem Bauch heraus getroffen werden, auf eine rationale Basis zu stellen.

Um ein Verständnis des Gerechtigkeitsutilitarismus zu ermöglichen, soll zunächst der Konsequentialismus, zu dessen Varianten der Gerechtigkeits­utilitarismus gehört, vorgestellt und vom Deontologismus abgegrenzt werden. Anschließend soll auf eine andere Variante des Konsequentialismus, den Utilitarismus, eingegangen werden, um die Vorzüge des Gerechtigkeits­utilitarismus durch den Vergleich mit dem Utilitarismus besser herausarbeiten zu können. Dazu wird auch der Gerechtigkeitsutilitarismus in aller Ausführ­lichkeit vorzustellen sein, um dann abschließend dessen Eignung als Makro­ethik eingehend zu untersuchen und zu bewerten.

2 Der Konsequentialismus

Sowohl der klassische Utilitarismus, welcher im folgenden Kapitel vorgestellt und analysiert werden soll, als auch der Gerechtigkeitsutilitarismus, welcher danach erörtert werden soll, sind konsequentialistische Ethikkonzeptionen. Daher ist es sinnvoll den Konsequentialismus zunächst vorzustellen. Dabei soll als erstes seine Struktur, unter Verwendung des Savage Modells für Entscheidungen unter Risiko, erläutert werden, um ihn dann von den deontologischen Ethikkonzepten abzugrenzen und seine Vor- und Nachteile gegenüber diesen herauszuarbeiten.

2.1 Die Struktur des Konsequentialismus

Der Konsequentialismus bewertet Handlungen an Hand ihrer Folgen. Dabei sind als Randbedingungen Handlungsalternativen und Handlungsumstände zu betrachten, aus welchen sich die Handlungsfolgen ergeben, zu welchen darüber hinaus noch die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens bestimmt werden müssen.[1] Die moderne Entscheidungstheorie stellt hierfür die notwendigen formalen Mittel in Form des Savage Modells bereit. Auf diese Weise lassen sich die dem Konsequentialismus zu Grunde liegenden Strukturen präzise bestimmen und analysieren.

Die Entscheidungstheorie unterscheidet Entscheidungen unter Risiko, Sicherheit und Unsicherheit.[2] Allerdings lassen sich die letzten beiden unter bestimmten Umständen, die später erläutert werden, als Sonderformen des Entscheidens unter Risiko auffassen. Deshalb soll hier das Entscheiden unter Risiko als Basis für das konsequentialistische Entscheiden dienen.

2.1.1 Handlungsalternativen

Die Analyse einer Entscheidungssituation beginnt mit der Betrachtung der zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen.[3] Damit überhaupt eine Entscheidungs­situation vorliegt, muss es mindestens zwei Handlungs­alternativen geben. Im einfachsten Fall hat man die Wahl, eine Handlung zu tätigen oder sie zu unterlassen. Zum Beispiel, wenn man mit dem Auto unterwegs ist und am Straßenrand einen Unfall sieht, kann man entweder anhalten oder weiterfahren. An diesem einfachen Beispiel wird bereits deutlich, dass die Menge der Handlungsalternativen in der Regel natürlich mehr als zwei Handlungen umfasst. So könnte zusätzlich die Handlungsalternative, ›langsamer werden und schauen, ob Hilfe gebraucht wird‹ der Handlungs­alternativenmenge des Beispiels hinzugefügt werden. Dies zeigt, dass zu einer umfassenden Analyse eines Problems, alle möglichen Handlungsalternativen in Betracht gezogen werden sollten. Möglich sind für den Entscheider aber nur solche Handlungen, die ihm auch zur Verfügung stehen. Das heißt dass ihm die Handlungsalternative sowohl bewusst sein muss, als auch, dass er fähig sein muss die Handlung auszuführen. So kann einem Diabetiker, welcher wegen Unterzuckerung ohnmächtig geworden ist, leicht mit einem Stück Zucker geholfen werden, wenn man weiß, dass er eine Unterzuckerung hat und natürlich auch nur dann, wenn Zucker zur Verfügung steht.

Die Handlungsalternativen müssen sich darüber hinaus ausschließen, da sie sonst keine echten Alternativen sind. So wäre in unserem Beispiel von oben die Handlungsalternativenmenge H {anhalten; weiterfahren; weiterfahren und telefonisch Hilfe verständigen} nicht zulässig, da sich die Alternativen ›weiterfahren‹ und ›weiterfahren und telefonisch Hilfe verständigen‹ nicht gegenseitig ausschließen. Zulässig wäre die Menge der Handlungsalternativen, würde man die Handlung ›weiterfahren‹ durch die Handlung ›weiterfahren und keine Hilfe verständigen‹ ersetzen.

2.1.2 Handlungsumstände und ihre Wahrscheinlichkeit

Handlungsumstände können als Beschreibungen unterschiedlicher Welten aufgefasst werden, in denen die Handlungsalternativen eingebettet sind.[4] Diese Welten müssen sich in mindestens einem Punkt, welcher in Bezug auf die Handlungsalternativen relevant ist, unterscheiden. Nehmen wir das Beispiel mit dem Unfall, so wäre ein möglicher Handlungsumstand eine Weltbeschreibung, in der dort jemand Hilfe benötigt, während eine andere relevante Weltbe­schreib­ung die wäre, in der dort niemand Hilfe benötigt. Vollständig irrelevant wäre in diesem Zusammenhang zum Beispiel, ob in China gerade ein Sack Reis umfällt oder nicht. Die einzelnen Handlungsumstände r1,…, rm bilden zusammen den Gesamtumstandsraum R.

Handlungsumstände zeichnen sich dadurch aus, dass man in der Regel nicht weiß, welcher in der jeweiligen Situation tatsächlich gegeben ist. Deshalb ordnet man den Handlungsumständen Wahrscheinlichkeiten zu, welche stochastisch unabhängig von den Handlungen an sich sind. Man könnte die Wahr­scheinlichkeiten auch direkt den Folgen zuordnen, dies führt aber zu den selben Ergebnissen und ist formal komplizierter.[5] Der Vorteil der situations­bezogenen Wahrscheinlichkeiten zeigt sich darin, dass den Handlungs­umständen r1,…, rm so ein Wahrscheinlichkeits­vektor p = (p(r1);…; p(rm)) zugeordnet werden kann. Dieser ist dann identisch für alle Handlungs­alternativen.

