Aufbau und Erzählstruktur des Ulenspiegel-Buches - Insbesondere in Hinblick auf die Forschungspositionen Peter Honeggers


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

40 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Verfasserfrage

3 Herman Bote – Verfasser des „Ulenspiegel“ !?

4 Formale und inhaltliche Erzählstruktur des „Ulenspiegel“

5 Exkurs: Sinn und Intention von Akrosticha

6 Kritische Auseinandersetzung mit den Positionen Honeggers

7 Weitere Versionen bezüglich des „Ulenspiegel“ -Aufbaus
7.1 Der Eulenspiegelaufbau nach Ekkehard Borries
7.2 Der Aufbau des Eulenspiegel-Volksbuches von 1515 nach Werner Hilsberg

8 Fazit

Literaturangabe

Anhang

1 Einleitung

Anknüpfend an das im Hauptseminar „Ulenspiegel“ gehaltene Referat „Ulenspiegel. Akrostichon und Erzählstruktur“ soll mit dieser Hausarbeit der Versuch unternommen werden, tiefer in die Thematik einzusteigen, weitere Informationen zu liefern und sich kritischer mit einzelnen Forschungspositionen auseinanderzusetzen. Unterstellt werden soll dabei, dass Herman Bote gemeinhin als der Verfasser des „Ulenspiegel“ gilt. Auch wenn zeitweilig andere Persönlichkeiten, wie z.B. Dr. Thomas Murner als Autoren gehandelt wurden/ werden, erscheint es in der Forschungsliteratur dennoch so, als sei H. Bote weithin als Ulenspiegelschöpfer anerkannt.[1] Einen nicht zu verachtenden Anteil an dieser wissenschaftlichen Position hat Peter Honegger, der mit seiner 1973 erschienen Publikation „Ulenspiegel. Ein Beitrag zur Druckgeschichte und Verfasserfrage“ für neue Erkenntnisse in der Ulenspiegelforschung sorgte. Doch nicht nur in Bezug auf den Verfasser lieferte P. Honegger wichtige Informationen, sondern auch hinsichtlich der gesamten Erzählstruktur des Textes. Ich möchte daher im ersten Abschnitt auf die Fragen der Verfasserschaft und der vermeintlichen Erzählstruktur des „Ulenspiegel“ nach Peter Honegger eingehen und mich im zweiten Teil dieser Arbeit damit kritisch auseinandersetzten. Dabei sollen auch andere Konzepte zur Erzählstruktur in den Blick genommen werden. – Dies ergibt sogleich einen Blick auf die verwendete Forschungsliteratur. Hauptsächlich werde ich mit P. Honeggers Publikation arbeiten – nicht zuletzt wegen der methodischen Praktikabilität. Die Mehrzahl der übrigen Literatur wird dann entweder zusätzliche Informationen liefern, flankierend wirken oder in kritischer (Op-) Position zu den Ansichten Honeggers stehen, damit ein umfangreicheres Bild bezüglich der Verfasserfrage und Erzählstruktur gezeichnet werden kann, als dies mittels einer einzigen Publikation möglich ist. Textgrundlage der Arbeit ist die Ulenspiegelausgabe von Reclam „Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515“, herausgegeben von Wolfgang Lindow.

