Typische Mnemosyne - Konstruktion des Andenkens in Axel Hackes "Deutschlandalbum"


Hausarbeit, 2007

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Versammlung des Andenkens

2. Die zwei, Bilder
2.1 Verschiedene Wirkungsstrategien
2.2 Flächen der Abwesenheit

3. Berührungsflächen von Text und Bild
3.1 Dominanz und Steuerung
3.2 Suggerierte Mündlichkeit
3.3 Typische Amateurfotos

4. Die doppelte Typisierung

Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur

1. Versammlung des Andenkens

Wenn Heidegger vom Gedächtnis als der Versammlung des Andenkens schreibt[1], weist uns das nicht zuletzt auch auf den fragmentarischen Charakter der Erinnerungen hin, der Gedächtnis konstituiert. Axel Hackes Deutschlandalbum kann als die Sammlung einer Vielzahl von subjektiven Andenken in Form von Text und Bild begriffen werden – ein Denken an Deutschland. Diese Sichtweise legt die Vermutung nahe, dass wir es mit einer Art von literarischem Gedächtnis zu tun haben. Aber wie und in welcher Weise? Der literaturwissenschaftliche Gedächtnisdiskurs der letzten Jahrzehnte bietet uns drei verschiedene Grundrichtungen an, auf die wir zurückgreifen können. Zum einen die Beschäftigung mit dem Gedächtnis der Literatur (als genitivus subjectivus oder objectivus), zum zweiten mit dem Gedächtnis in der Literatur und zuletzt mit der Literatur als Medium des Gedächtnisses[2]. Für diese Arbeit ist vor allem der letzte Ansatz äußerst spannend, weil das Album als spezifische mediale Form eine besondere Art eines kulturellen Gedächtnismediums darstellt und seinen Inhalt in eine Disposition bringt[3]. Eine bestimmte Anordnung setzt eine Art von Konstruktion voraus, was unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu der Frage nach den Charakteristika und Effekten dieser Konstruktion führt. Im Folgenden werde ich zunächst die einzelnen Komponenten des Andenkens untersuchen, also den Text und die Bilder, um mich daraufhin der Relation zwischen beiden zuzuwenden. Diese Vorgehensweise erscheint mir sinnvoll, um klar herauszustellen, wie und wie stark die Steuerung der Bilder durch den Text ist.

Im Vorwort schreibt Axel Hacke zu der Idee des Albums: „Später schaut man alles an […] und sagt: So war das. Hatte ich schon ganz vergessen“[4]. In diesem Satz ist das Programm des Buches im Hinblick auf die Form des Albums als Gedächtnis impliziert. Das Programm zu erinnern. Sofort stellt sich jedoch die Frage, was genau erinnert wird. Sind es, wie man zunächst vermuten könnte, das Allgemeine und das Typische der Figuren oder der Geschichten, die erzählt werden? Oder wird im Akt des An-denkens bei der Lektüre von Hackes Deutschlandalbum noch etwas anderes evoziert als die oberflächlichen Klischees, die sich im Text zunächst ausmachen lassen?

Es ist leicht zu erkennen, dass nicht allein die Figuren oder Geschichten – also das Erzählte – typisiert werden können, sondern auch die Art und Weise der Narration selbst. Im gesamten Buch beschleicht den Leser nicht nur das Gefühl, es seien alle deutschen Stereotypen verarbeitet worden, sondern er wundert sich auch über den seltsamen, konservativen und beinahe obsoleten Habitus des Erzählers, während dieser uns an seinen Geschichten und Ansichten Teil haben lässt. Im Hinblick darauf legt die gerade getroffene Unterscheidung von der Typisierung des Erzählten und des Erzählenden nahe, dass der Text auf zweifache Weise typisiert. Ich werde in dieser Arbeit am Beispiel des Kapitels „Die zwei“[5] meine These untersuchen, dass zwar auch das Erzählte typisiert wird, aber darüber hinaus diese Wirkung eine Funktion für die Typisierung des Albums insgesamt einnimmt. Wenn man erneut das Vorwort in den Blick fasst, in dem der Vergleich des vorliegenden Albums von Deutschland mit einem Familienalbum vorliegt[6], wird deutlich, dass diese zweite Ebene des Typischen bereits dort antizipiert ist. Der Erzähler tritt dem Leser mit dem Gestus eines Familienmitglieds gegenüber. Es soll also die These untersucht werden, dass der Text nicht nur die stereotypen Klischees von Deutschland, sondern auch eine bestimmte typisierte Sichtweise darauf erinnert.