Für p müssen zwei Dinge gelten, erstens muss jedes Element und damit jeder Handlungsumstand eine Wahrscheinlichkeit zwischen 0 und 1 haben, also 0 ≤ p(rx) ≤ 1 (wobei sich die Bedingung p(rx) ≤ 1 auch aus der nun folgenden zweiten Bedingung ableiten lässt) und zweitens muss das Skalarprodukt von p mit dem Vektor 1 = (1;…; 1;…; 1), also p · 1 = 1 ergeben, das heißt die Summe der Elemente des Vektors muss 1 sein, da sonst anscheinend ein relevanter Handlungs­umstand im Gesamtumstandsraum fehlt.

Sind diese beiden Bedingungen erfüllt, so handelt es sich um eine Situation des Entscheidens unter Risiko. Liegt eine Entscheidungssituation vor, bei der einem p(rx) der Wert 1 zugeordnet werden kann, so handelt es sich um den Fall des Entscheidens unter Sicherheit, bei dem ein Handlungsumstand die Wahr­scheinlichkeit p = 1 hat und alle anderen die Wahrscheinlichkeit p = 0 haben.

Eine dritte Variante ist das Entscheiden unter Unsicherheit. Hierbei liegen dem Entscheider keine Informationen über die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Handlungsumstände vor. Eine Subvariante ist die, in der dem Entscheider Wahrscheinlichkeitsspannen vorliegen, zum Beispiel, dass ein bestimmter Handlungsumstand mit einer Wahrscheinlichkeit von p = 0.1 – 0.2 eintreten wird. Das Entscheiden unter Unsicherheit ist sicherlich die am häufigsten anzutreffende Entscheidungsvariante bei Entscheidungen in realen Situation, da bei solchen die Handlungsumstände zumindest partiell auch zukünftige Weltverläufe mit einschließen und Aussagen über die Zukunft mit einer prinzipiellen Unsicherheit behaftet sind. Es gibt verschiedene Ansätze, um dieser Unsicherheit zu begegnen. Einer der bekanntesten ist sicherlich das Maximinkriterium.[6] Bei diesem erhält für jede Handlungsalternative der Handlungsumstand die Wahrscheinlichkeit p = 1, welcher die negativsten Folgen bewirkt. Nehmen wir als Beispiel an, dass wir Geld über einen gewissen Zeitraum anlegen wollen. Dabei haben wir zwei Alternativen, entweder das Geld in einem Sparbrief mit fester Verzinsung oder in einen Aktienfond zu investieren. Dazu denken wir uns zwei mögliche Weltverläufe: Erstens der Aktienmarkt durchläuft eine positive Entwicklung oder zweitens der Aktienmarkt durchläuft eine negative Entwicklung. Die Folge wäre, dass der Aktienfond entweder mehr Rendite erzielt als der Sparbrief oder weniger. Auf den Sparbrief selber haben die verschiedenen Weltverläufe keine Auswirkung. Da wir aber gemäß dem Maximinkriterium davon ausgehen müssen, das der Aktienmarkt eine negative Entwicklung durchläuft, wäre es besser das Geld in den Sparbrief zu investieren, da wir in diesem Fall dadurch einen höhere Rendite erzielten.

Man sieht, dass das Maximinkriterium bei der Beurteilung der Handlungsumstände sehr pessimistisch ist. Dies zeigt sich besonders gut in Fällen, in denen wir wissen, dass das Eintreten gewisser Handlungsumstände sehr wahrscheinlich, beziehungsweise unwahrscheinlich ist. Nehmen wir zum Beispiel das Überqueren einer Straße, im schlimmsten Fall könnten wir dabei überfahren werden, was sicherlich wesentlich schlechter ist, als das was uns erwartet, wenn wir die Straße nicht überqueren. Deshalb würde das Maximinkriterium uns raten die Straßenseite nicht zu wechseln.[7] Hier offenbart sich das Problem dieses Kriteriums, es nutzt nämlich nicht alle vorhandenen Informationen, in diesem Fall die Information, dass es sehr unwahrscheinlich ist beim Überqueren der Straße überfahren zu werden, wenn man hinreichend vorsichtig dabei vorgeht.

Eine andere Vorgehensweise schlägt das Laplace-Kriterium vor.[8] Dieses hat den Vorteil das Entscheiden unter Unsicherheit auf das Entscheiden unter Risiko zurück zu führen, indem es annimmt, dass alle Handlungsumstände gleich wahrscheinlich sind. Damit kann auf die Entscheidungssituation das Instrumentarium, welches wir für das Entscheiden unter Risiko haben angewandt werden. Gibt es also fünf verschiedene Handlungsumstände, so schreibt das Laplace-Kriterium jedem die Wahrscheinlichkeit p = 0.2 zu. Aber auch bei dem Laplace-Kriterium findet ebenso wie beim Maximinkriterium keine optimale Verwertung sämtlicher vorhandener Informationen statt, denn auch hier geht das Wissen darum, ob etwa ein Umstand wahrscheinlicher ist als die anderen verloren. Zum Beispiel wäre es ebenso unrealistisch anzunehmen, die Wahrscheinlichkeit beim Überqueren einer Straße überfahren zu werden sei gleich der Wahrscheinlichkeit heil die andere Straßenseite zu erreichen, wie anzunehmen man würde auf alle Fälle überfahren, wie dies beim Maximin­kriterium der Fall ist.

Eine bessere dritte Möglichkeit ist daher von subjektiven Wahr­scheinlich­keiten auszugehen. Dabei muss der Entscheider auf der Basis seines Wissens die Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Handlungsumstände subjektiv festlegen und kann dann wiederum auf die Mechanismen des Entscheidens unter Risiko zurückgreifen. Nehmen wir nochmal das Beispiel der Straßenüber­querung, gegenüber den beiden vorangegangenen Beispielen könnte ein Entscheider der auf der Basis seines Wissens subjektive Wahrscheinlichkeiten festlegt, bestimmen, dass die Wahrscheinlichkeit beim Überqueren einer Straße zu Schaden zu kommen lediglich bei p = 0.001 also einem Promille liegt und damit sehr unwahrscheinlich ist, während man mit hoher Wahrscheinlichkeit von p = 0.999 sicher auf die andere Straßenseite gelangt.