2 Die Verfasserfrage

Laut Peter Honegger gab es bei der Frage danach, wer eigentlich der Verfasser des „Ulenspiegel“ sei bis zur Veröffentlichung seiner Publikation ein entscheidendes methodisches Problem.[2] Nicht die Suche nach den Spuren eines möglichen Autors stand im Vordergrund, sondern die nach dem ursprünglichen Text des „Ulenspiegel“. So erkannte die Literaturwissenschaft relativ schnell, dass der uns heute vorliegende Text keine Stringenz in Sachen Sprache, Handlung oder Personencharakterisierung aufweist. – Vielmehr verweisen niederdeutsche Ausdrücke und gute geographische Kenntnisse in und um Braunschweig auf einen Braunschweiger Autor mit niedersächsischer Muttersprache; mitteldeutsche Ortsangaben und sogar das Fehlen niederdeutscher Ausdrücke wiederum auf einen anderen deutschen Dialekt. Es müssen folglich mindestens zwei unterschiedliche Autoren aus verschiedenen Sprachräumen (Übersetzungen einmal ausgeschlossen) in Betracht gezogen werden. Der unterschiedliche Erzählstil einzelner Historien[3], die keineswegs homogene Darstellung der Figur des Ulenspiegel und einige andere Erscheinungen decken diese Annahme mehrerer Verfasser zusätzlich. Jedoch haben all’ diese Überlegungen keineswegs zum „Nachweis eines plausiblen Verfassernamens“ geführt, weshalb Honegger zu dem Schluss kommt, die Fragestellung sei falsch formuliert worden. So sei nicht etwa der Ursprungstext von den späteren Zusätzen zu trennen, weil dies schon per se voraussetzt, dass es mindestens zwei Verfasser gibt, sondern das „umgekehrte Vorgehen [vonnöten]: zuerst nach Spuren eines möglichen Autors zu suchen und erst danach die ihm sicher zuzuschreibenden Teile des Volksbuches zu eruieren“.[4] Das führt folglich zu der Frage, was Honegger dazu veranlasst, die Behauptung aufzustellen, Herman Bote sei der Verfasser des „Ulenspiegel“.

3 Herman Bote – Verfasser des „ Ulenspiegel“ !?

Unterstellt man, dass Herman Bote der Autor des „Ulenspiegel“ ist, so sollte man zuerst prüfen, ob die im Text dargestellten Ereignisse möglicherweise in die Lebenszeit Botes gehören könnten. Tatsächlich weisen die Handwerkgeschichten, Ulenspiegels Tod im Jahre 1350, das in der 88. Historie beschriebene Turnier zu Einbeck (1471) sowie die genaue Ortskenntnis des Braunschweiger Landes auf einen Erzähler hin, der „sich selbst als Kind des 15. Jahrhunderts zu erkennen [gibt].“[5] Herman Bote, als Sohn des Braunschweiger Schmiedemeisters und Ratsmitgliedes Arnt Bote, war bereits 1488 Zollschreiber. Aus diesem Jahr ist bekannt, dass er seines Amtes enthoben wurde. Man kann davon ausgehen, dass er zum Zeitpunkt dieser Amtsenthebung mindestens 25 Jahre alt gewesen sein muss, weil er sonst diesen administrativen Posten nicht hätte antreten können. Zeitweilig war er wohl auch Verwalter des Braunschweiger Altstadt-Ratskellers. Von 1497 bis 1513 ist er wieder als Zollschreiber tätig gewesen. Zudem wird er zwischen den Jahren 1516 und 1520 als Verwalter der städtischen Ziegelei erwähnt. Das Todesjahr kann nur ungefähr zwischen 1520 und 1525 datiert werden. Insofern bestätigt sich also die Vermutung der partiellen Kongruenz zwischen Lebenszeit Botes und einigen Geschehnissen im „Ulenspiegel“.

Aus Botes Hand ist nur ein einziges authentisches Zeugnis gesichert, das zudem aus seinem Berufsalltag stammt. Mit „Hermen bote me fecit 1503“ signierte er das handgeschriebene Zollverzeichnis der Stadt Braunschweig. Von dieser Handschrift ausgehend wird ihm „Dat schichtbiok“ zugeschrieben, eine Chronik über die Handwerkeraufstände in Braunschweig, die circa zwischen 1510 und 1514 entstanden ist. Neben der Handschrift als primäres Indiz für dieselbe Autorschaft von Zollverzeichnis und Chronik ist der letzteren zusätzlich eine Zeichnung vorangestellt, die eine männliche Figur in der Amtstracht der Stadt Braunschweig als Boten darstellt.[6] Eine ähnliche Darstellung findet sich auch bei einem Werk namens „Dat boek von veleme rade“, das Herman Bote relativ sicher zugeschrieben werden kann,[7] denn neben jener erwähnten Botendarstellung findet sich in diesem Buch das Akrostichon HERMEN BOTE, das den Kapitelanfängen 2-10 zu entnehmen ist. Auch die mittelalterliche Spruchsammlung „Der Koker“ ist mit großer Wahrscheinlichkeit der Feder Botes entsprungen. Darauf verweisen zum einen das Vokabular, der Reimgebrauch und einige inhaltliche Übereinstimmungen mit dem „Boek van veleme rade“, zum anderen „Botes Freude an akrostichischen Spielereien: Zwar ergeben die Kapitelanfänge bei diesem Werk nicht seinen Namen, aber sie durchlaufen der Reihe nach das Alphabet von A-W.“[8] Auch für die beiden „Weltchroniken“ konnte 1952 durch G. Cordes nachgewiesen werden, dass Herman Bote der Verfasser ist. Dazu kommen einige politische „Streit- und Spottlieder“, die möglicherweise den Grund für seine Amtsenthebung geliefert haben.