2. Die zwei, Bilder

Im Kapitel „Die zwei“ finden sich zwei Bilder, die zunächst ganz unterschiedlich wirken. Schon allein aus dem Grund, dass auf dem einen zwei Figuren zu finden sind, während sich auf dem anderen nur eine Figur zweiter Ordnung auf einem Plakat ausmachen lässt. Nach Titzmann kann man ein solches Kapitel insgesamt als eine Äußerung begreifen, in der Texte und Bilder koexistieren[7]. Also zerfällt die gesamte Äußerung in Teilmengen unterschiedlicher semiotischer Objekte. Die Tatsache der weniger ausgeprägten Kodiertheit der primären, bildlichen Signifikanten[8] lässt die Vermutung zu, dass ikonische Äußerungen den höheren bzw. unmittelbareren Attraktionsfaktor genießen und somit vorläufig im Rezeptionsprozess für sich stehen können. Wenn das stimmt, lässt sich damit zumindest partiell die Irritation erklären, welche im Hinblick auf das im Vorwort angekündigte Allgemeine im Subjektiven und den Bildern entsteht. Denn zunächst wirkt zumindest die erste dieser beiden ikonischen Äußerungen für sich nur in einem geringen Maße typisierend – wenn überhaupt. Inwieweit aber genau diese Wirkung auf der bereits erwähnten zweiten Ebene der Typisierung als ein gezieltes Mittel eingesetzt wird, werde ich später noch erläutern.

2.1 Verschiedene Wirkungsstrategien

Das erste Bild[9], auf dem Blesing und Menasse abgebildet sind, wirkt wie ein Schnappschuss. Das Medium Fotografie scheint sich hier nicht bzw. nur geringfügig an wirkungsästhetischen Praxen traditioneller Künste zu bedienen[10], was den Eindruck eines nicht inszenierten Amateurfotos evoziert. Die Blicke der beiden Figuren aus dem Bild heraus unterstreichen diesen Eindruck noch weiter, weil sie das Foto mit dem Gestus des unbemerkten Beobachters aufladen. Des Weiteren lässt sich dadurch dem Bild ein hoher Grad an vermeintlicher Beliebigkeit seiner Selektivität zuschreiben, weil das Ereignis, welches diese beiden kongruenten Blicke vermuten lassen, aus dem Bild gerückt ist und dadurch nur implizit zum Ausdruck gelangt. So wenig wie die Inszenierung der Figuren wirkt auch der Basketballkorb nicht typisch deutsch, den man als einen sichtbaren Signifikanten ausmachen kann und der durch seine materielle Nähe in direkter semantischer Korrelation zu den beiden Figuren steht. Für sich erzeugt dieses Bild zunächst den Eindruck eines heterogenen Elements der Gesamtäußerung, das die im Vorwort geweckten Erwartung einer typisierenden Funktion eher unterläuft, als dass es einen direkten Zugriff auf seine ikonischen Signifikanten als Symbole zulässt, wie es beispielsweise die von John Heartfield montierten Bilder in dem zusammen mit Kurt Tucholsky herausgegebenen Bilderbuch „Deutschland, Deutschland über alles“[11] erlauben.