2.1.3 Handlungsfolgen und ihre Bewertung

Aus der Menge der Handlungsalternativen H und dem Gesamtumstandsraum R lässt sich die Menge der Handlungsfolgen C herleiten. Dies geschieht äquivalent zu der Bildung des Cartesischen Produktes, H×R→C.[9] Bei n Handlungs­alternativen und m Handlungsumständen, ergibt sich so eine n×m Folgen­matrix. Zur Verdeutlichung ein Beispiel:

Nehmen wir an, wir wollen einen Spaziergang machen und stehen dabei vor der Wahl einen Schirm mitzunehmen oder nicht. Des Weiteren unterscheiden wir die beiden Handlungsumstände, ›es wird regnen‹ und ›es wird nicht regnen‹. Diese Entscheidungssituation lässt sich nun übersichtlich in einer Matrix darstellen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1

In diesem Beispiel haben wir zwei Handlungsalternativen und zwei Handlungs­umstände, woraus sich eine 2×2 Folgenmatrix ergibt.

Die Handlungsfolgen lassen sich weiter differenzieren.[10] So unterscheidet man zwischen kausal-empirischen Folgen und nicht kausal-empirischen Folgen. Bei den letzteren sind vor allem die institutionell-analytischen Folgen zu nennen, welche relativ zu Konventionen, wie zum Beispiel Spiel- oder Rechtsregeln zustande kommen. So kann ein bestimmter Schachzug relativ zu den Regeln des Spiels zur Folge haben, dass man da Spiel gewinnt oder verliert. Allerdings erfolgt die Bewertung meist auf der Basis der mit hervorgerufenen empirischen Folgen der Handlung, wie der Befriedigung, welche man durch das Gewinnen eines Spiels erfährt und nicht allein auf der Basis der rein analytischen Folgen.[11] Deshalb sind letztere bei der Betrachtung der Folgen meistens vernachlässigbar, weshalb an dieser Stelle das Augenmerk auf den kausal-empirischen Folgen liegen soll.

Bei diesen sind die in der Entscheidungssituation vom Entscheider ab­gesehenen von den nicht abgesehenen Folgen zu unterscheiden. Bei letzteren ist zu beachten, ob sie absehbar waren oder nicht. Die abgesehenen Folgen unterteilen sich in die angestrebten Ziele und die nicht angestrebten Neben­folgen. Beide lassen sich noch weiter differenzieren, wie es der unten dargestellte vollständige Folgenbaum zeigt. Dies sei hier aber nur der Vollständigkeit halber erwähnt, da ansonsten nicht auf die auf die weitere Differenzierung der Handlungsfolgen eingegangen werden soll.

Der gesamte Folgenbaum stellt sich wie folgt dar[12]:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wichtig für die Bewertung der Handlungsfolgen ist die Frage, ob die nicht abgesehenen und die nicht angestrebten Handlungsfolgen in die Bewertung mit einbezogen werden sollen. Bei einer vorausschauenden Bewertung von Handlungsfolgen ist es natürlich logisch nicht möglich nicht abgesehene Folgen abzusehen, allerdings sollte man im Sinne einer umfassenden Analyse der Entscheidungssituation versuchen die Zahl der nicht abgesehenen, aber absehbaren Folgen so klein wie möglich zu halten. Das Gleiche gilt bei einer rückblickenden Bewertung, allerdings erhöht sich hier naturgemäß die Zahl der absehbaren Folgen. Ob allerdings die von den Zielen abweichenden Folgen ebenso wie die Ziele zu bewerten sind wird in den verschiedenen Varianten des Konsequentialismus unterschiedlich gehandhabt und wird daher später im Zusammenhang mit den noch vorzustellenden Varianten behandelt.

Weiß man, welche Folgen eine Handlung haben wird, so kann man diese Folgen bewerten. Wie sie allerdings zu bewerten sind, darin unterscheiden sich die verschiedenen Varianten des Konsequentialismus sowohl inhaltlich als auch formal. So sind beim Altruismus die Folgen der Handlung für den Handelnden nicht zu berücksichtigen, während beim entgegengesetzten Fall, dem Egoismus, nur die Folgen für den Handelnden zu berücksichtigen sind. Bei beiden kann man die Folgen sowohl zentral als auch dezentral, also vom Entscheider oder von den Betroffenen selbst, bewerten lassen. Einige Varianten begnügen sich mit einer komparativen Bewertung der Folgen, während andere eine kardinale Bewertung verlangen.[13] Deshalb werden die Bewertungs­funktionen und die mit ihnen verbundenen Vor- und Nachteile im Zusammenhang mit den Varianten des Konsequentialismus, die später vorgestellt werden, behandelt.

Ist man, auf welchem Weg auch immer, zu einer Bewertung der Handlungsfolgen gelangt, so erhält man für jede Handlungsalternative i einen Handlungsfolgenvektor v i = (v(ci,1);…; v(ci,m)) über die Bewertungen v der Handlungsfolgen ci,j.

Verknüpft man den Handlungsfolgenvektor nun mit dem Wahrscheinlich­keits­vektor, indem man das Skalarprodukt p · v bildet, so erhält man die nach den Wahrscheinlichkeiten für die Handlungsumstände gewichtete Summe der Bewertungen für jede Handlungsalternative.

Der Konsequentialismus verlangt dann, die Handlung mit der größten Summe zu wählen, da diese offensichtlich die am besten bewerteten Konsequenzen in Relation zu deren Wahrscheinlichkeiten hat.

Da dies doch etwas abstrakt ist, zur Veranschaulichung ein Beispiel:

Bei einem Würfelspiel mit einem sechsseitigen Würfel haben wir vier Handlungsalternativen:

h1: Wir nehmen nicht an dem Spiel teil.

h2: Wir nehmen an dem Spiel teil, setzen 5 Euro auf die 3 und gewinnen 25 Euro, wenn die richtige Zahl fällt.

h3: Wir nehmen an dem Spiel teil, setzen 5 Euro auf eine gerade Zahl und gewinnen 15 Euro, wenn eine 2, 4 oder 6 fällt.

h4: Wir nehmen an dem Spiel teil, setzen 5 Euro auf die 1 und 5 und gewinnen 20 Euro, wenn eine dieser beiden fällt.

Des weiteren gibt gibt es drei verschiedene Handlungsumstände:

r1: Es fällt eine 1 oder 5.

r2: Es fällt eine 3.

r3: Es fällt eine 2, 4 oder 6.

Die Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Handlungsumstände sind:

p(r1) = 1/6 + 1/6 = 2/6 ≈ 0.33

p(r2) = 1/6 ≈ 0.17

p(r3) = 1/6 + 1/6 + 1/6 = 3/6 = ½ = 0.5

Der Einfachheit halber bewerten wir die Folgen mit ihrem monetären Auszahlungswerten bei dem Spiel.