Nach diesem relativ kurzen Befund Botescher Produktion und deren vermeintlicher Regelhaftigkeit bezüglich Wortwahl, Reimart, Akrostichon usw. stellt sich in Bezug auf den „Ulenspiegel“ die Frage, ob gewisse Ähnlichkeiten zu den bisher genannten Werken feststellbar sind und wenn ja, ob diese ausreichen können, um Herman Bote auch die Autorschaft für den „Ulenspiegel“ zuzusprechen. Peter Honegger führt dafür folgende Parallelen an:

a) Die kritische Einstellung gegenüber den Handwerkern: Schenkt man P. Honegger Glauben, so fällt beim Lesen der vorgeblich anderen Werke Botes und insbesondere beim Schichtbuch dessen „grundsätzlich negative Haltung“ gegenüber den Handwerken auf, „deren Benehmen in der Zollbude wohl oft anmaßend und unbotmäßig gewesen sein mochte.“[9] Er stützt diese Annahme auf die Aussagen Werner Dankerts, der herausfand, dass die Zöllner noch bis ins Jahr 1652 in Braunschweig als unehrliche Leute galten und eben keinen geachteten Stand darstellten.[10] Generell, so Honegger, sei es Bote zuzutrauen, dass er „den Angehörigen des Handwerkerstandes die Geringschätzung, die sie ihn erfahren ließen, mit der ihm zur Verfügung stehenden Münze des Spottes in der Form, wie wir sie im Volksbuch finden, heimgezahlt hätte.“[11]

b) Die Bedeutung der Hansestädte: Sowohl im Räderbuch als auch im Schichtbuch wird die zentrale Bedeutung der Hansestädte durch H. Bote hervorgehoben, der als Einwohner und Angestellter der Stadt Braunschweig selbst eine der wichtigsten Hansestädte der damaligen Zeit bewohnte. Im „Ulenspiegel“ zeigt sich jene Präferenz über die Darstellung Braunschweigs und des unmittelbaren geographischen Umfelds hinaus auch durch die auffallende Vorliebe für andere Hansestädte, etwa Krakau oder Koppenhagen. Und in jenen Städten, die nicht zur Hanse gehörten, unterlässt es Ulenspiegel dann auch nicht, sich etwas vollmundig als Hanseat, also als Osterling, auszugeben.[12]

c) Die Übereinstimmung in Bezug auf die Themenwahl: Honegger behauptet, man finde die ständische Gliederung des Radbuches (die ersten fünf Räder: Papst und Kardinäle, Kaiser und Kurfürsten, Adel, Städte, Bauern; die zweiten fünf Räder: Frauen, Kinder, Schwarzkünstler, Toren, Betrüger und Diebe) zwar nicht in derselben Reihenfolge aber dennoch komplett im „Ulenspiegel“ vertreten und erhalte somit ein weiteres Indiz für ein und den selben Autor. Ob dies tatsächlich der Fall ist, soll im weiteren Verlauf der Arbeit noch geklärt werden.

d) Die Spruchweisheiten: Untersucht man den „Koker“, den „Ulenspiegel“ und eine der „Weltchroniken“ hinsichtlich bestimmter Spruchweisheiten, fallen folgende Übereinstimmungen auf:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