Das zweite Bild[12] im selben Kapitel hingegen funktioniert auf eine andere Art, die durch ihre Symbolik rudimentäre Ähnlichkeiten zu Heartfields Wirkungsstrategie aufweist. Bei diesem Bild wird direkt und vor allem auch schon ohne Text ein Bezug zum typisch Deutschen hergestellt. Die im oberen Drittel des Bildes angeordneten Fenster, die in ihrer Quantität ein Muster ergeben, können als ein Verweis auf das Klischee der deutschen Ordentlichkeit gesehen werden. Zugleich birgt der Signifikant Fenster das Konnotat der Beobachtung. Da man eine breite Fenster front sieht, ist der Richtungsvektor dieser Beobachtung unmittelbar determiniert. Er zeigt auf den Vordergrund des Bildes, wo zwei Stromkästen mit sich bereits lösenden Plakaten zu sehen sind. Auf dem Plakat am linken, unteren Bildrand ist eine männliche Figur abgebildet. Wenn nicht schon das Medium Plakat allein, so suggeriert auf jeden Fall die Darstellung und Inszenierung dieser Figur auf dem Plakat den Modus der Prominenz. Auch das Konnotat des Stromkastens verweist hier wahrscheinlich nicht zuletzt auf eine Art des Lebens, die fern ab von Alltag und Gewohntem steht und die Spannung des Besonderen unterstreicht. Allerdings kann man erkennen, dass sich das Plakat löst und an den Rändern bereits eingerissen ist. Die Prominenz der Person scheint zu verschwinden. In dieser Relation der beiden Signifikanten Fenster und Plakat liegt ein Berührungspunkt zu Wolfram Backert, wenn er sich mit dem Phänomen des Scheiterns beschäftigt. Backert beschreibt das Typische der Deutschen im Umgang mit ihren Helden. Es sei, im Gegensatz zu den anderen eher kühl wirkenden deutschen Tugenden, das Phänomen zu beobachten, dass eine zunächst ubiquitäre Begeisterung für eine Person aus der Öffentlichkeit nach einer bestimmten Zeitspanne in einen besonders heftigen Prozess der Demontage umschlägt[13]. Diese spezifische Konfiguration zwischen breiter Masse und dem besonderen Individuum findet sich auf dem Bild auf dreifache Weise wieder. Zum einen in der Relation zwischen der Anzahl der Fenster und dem einzelnen Plakat. Zum zweiten in der Divergenz zwischen Hinter- und Vordergrund und zuletzt in der hierarchisch konnotierten Gegenüberstellung von oben und unten, die in Bezug auf Backert die Entscheidungsgewalt der Masse über den Einzelnen aufgreift.

[...]


[1] Vgl. Martin Heidegger: Was heißt Denken? Vorlesung Wintersemester 1951/52. Stuttgart 1992. S. 12.

[2] Vgl. Astrid Erll u. Ansgar Nünning: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick. In: Astrid Erll u. Ansgar Nünning (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin und New York 2005. S. 2ff.

[3] Vgl. Matthias Bickenbach: Das Dispositiv des Fotoalbums: Mutation kultureller Erinnerung. Nadar und das Pantheon. In: Jürgen Fohrmann, Andrea Schnitte, Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Medien der Präsenz. Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Köln 2001. S. 88. Im Folgenden zitiert als Bickenbach 2001.

[4] Axel Ha>

[5] Hacke 2005: S. 16-22.

[6] Ebenda: S. 7.

[7] Vgl. Michael Titzmann: Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen. In: Wolfgang Harms (Hrsg.): Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Stuttgart 1990. S. 368. Im Folgenden zitiert als Titzmann 1990.

[8] Vgl. Titzmann 1990: S. 376f.

[9] Hacke 2005: S. 16.

[10] Bei dieser Feststellung sei vom mehr oder weniger modernen Avantgardismus abgesehen. Zu den diversen Beziehung zwischen Medien und Künsten siehe: Christa Karpenstein-Eßbach: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. Paderborn 2004. Insbesondere: Kapitel IV. Medien und Künste. S. 215-291.

[11] Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen. Montiert von John Heartfield. Reinbek bei Hamburg 2006. Siehe im Besonderen das Kapitel „Die Tasse“. S. 56.

[12] Hacke 2005: S. 21.

[13] Vgl. Wolfram Backert: Kulturen des Scheiterns: Gesellschaftliche Bewertungsprozesse im internationalen Vergleich. In: Mathias Junge u. Götz Lechner (Hrsg.): Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens. Wiesbaden 2004. S. 66.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Typische Mnemosyne - Konstruktion des Andenkens in Axel Hackes "Deutschlandalbum"
Hochschule
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Veranstaltung
Deutschland als Bilderbuch
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
14
Katalognummer
V73549
ISBN (eBook)
9783638635998
ISBN (Buch)
9783638769761
Dateigröße
435 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Typische, Mnemosyne, Konstruktion, Andenkens, Axel, Hackes, Deutschlandalbum, Deutschland, Bilderbuch
Arbeit zitieren
Jan-Henning Sommer (Autor:in), 2007, Typische Mnemosyne - Konstruktion des Andenkens in Axel Hackes "Deutschlandalbum", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73549

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