Daraus ergibt sich folgende Matrix:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2

Aus der Matrix lässt sich der Handlungsfolgenvektor zum Beispiel für die Handlungsalternative h2 ablesen. Dieser lautet v 2 = (-5; 25; -5). Unter Anwendung des Skalarprodukts p · v lässt sich der konsequentialistische Wert der Handlungsalternative feststellen, in diesem Fall:

p · v = -5 ∙ 0.33 + 25 ∙ 0.17 + -5 ∙ 0.5 = 0.1

In der Matrix sind in der letzten Spalte bereits die entsprechenden Werte für die verschiedenen Handlungsalternativen eingetragen. Man sieht, dass h3 mit 5 den höchsten Wert hat und folglich wahrscheinlich die besten Konsequenzen haben wird, weshalb man diese Handlung wählen sollte.

Damit ist die Struktur des Konsequentialismus ausreichend beschrieben, wir wollen nun die mit dem Konsequentialismus verbundenen Probleme kurz zusammenfassen.

2.1.4 Probleme des Konsequentialismus in der Anwendung

Wie im vorangegangenen Kapitel erläutert lautet die Entscheidungsregel des Konsequentialismus:

Es ist die Handlung geboten, deren Folgen die besten Bewertungen gewichtet nach den Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens haben.

Aus dieser Entscheidungsregel ergeben sich drei Probleme. Das erste Problem ergibt sich aus den Schwierigkeiten, die bei der Bewertung der Handlungsfolgen entstehen. Eine bloße Bewertung der Folgen danach, welche von jeweils zweien wir für besser oder schlechten halten, beziehungsweise ob wie zwischen ihnen indifferent sind, ist meist problemlos möglich. Allerdings verlangen manche Varianten des Konsequentialismus, wie zum Beispiel der Utilitarismus und der Gerechtigkeitsutilitarismus, eine Bewertung auf einem höheren Messniveau, damit die individuellen Bewertungen aggregierbar werden. Auf die sich daraus ergebenden Probleme soll im Zusammenhang mit dem Utilitarismus eingegangen werden.

Die anderen beiden Probleme sind eng miteinander verknüpft. Es handelt sich um das Problem der Bestimmung der Handlungsfolgen, sowie, das Problem der Festlegung der Wahrscheinlichkeiten für die Handlungsumstände. Beide Probleme werden bedingt durch fehlende Informationen über die Gegenwart und die Zukunft. Nun könnte man Theorien über das Verhalten komplexer dynamischer Systeme heranziehen, insbesondere den Schmetterlingseffekt, welcher besagt, dass komplexe Systeme so anfällig für Störungen sind, dass zum Beispiel beim Wetter der Schlag eines Schmetterlings darüber entscheiden kann, ob zwei Wochen später irgendwo auf der Erde ein Tornado entsteht.[14] Angewandt auf den Konsequentialismus würde das bedeuten, dass es vollkommen unmöglich wäre die Folgen unserer Handlung auch nur grob abzuschätzen und dies umso mehr je weiter wir uns räumlich und zeitlich von der Handlung entfernen. Daher, meinen einige Kritiker, sollte man den Konsequentialismus am besten gleich aufgeben.[15]

Nun ist es aber keineswegs so, dass der berühmte Schmetterlingseffekt immer eintritt, er ist sogar eher selten, da der Effekt nur bei instabilen Systemen eintritt oder bei Systemen, die sich an der Grenze zur Instabilität befinden und durch die Störung instabil werden. Innerhalb eines stabilen Systems dagegen gibt zwar auch chaotische Effekte, diese beschränken sich allerdings auf einen sehr kleinen Bereich und haben nur dort relevante Folgen, welche sich nicht in weitere Bereiche fortpflanzen.[16] Für den Konsequentialismus bedeutet dies, dass bei vielen tagtäglichen Entscheidungen die relevanten Folgen durchaus absehbar sind, solange sich die Handlungen in einem stabilen Umfeld abspielen.

Man nehme zum Beispiel die Ermordung einer prominenten Person, wie die der schwedischen Außenministerin Anna Lindh. Die Folgen dieser Handlung, allgemeine Bestürzung und eine Diskussion über die Sicherheit von Politikern, waren absehbar. Allerdings erfolgte die Tat auch in einem stabilen Umfeld. Ganz anders dagegen die Ermordung von Franz Ferdinand, im Jahre 1914, welche im Allgemeinen als Auslöser durchaus gravierender Folgen betrachtet wird, ob die Folgen nicht vielleicht auch ohne diese Ermordung so eingetreten wären, sei dahin gestellt. Auf alle Fälle fand diese Tat in einem sehr instabilen Umfeld statt, wodurch es erst ermöglicht wurde, dass sie solch umfangreiche Folgen hatte, welche unmöglich abzusehen waren.

Es ist also zumindest in den meisten Fällen prinzipiell möglich die Folgen einer Handlung und die Wahrscheinlichkeiten der Handlungsumstände zu bestimmen. Das heißt natürlich nicht, dass wir in einer Entscheidungssituation auch tatsächlich über dieses Wissen verfügen. Das kann eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe haben, zum Beispiel kann die nötige Zeit fehlen, um alle Unwägbarkeiten genau zu durchdenken oder die nötigen Informations­quellen sind vielleicht nicht zugänglich. Trotzdem kann man den Konsequentialismus sogar noch in Situationen äußerster Unwissenheit sinnvoll einsetzen. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand findet einen Kasten mit einem Schalter. Er weiß nicht, was passieren wird, wenn er den Schalter betätigt, trotzdem kann er sagen, dass es entweder etwas sein wird, das er positiv bewerten würde oder etwas Negatives oder etwas, dem er indifferent gegenüber stünde. Da er keine Informationen darüber besitzt wie positiv oder negativ die Auswirkungen wären, bewertet er sie der Einfachheit halber mit 1, 0 und -1. Bei den Wahrscheinlichkeiten liegt es daran, welche Risikoeinstellung die Person hat. Ist er risikoneutral, so kann er etwa eine Eintrittswahr­scheinlichkeit von 1/3 für jeden der Fälle annehmen. Damit ergibt sich für die Handlung ›Schalter betätigen‹ ein Wert von 1 ∙ 1/3 + 0 ∙ 1/3 – 1 ∙ 1/3 = 0. Würde er davon ausgehen, dass die Handlung ›Schalter nicht betätigen‹ keinerlei Folgen hätte, wäre er also indifferent zwischen den beiden Handlungen. Wäre er dagegen risikoavers eingestellt, was sich zum Beispiel in einer Wahrscheinlichkeits­verteilung äußern könnte, die mit p = 0.5 annimmt, dass etwas Negatives passiert und die beiden anderen Möglichkeiten mit p = 0.25 belegt, so kämen er zum einem Konsequenzenwert von 0.25 ∙ 1 + 0.25 ∙ 0 + 0.5 ∙ –1 = – 0.25 für die Handlung ›Schalter betätigen‹, womit es besser wäre den Schalter nicht zu betätigen.

Wie man sieht, kann man den Konsequentialismus selbst in Situationen in welchen nur sehr wenige Informationen vorliegen noch sinnvoll einsetzen.

Ein weiteres Problem ist der Zeitaufwand, der benötigt wird, um die entsprechenden Überlegungen durchzuführen. Aber auch dieses Problem ist in der Praxis lösbar, indem man die Überlegungen soweit vereinfacht, dass sie durchführbar werden. Dass damit, wie auch bei Entscheidungen unter großer Unsicherheit, die Wahrscheinlichkeit steigt eine suboptimale Handlung zu vollziehen, muss in Kauf genommen werden. Eine Entscheidungs­hilfe stellt dabei das Wissen um ähnliche Situationen und der optimalen Handlung in jenen dar, das in Faustregeln kondensieren kann, welche uns helfen kurzfristige Entscheidungen zu treffen. Dieses Problem soll später, nachdem der Deontologismus und der Regelkonsequentialismus vorgestellt wurden, noch einmal aufgegriffen werden.

2.1.5 Klugheitsdilemmata

Klugheitsdilemmata und Gefangenendilemmata, welche eine Untergruppe der Klugheitsdilemmata sind, stellen Entscheidungssituationen dar, welche für den Konsequentialismus schwierig zu handhaben sind. Einige Kritiker des Konsequentialismus verlangen sogar auf Grund dieser Probleme das Konzept des Konsequentialismus vollständig aufzugeben. So spricht zum Beispiel Nida‑Rümelin sogar von einer »Selbstaufhebung konsequentialistischer Rationalität«, denn »die generelle Befolgung konsequentialistischer Entscheidungskriterien ist im allgemeinen kollektiv irrational«.[17]

Ein Klugheitsdilemma zeichnet sich dadurch aus, dass alle Entscheider die individuell optimale Handlungsalternative wählen, dies aber Folgen hat, welche gegenüber den Folgen, welche bei kollektiver Realisierung einer anderen Handlungsalternative eingetreten wären, suboptimal sind.

Bei einem Gefangenendilemma kommt hinzu, dass die individuell optimale Handlungsalternative zusätzlich alle anderen Handlungsalternativen stark dominiert.[18]

Dies lässt sich gut an dem klassischen Gefangenendilemma zeigen. Diesem liegt folgende Situation zu Grunde:

Zwei Personen werden, nachdem sie einen bewaffneten Raubüberfall begangen haben, festgenommen und in getrennten Zellen verhört. Wenn beide ihre Tat ableugnen, können sie nicht überführt werden und werden wegen unerlaubten Besitzes und Tragens von Waffen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Wenn beide ihre Tat gestehen, werden sie wegen bewaffneten Raubüberfalls zu je fünf Jahren verurteilt. Wenn jedoch einer der beiden die Tat gesteht und der andere nicht, dann kommt der Geständige als Kronzeuge der Anklage ohne Bestrafung frei, während der Nichtgeständige zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wird.[19]

Nehmen wir an, beide bewerten die möglichen Folgen (rein ordinal) mit 1 für sechs Jahre Gefängnis, 2 für fünf Jahre Gefängnis, 3 für ein Jahr und 4 für gar kein Gefängnis. Dann ließe sich die Entscheidungssituation folgendermaßen formalisieren:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3

Da die Entscheidungssituation symmetrisch ist, gilt die Tabelle für beide.

Wie man leicht zeigen kann, wird die Handlungsalternative ›nicht gestehen‹ von der Handlungsalternative ›gestehen‹ stark dominiert, egal welche Wahrscheinlichkeitsverteilung man annimmt. Denn nehmen wir für den Umstand ›der andere gesteht‹ die Wahrscheinlichkeit p an und folglich für den Handlungsumstand ›der andere gesteht nicht‹ 1 – p, so ergibt sich für die erste Handlungsalternative ein Erwartungswert von p ∙ 2 + (1 – p) ∙ 4 und für die zweite Handlungsalternative p ∙ 1 + (1 – p) ∙ 3.

Die Behauptung der starken Dominanz der ersten Handlungsalternative unabhängig von den Wahrscheinlichkeiten der Handlungsumstände lässt sich wie folgt formalisieren und beweisen:

p ∙ 2 + (1 – p) ∙ 4 > p ∙ 1 + (1 – p) ∙ 3

<=> 2p – 4p + 4 > p – 3p + 3

<=> 4 > 3 qed.

Wie man sieht, ist es für beide, völlig unabhängig von der Wahrscheinlich­keits­verteilung, besser zu gestehen, was aber wiederum bewirkt, dass sich für beide die Folge einstellt, welche sie lediglich mit 2 bewertet hatten, nämlich für fünf Jahre ins Gefängnis zu gehen. Würden sie dagegen die individuell suboptimale Handlung wählen, nämlich nicht zu gestehen, so würde die Folge eintreten, die sie beide mit 3 bewertet hatten, nämlich nur ein Jahr ins Gefängnis zu gehen und welche damit besser ist als die Folge des individuell optimalen Handelns.

Dies ist in der Tat ein schlechtes Ergebnis, allerdings nicht primär für den Konsequentialismus selbst, sondern für die verwendete Bewertungsfunktion. Den von dieser ist es abhängig, ob es zu einem Dilemma kommt oder nicht. Nehmen wir zum Beispiel an, die beiden Entscheider würden nicht nur die Folgen für sich selbst betrachten, sondern die Folgen für den anderen ebenso stark mitberücksichtigen. Dann würde sich folgende Matrize ergeben:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 4

Wie man sieht ist nun die zweite Handlungsalternative ›nicht gestehen‹ stark dominant, da hier diese Alternative unabhängig von der Wahl des anderen immer zum besseren Ergebnis führt, woraus folgt, dass beide nicht gestehen und es daher zu dem gewünschten Ergebnis kommt, dass beide nur für ein Jahr ins Gefängnis müssen. Dieses Ergebnis tritt auch bei anderen Varianten ein, weshalb man zu der These der ›Selbstaufhebung konsequentialistischer Rationalität‹ sagen kann, dass der Konsequentialismus zwar Varianten hat, welche in Klugheitsdilemmata führen können, dieses Problem aber nicht auf alle Varianten zutrifft, sondern nur auf solche mit einer hinreichend egoistischen Bewertungsfunktion,[20] beziehungsweise in ähnlicher Form auf den vollständigen Altruismus.[21] Insbesondere trifft diese These auch nicht auf die beiden hier später vorgestellten Varianten des Konsequentialismus, den Utilitarismus und den Gerechtigkeits­utilitarismus, zu.[22] Die erhobenen Vorwürfe gegen den Konsequentialismus erweisen sich damit als übertrieben und es besteht folglich kein Grund den Konsequentialismus als solchen aufzugeben.

Damit wenden wir uns als nächstes dem Deontologismus und dem Regelkonsequentialismus zu.

2.2 Deontologismus und Regelkonsequentialismus

2.2.1 Der Deontologismus

Anders als der Konsequentialismus haben beim Deontologismus nicht die Folgen einer Handlung, sondern ausschließlich die Handlungstypen einen intrinsischen Wert.[23] Bei dem naiven Deontologismus, der lediglich klassifikatorisch arbeitet, bedeutet dies, dass jeder Handlungstyp entweder gut oder schlecht ist, vorausgesetzt der Regelkatalog umfasst alle Handlungs­typen.[24] Der Vorteil liegt darin, dass der Entscheider nur noch zwei Dinge betrachten muss, zum einen die Handlungsalternativen und zum anderen den Regelkatalog, dem er Folge leisten will. Dann muss er lediglich noch überprüfen, welche der Handlungen geboten sind und eine von diesen auswählen. Alles weitere – und dabei insbesondere die Folgen der Handlung ­– sind für ihn uninteressant.[25]

Dies kann zu dem Problem führen, dass der Entscheider in ein Dilemma gerät, entweder weil alle oder zumindest alle möglichen Handlungen verboten sind oder aber auf eine Handlung mehrere Regeln zutreffen, die sich bezüglich der Klassifizierung der Handlung widersprechen.[26] Nehmen wir an, es gäbe einen Regelkatalog, der vorschreibt, das Leben zu schützen. Nun befindet sich der Entscheider in der misslichen Lage zwischen zwei Handlungsalternativen entscheiden zu müssen, nämlich entweder einen Menschen zu töten und damit die gesamte Menschheit zu retten oder dies nicht zu tun, wodurch es zum Tod aller Menschen käme. In beiden Fällen würde er gegen die Regel, das Leben zu schützen, verstossen, weshalb beide zur Verfügung stehenden Handlungs­alternativen für ihn verboten wären.

In einem zweiten Beispiel enthält der Regelkatalog zusätzlich noch die Vorschrift, ›nicht zu lügen‹. Unser Entscheider steht diesmal vor dem Problem, dass vor seiner Haustür jemand steht, der eine Person töten möchte, welche sich in der Wohnung des Entscheiders versteckt hält. Der Entscheider hat nun die Wahl, zu behaupten, die gesuchte Person sei nicht bei ihm und somit zu lügen oder aber die Wahrheit zu sagen und die Person damit ihrem Mörder ausliefern. Bei beiden Handlungsalternativen kommen beide Regeln zur Anwendung und beide Male kommen sie zu einem sich widersprechenden Ergebnis.

Eine scheinbare Lösung bietet hier ein raffinierter Deontologismus. Bei diesem sind Handlungstypen nicht mehr nur in ›gut‹ und ›schlecht‹ unterteilt, sondern zusätzlich gibt es eine Rangfolge der Regeln.[27] So könnte für den Entscheider in dem Beispiel von oben der Schutz des Lebens einen höheren Rang haben als das Verbot des Lügens, womit das Dilemma aufgehoben wäre. Dies hilft aber nur bei Regelkonflikten und nicht bei einem Problem wie im ersten Beispiel. Zudem stellt sich die Frage, worauf die in diesem Fall benötigten komparativen Wertprädikate beruhen.[28] Diese können willkürliche Setzungen sein, was wenig befriedigend ist oder sie können sich aus Folgen­betrachtungen herleiten, was zu einem Regelkonsequentialismus führt, auf den wir später zu sprechen kommen.

Darüber hinaus gibt es Handlungstypen, die nicht von dem Regelkatalog erfasst werden, da dieser in Anbetracht der theoretisch unendlich vielen möglichen Entscheidungssituationen niemals umfassend sein kann, so dass es stets Fälle gibt, bei denen der Regelkatalog keine Hilfe für den Entscheider darstellt.

Stellt man einen Regelkatalog auf, so gibt es zwei weitere Probleme.

Das eine ist das Problem der Legitimation. Um ein deontologisches Regelwerk zu legitimieren, gibt es drei Standardverfahren. Eine beliebte Methode in der Menschheitsgeschichte ist es sich auf eine übergeordnete Instanz, in der Regel eine Gottheit, zu berufen und zu behaupten, die Regeln stammen von jener Instanz, während man sie selber nur verkünde. Die beiden prominentesten Vertreter für diese Vorgehensweise waren sicherlich Moses und Mohammed. Der Grad der Legitimation ist damit aber eng mit dem Grad des Glaubens an diese Instanz verknüpft, womit diese Form der Begründung, zumindest für Kulturen heterogenen Glaubens, inakzeptabel ist.

Andere unterstellen dem Menschen eine naturgegebene Intuition für richtiges Handeln. Auch dieser Ansatz ist zurück zuweisen, da eine solche Intuition bisher noch nicht nachgewiesen werden konnte. Es erscheint stattdessen angesichts der vielen verschiedenen Auffassungen bezüglichen richtigen Handelns sowohl innerhalb der Kulturen als auch zwischen den Kulturen unwahrscheinlich, dass es eine solche angeborene Intuition überhaupt gibt. Vielmehr scheint das, was uns als solche erscheint, eher ein Konstrukt unserer Erziehung und damit unseres kulturellen Umfeldes zu sein.

Bei der dritten Variante beruft man sich zur Legitimation auf die positiven Folgen einer solchen Handlung für die Menschen im Allgemeinen. Häufig spricht man in solchen Fällen von Entscheidungen ›zum Wohle des Volkes‹ oder ›im Interesse der Allgemeinheit‹. Hierbei handelt es sich allerdings eindeutig nicht mehr um einen reinen Deontologismus, sondern um einen Regelkonsequentialismus. Dieser soll weiter unten erläutert werden.

Das andere Problem beim Erstellen eines Regelwerkes liegt darin, dass man es sehr sorgfältig formulieren muss, damit es eindeutig ist. Ein prominentes Beispiel hierfür ist das Tötungsverbot in der Bibel. In Exodus 20, 13 steht: »Du sollst nicht morden.« Ganz abgesehen von den darin enthaltenen Implikationen bezüglich der Personengruppe, für die das Gebot gilt etc., ist es in dieser Formulierung nicht eindeutig. Es kann nämlich auf zwei verschiedene Weisen gelesen werden, je nach dem, ob sich das ›nicht‹ auf das ›sollst‹ oder das ›morden‹ bezieht:

1. Du sollst nicht morden. Bzw.: Es ist dir geboten nicht zu morden. (O(¬m))

2. Du sollst nicht morden. Bzw.: Es ist dir nicht geboten zu morden. (¬O(m))

Während aus der ersten Variante folgt, dass es verboten ist zu morden (O(¬m) ↔ V(m)), folgt aus der zweiten lediglich, dass es erlaubt ist nicht zu morden (¬O(m) ↔ E(¬m)).[29] Wie man sieht ist es notwendig Regeln sorgfältig zu formulieren, damit sie das Gewünschte aussagen.

Zusammenfassend kann man zum Deontologismus sagen, dass er entweder nur wenige Regeln umfasst, aber dadurch sehr allgemein und wenig eindeutig bleibt oder aber ein sehr umfangreiches Regelwerk aufbieten muss, um alle Entscheidungssituationen zu umfassen, welches zudem ständig erweitert werden muss, wenn neue relevante Entscheidungssituationen hinzukommen.

2.2.2 Der Regelkonsequentialismus

Im vorherigen Kapitel wurde angesprochen, dass einige Vertreter des Deontologismus ihr Regelwerk mit Hilfe von Konstrukten wie zum Beispiel dem ›Wohl des Volkes‹ legitimieren. Dies führt uns direkt zum Regelkonsequentialismus. Denn wenn wir das ›Wohl des Volkes‹ bestimmen, machen wir nichts anderes als Folgenbetrachtungen. Es handelt sich also um einen konsequentialistischen Ansatz. Der Regelkonsequentialismus ist somit eine Kombination aus Konsequentialismus und Deontologismus. Wie beim Deontologismus werden hier Regeln aufgestellt, welche befolgt werden müssen, diese sind aber konsequentialistisch begründet. Zum Beispiel ließe sich ein Gesetz, welches das Stehlen verbietet, mit den negativen Aus­wirkungen begründen, die Diebstahl, würde er allgemein praktiziert, für die Gesellschaft hätte.

Der Regelkonsequentialismus hat natürlich die selben Probleme wie der Deontologismus bei Fällen, in denen entweder alle Handlungsalternativen verboten sind oder sich widersprechende Regeln zur Anwendung kommen. Allerdings lassen sich die Probleme umgehen, wenn man dem Entscheider die Möglichkeit gibt, in solchen Fällen auf der Basis des Konsequentialismus zu entscheiden. Alternativ könnte man auch versuchen die Regeln so speziell zu verfassen, dass es nicht zu einer solchen Situation kommt, womit der Regelkonsequentialismus allerdings faktisch identisch mit dem Konsequentialismus wäre. Zu dem selben Ergebnis würde es führen, dem Entscheider grundsätzlich die Möglichkeit zu geben auf den Konsequentialismus zurückzugreifen und ihm die Regeln nur für den Fall, dass keine vollständige konsequentialistische Analyse der Entscheidungssituation möglich ist, an die Hand zu geben. Diese Variante nennt man den Faustregel­konsequentialismus.

Diese beiden Varianten bewahren den Entscheider zudem vor dem Problem der konsequentialistisch suboptimalen Handlungsfolgen durch die Anwendung des Regelkonsequentialismus. So können Regeln, welche im allgemeinen positive Folgen haben wie die Regel ›nicht zu stehlen‹, im speziellen Anwendungsfall negative Folgen haben, wenn etwa die einzige Möglichkeit nicht zu verhungern wäre, Nahrungsmittel zu stehlen.

Allen Regelkonsequentialismusvarianten gemein ist der Umstand, dass Regeln, die auf diese Weise legitimiert sind, plausibler begründet sind, als solche, welche sich auf eine höhere Instanz zur Legitimation berufen, da sie nicht voraussetzen, dass diese höherer Instanz von allen anerkannt wird.

2.2.3 Der Konsequentialismus und die Individualrechte

An dieser Stelle soll noch auf eine weiteres Problem eingegangen werden, welches dem Konsequentialismus häufig von Seiten der Deontologen zur Last gelegt wird, nämlich dass dieser keine Individualrechte garantiert.

Dieser Vorwurf ist prinzipiell richtig, lässt sich aber von zwei Seiten angreifen. Zum einen sind Individualrechte, wie alle festen Regeln, natürlich ein deontologisches Konstrukt und entsprechen damit nicht dem konse­quentialistischen Denkschema. Somit könnte ein Konsequentialist dieses Problem einfach damit abtun, dass in einer Welt voller Konsequentialisten keine solchen Individualrechte existieren würden und das Problem damit gar nicht bestünde. Auf der anderen Seite sollte man diese Rechte nicht leichtfertig beiseite schieben, da sie teilweise fundamentale Bedürfnisse der Menschen repräsentieren, die eine gewisse Berücksichtigung verdienen. Nun kann man bei den Individualrechten sozial triviale und sozial nichttriviale unter­schei­den.[30] Die Gewährung der sozial trivialen Individualrechte hat nur Folgen für die begünstigte Person, zum Beispiel, ob man sein Glas mit rechts oder links hält oder, ob man seinen Tee lieber heiss oder lauwarm trinkt. Da keine Folgen für andere entstehen, können diese Individualrechte aus konsequentialistischer Sicht problemlos gewährt werden. Die sozial nicht­trivialen Individualrechte dagegen, bei denen Folgen auftreten, welche auch andere Personen betreffen, sind durchaus problematisch, sobald nicht alle Betroffenen die Folgen positiv bewerten. Dann nämlich gilt es die Folgen für die einzelnen Betroffen gegen­einander abzuwägen. Dabei kann man als Konsequentialist zu dem Ergebnis kommen, dass es im Einzelfall besser ist, bestimmte Individualrechte nicht zu gewähren. Zum Beispiel könnte ein Entführer ein Gruppe Kinder in seine Gewalt gebracht haben und an­schließend verhaftet worden sein. Es sei bekannt, dass er die Kinder an einen Orte verbracht habe, welcher ohne seine Mit­hilfe nicht gefunden werden kann und an dem die Kinder binnen kurzer Zeit mit Si­cher­heit sterben würden. Der Entführer verweigere aber mit Berufung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht jede Information die notwendig wäre die Kin­der zu finden. In diesem Fall hätte die Gewährung dieses Rechtes ganz offen­sicht­lich suboptimale Folgen, nämlich den Tod der Kinder. Einem Konse­quen­tialisten wäre es daher in einer solchen Situation nicht nur geboten dieses Recht nicht anzuerkennen, sondern darüber hinaus Mittel anzuwenden, um den Ent­füh­rer zur Herausgabe der Informationen zu zwingen, nötigenfalls auch unter Miss­achtung des Individualrecht des Entführers auf körperliche Unversehrtheit.[31]

Das bedeutet allerdings nicht, dass der Konsequentialismus allzu leichtfertig mit den Individualrechten umgeht und sie bei jeder Gelegenheit ausser Kraft setzt. Da die Individualrechte, wie bereits erwähnt, häufig fundamentale Bedürfnisse repräsentieren, ist stets auch das Bedürfnis der Menschen nach einer allgemeinen Anerkennung dieser Rechte und die negativen Folgen einer allgemeinen Nichtbeachtung bei der Betrachtung der Folgen einer Handlung zu berücksichtigen. Trotzdem besteht beim Konsequentialismus eine prinzipielle Bereitschaft solche Individualrechte nicht anzuerkennen. Diese Bereitschaft ist in der Praxis allerdings auch bei deontologisch geprägten Systemen vorhanden, denn auch diese behalten sich vor die Individualrechte in Krisenzeiten ausser Kraft zu setzen. Folglich ist der Umgang des Konsequentialismus mit diesem Problem konsequenter, es bleibt aber, dass beim ihm die Hemmschwelle, Rechte nicht zu beachten, niedriger ist.

2.3 Fazit

Vergleicht man den Konsequentialismus mit dem Deontologismus so stellt man fest, dass der Deontologismus den scheinbaren Vorteil hat, dass Entscheidungen sehr schnell gefällt werden können, da weniger Parameter beachtet werden müssen, nämlich nur die Handlungsalternativen und das Regelwerk. Das gleiche gilt für den Regelkonsequentialismus. Überhaupt verwischen die Unterschiede zwischen diesen beiden, wenn man bedenkt, dass die meisten deontologischen Regelwerke, de facto nicht anderes sind, als die kondensierte Erfahrung vieler Generationen und deren Wissen darüber, welche Handlungen meist positive oder negative Folgen haben. Überspitzt könnte man also sagen, dass solche Regelwerke, wie zum Beispiel das des Christentums oder des Islam, nicht anderes sind als ein in Stein gemeißelter Regel­konsequentialismus.

Den Zeitvorteil des Deontologismus bei Entscheidungen erkauft sich dieser allerdings durch eine wesentlich schlechtere Informationsverwertung als beim Konsequentialismus, welcher normalerweise wesentlich mehr Informationen berücksichtigt, wodurch der Entscheidungsprozess komplizierter und langwieriger wird. Auf der anderen Seite kann der konsequentialistische Entscheider in seinen Überlegungen neben den absehbaren Folgen, bei Bedarf auch das gesamte Wissen, auf dem die Regeln des deontologischen Systems begründet sind und zudem das Wissen, welches nach dem Festlegen der Regeln noch hinzugekommen ist, mitberücksichtigen. Somit ist der konsequenti­alistische Entscheider gegenüber dem deontologischen informationell immer im Vorteil. Besonders eignet sich der Konsequentialismus folglich für Entscheidungen, bei denen ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um alle Aspekte der Entscheidungssituation gründlich zu analysieren. Solche Bedingungen lassen sich vor allem im Makrobereich und hier inbesondere bei politischen Entscheidungen finden.

Eventuell ist der Konsequentialismus aber zu aufwändig für den Entscheider oder es fehlt im die Zeit, dann kann er immer noch, unter Inkaufnahme der Gefahr suboptimaler Entscheidungen, seine Erwägungen eingrenzen, notfalls bis auf das Niveau von Faustregeln, welche sogar identisch mit einem deontologischen Regelwerk sein können, aber gegenüber diesem den Vorteil haben, bei Bedarf ohne Probleme modifizierbar und damit an die Gegebenheiten anpassbar zu sein.[32]

Somit steht der konsequentialistische Entscheider nie schlechter und wenn es die Zeit erlaubt, aus den oben genannten Gründen, sogar meist besser da, als der deontologische Entscheider.

[...]


[1] Trapp (1988), S. 42

[2] Trapp (1988), S. 221

[3] Trapp (1988), S. 412­ – 423

[4] Trapp (1988), S. 432

[5] Trapp (1988), S. 439

[6] Nida-Rümelin (2000), S. 73 – 78

[7] Harsanyi (1976), S. 40

[8] Nida-Rümelin (2000), S. 80 – 81

[9] Trapp (1988), S. 433

[10] Trapp (1988), S. 444 – 449

[11] ebd.

[12] ebd.

[13] Trapp (1988), S. 346 – 355

[14] Robert (2001), S. 66

[15] Trapp (1988), S. 456

[16] Robert (2001), S. 69 – 75

[17] Nida-Rümelin (1993), S. 155

[18] Trapp (1998), S. 28

[19] Nida-Rümelin (1993), S. 153

[20] Trapp (1998b), S. 106

[21] Trapp (1998b), S. 110

[22] Trapp (1998), S. 65

[23] Trapp (1988), S. 30

[24] Trapp (1988), S. 47

[25] Trapp (1988), S. 31

[26] Trapp (1988), S. 32

[27] Köhler (1979), S. 205 – 206

[28] Trapp (1988), S. 47

[29] Trapp (1988), S. 34 – 38

[30] Trapp(1998b), S. 113

[31] Trapp (1998c), S. 462 – 463

[32] Trapp (1988), S. 461

Ende der Leseprobe aus 102 Seiten

Details

Titel
Konsequentialistische Ethik als Makroethik
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
102
Katalognummer
V71651
ISBN (eBook)
9783638621182
Dateigröße
1102 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konsequentialistische, Ethik, Makroethik
Arbeit zitieren
M.A. Danny Riepenhusen (Autor:in), 2004, Konsequentialistische Ethik als Makroethik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71651

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