e) Die Verwendung bestimmter Wortbilder und die Wortwahl im Allgemeinen: Im „Boek van veleme rade“ finden sich kleinere Passagen, die auch im „Ulenspiegel“ zu finden sind. So z.B. „dat dy de hals moghe knacken“ (Boek van veleme rade VI, 102) und „Ulenspiegel“ Hist. 9 „…ich gang vnd trag das mir der halß kracht…“. Zudem treten im Schichtbuch und im „Ulenspiegel“ „eine Anzahl von Wendungen auf, die einzeln genommen keine Bedeutung hätten, in ihrer Gesamtheit aber doch wohl mehr als Zufall sind.“[14] Diese sind unter anderem: anslage (Hist. 14, 15); eyn eventur (Hist. 14, 24, 25, 27); so swech he stille unde dachte (Hist. 40); over hundert jaren hirna van seggen (Hist. 14); so reyp eyn to deme anderen (Hist. 46) sowie do wart he ropen ‘mau mau’ (Hist. 55).[15]

f) Das Akrostichon: Bereits weiter oben wurde auf die vermeintliche Vorliebe Botes verwiesen, Kryptogramme in seine Werke einzubauen. Eine Art dieser Verschlüsselungen sind so genannte Akrosticha. Dabei ergeben die Anfangsbuchstaben (-silben; -wörter) einzelner Sätze, Verse oder Strophen einen bestimmten Sinn, etwa einen Namen. Wie dargestellt, befindet sich im „Koker“ ein Akrostichon, das den Autor dieses Werkes als HERMEN BOTE identifiziert. Und auch im „Boek van veleme rade“ sind ähnliche Phänomene vorhanden. Falls also der „Ulenspiegel“ von Bote stammen sollte, dann liegt die Vermutung nahe, dass auch in ihm Akrosticha bzw. andere kryptologische Erscheinungen enthalten sind. Peter Honeggers herausragende Leistung ist das Auffinden eben eines solchen Akrostichons im „Ulenspiegel“. Er war der erste, der herausfand, dass

die Historien 90-95 den vermeintlichen Namen ERMANB hervorbringen.[16] „Mit ,ERMAN B’ ergeben sie (die Historienanfänge – Anm. d. Verf.) den nahezu vollständigen Vornamen und den ersten Buchstaben des Familiennamens des vermuteten Verfassers Hermann Bote.“[17] Doch nicht nur die letzten Historien enthalten nach Honegger akrostichische Elemente, sondern auch das gesamte Werk, denn wenn „wir schon wissen, daß Hermann Bote seinen Namen in den Kapitelanfängen seines Radbuches bekanntgab und daß er die Abschnittsanfänge des ,Köker’ in der Reihenfolge des Alphabetes setzte, müssen wir auch im Ulenspiegel, nach Anzeichen der gleichen Spielerei Umschau halten.“[18] Daher erstellt Peter Honegger zunächst folgende Übersicht:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anhand dieser Tabelle lässt sich zweifelsohne veranschaulichen, dass eine gewisse alphabetische Ordnung innerhalb der Historienanfänge zu erkennen ist, die nach Honegger keineswegs auf Zufall beruhen könne. Da der Buchstabe „A“ dreimal vorkommt und möglicherweise auch den Anfang der 23. Historie bildete, gehe ich – in Anlehnung an Honegger – von vier Alphabeten aus. Ebenso offensichtlich ist jedoch, dass die Alphabetreihen nicht durchgängig verlaufen und zum Teil große Lücken aufweisen. Dies könnte folgende Ursachen haben:

1) Der „Ulenspiegel“ wurde bekanntlich in Straßburg gedruckt. Anzunehmen ist, dass der Setzer aus der Druckerei Grüningers keine Kenntnis der vermeintlich akrostichischen Anordnung des Werkes gehabt hatte und „aus verschiedenen Gründen oft andere Initialen verwendet[e], als die Druckvorlage sie aufweisen mochte.“[20]
2) Der „Ulenspiegel“ ist zwar auf hochdeutsch geschrieben, enthält aber eine Vielzahl niederdeutscher Elemente. Insofern ist zu untersuchen, welche Aufschlüsse die niederdeutschen Historienanfänge bieten könnten.
3) Ferner glaubt Honegger, dass die Fassung Grüningers eine überarbeitete ist und diesbezüglich gewissen Abänderungen, Neugruppierungen usw. unterlag, welche die ursprüngliche Historienanordnung zerstörten.[21]
Qua dieser Unterstellungen, nimmt Honegger folgende Veränderung an der sprachlichen Textgestaltung des „Ulenspiegel“ vor:

1) Zuerst prüft er, ob die hochdeutschen Anfänge bei ihrer Rückübertragung ins Niederdeutsche bestehen bleiben. Wenn dies der Fall wäre, wären bereits damit Indizien für den niederdeutschen Ursprung des „Ulenspiegel“ gegeben. Tatsächlich trifft dies bei den Historien 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81 und 82 zu.
2) In einem zweiten Schritt, überträgt er die hochdeutschen Historienanfänge, die nicht mit denen der niederdeutschen Version übereinstimmen ins Niederdeutsche, weil sich diese – vorausgesetzt seine Annahme eines niederdeutschen Originals ist korrekt – besser ins akrostichische Alphabet einordnen lassen müssten. Das führt zu folgenden Ergebnissen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3) Nicht bei allen Historienanfängen lässt sich mit den Methoden a) und b) arbeiten. Es gibt solche, bei denen die hochdeutschen Initialen keineswegs aus einem niederdeutschen Text stammen können, da deren Rückübertragung die vermeintlich richtige akrostichische Ordnung zerstören würde.[23] „Die einzige befriedigende Erklärung (dafür – Anm. d. Verf.) ist, daß diejenige Fassung des Volksbuches, die in irgendeiner Form nach Straßburg gelangte, in einem stark von niederdeutschen Ausdrücken durchsetztem Hochdeutsch abgefasst war, wobei dem Autor beim selbstgewählten Zwang der akrostichisch geordneten Kapitalen am Anfang die Verwendung mittelniederdeutscher Worte bei einigen Historienanfängen half.“[24] Dies veranlasst Honegger neben dem Hinweis durch das Namensakrostichon abermals dazu, Bote als Autor des „Ulenspiegel“ zu nennen, der diesen dann nicht nur verfasst, sondern eben auch übersetzt haben soll! Dafür spricht ihm zufolge auch, dass der Name des Akrostichons nicht wie üblich in niederdeutscher Form steht, sondern in der hochdeutschen Variante.[25]

4 Formale und inhaltliche Erzählstruktur des „Ulenspiegel“

Nicht nur die sprachliche Gestalt des Textes ist nach Honegger im Druck Grüningers verfälscht, sondern ebenso die formale und inhaltliche. Anders sind beispielsweise die rauen Übergänge und die zum Teil logischen Brüche zwischen einigen Historien nicht denkbar. Diese Ungereimtheiten können global in drei verschiedene Versionen unterteilt werden:

a) falsche Übergänge; b) große, recht unwahrscheinliche geographische Sprünge (Braunschweig – Wismar – Einbeck – Berlin – Rostock – Staßfurt – Rom – Frankfurt a.M. – Rom – Frankfurt a.O. – Antwerpen) und schließlich c) erhebliche Zeitsprünge. Daher bemüht sich Peter Honegger um die Rekonstruktion der vermeintlichen Erzählstruktur des „Ulenspiegel“, welche durch die unterstellte, akrostichische Anordnung der Historienanfänge gestützt wird. Nach den folgenden drei Hauptkriterien geht er dabei vor:

1. den sichtbaren Anknüpfungen der Historien,
2. der geographischen Ordnung,
3. dem Weltbild Hermann Botes (im Vergleich mit dem „Boek van veleme rade“).[26]

Unter diesen Prämissen führt er folgende formale Veränderungen durch:

a) Hist. 18 setzte ursprünglich an Hist. 15 an, da nur so der erkennbare Aufbau des Werkes, das „eigentlich als Ständebuch konzipiert ist“, eingehalten wird;
b) Hist. 16 gehörte hinter die Reihe Hist. 36-38, da diese die Frauen- und Pfaffengeschichten darstellen;
c) Hist. 19 und 20 standen anstelle von Hist. 63 und 64 am Ende der Handwerkergeschichten. Zum einen wird somit die Parade der Handwerker eingehalten, zum anderen erscheint die Reiseroute Dresden (Hist. 62) – Braunschweig (Hist. 19) – Uelzen (Hist. 20) – Wismar (Hist. 65) weitaus plausibler als die im Grüninger Druck vorhandenen Stationen Dresden – Friedberg – Frankfurt a.M. – Hildesheim – Wismar;
d) Hist. 63 muss einst vor Hist. 23 gestanden haben – dem streng ständischen Aufbau (Kaiser/ Kurfürsten; Könige (Hist. 23, 24); Herzöge (Hist. 25, 26) und Landgrafen (Hist. 27)) des „Boeks van veleme rade“ folgend. Dadurch wird sogleich Hist. 23 plausibel, weil Ulenspiegel in ihr „Hofmann“ ist, ihm also vom Kurfürsten dieser Rang verliehen wurde;
e) Hist. 64 knüpfte wohl ursprünglich an Hist. 10 an, da Ulenspiegel in ihr ein Küchenknabe ist, was ihn als noch relativ jung charakterisiert. Insofern macht die Einordnung an den Anfang des Buches mehr Sinn als die in die ältere Lebenszeit des Protagonisten am Ende des Textes;
f) weil der Stiefelmacher aus Hist. 45 angeblich kein Schumacher (wie in den Hist. 43 und 46) ist und die streng ständische Ordnung dadurch gestört wird, setzt Honegger Hist. 45 hinter die Hist. 72 und 73 (die mit „A“ und „B“ beginnen), was dann wiederum dem akrostichischen Alphabet dienlich ist (weil Hist. 45 mit „C“ beginnt). Zudem wird die 87. Hist. (mit „D“ als Kapitelanfangsbuchstabe) an die 45. Hist. herangezogen, da somit die geographische Ordnung besser eingehalten zu werden scheint;
g) der geographischen Anordnung folgend, stand wohl auch Hist. 44 ehemals vor Hist. 76 und nach Hist. 74;[27]
h) Hist. 88 befand sich eigentlich zwischen Hist. 21 und 22. Auf jeden Fall muss sie vor Hist. 47 gestanden haben, weil in ihr Ulenspiegel nach „Einbeck“ zurückkehrt. Zwischen den angegebenen Historien macht sie insofern Sinn, als dass sich allesamt im gleichen Milieu abspielen;
i) Hist. 75 fand wohl nach Hist. 86 am Ende der Gastwirtgeschichten Platz;
j) Hist. 71 und 17 knüpften ehemals an Hist. 75 an, da sie „nicht schlecht an das Ende der Ständeparade passen“;
k) Hist. 64 und 71 „weisen je eine für das Volksbuch ungewöhnliche Länge auf und lassen sich ohne Zwang in je zwei separate Geschichten unterteilen.“ In Hist. 64 könnte man die Zäsur bei „Nun sie volbrachten…“; in Hist. 71 bei „Vlêspiegel gedacht…“ ansetzten. „Diese beiden Anfänge würden genau den Stellen entsprechen, in die sie gesetzt sind, N und V.“;
l) falls die Trennung der beiden letzten Historien korrekt ist, ergeben sich auch die vollen sechsundneunzig Historien, die der Titel des Grüninger Druckes verspricht. Auf den ersten Blick erscheint diese Gleichung zwar falsch, da nur eine Historie (Hist. 42) fehlt, jedoch geht Honegger davon aus, dass die 96. Hist. – die Grabsteininschrift des Ulenspiegel – keine Historie im eigentlichen Sinne darstellt und insofern nicht nur eine, sondern zwei Historien fehlen, die durch die o.g. Trennungen wieder eingeführt werden.[28]

[...]


[1] Eine Übersicht darüber, wer als Autor des „Ulenspiegel“ bereits gehandelt wurde vgl. Bollenbeck, Georg, Till Eulenspiegel. Der dauerhafte Schwankheld. Zum Verhältnis von Produktions- und Rezeptionsgeschichte (= Germanistische Abhandlungen, Bd. 56), Stuttgart 1985, S. 12-18.

[2] Etwas irreführend kann der Begriff des Autors/ Verfassers hier verstanden werden, falls man ihn mit dem Begriff des geistigen Schöpfers des „Ulenspiegel“ gleichsetzt, denn der Name Vlenspeygel taucht bereits 1411 in handschriftlichen Zeugnissen im Zuge geistlicher Korrespondenz zweier norddeutscher Kleriker auf. Insofern ist der Autor hier nur Konzipient des Werkes, nicht aber der gedankliche Schöpfer.

[3] Im Folgenden auch mit „Hist.“ (für Singular und Plural) abgekürzt.

[4] Honegger, Peter, Ulenspiegel. Ein Beitrag zur Druckgeschichte und zur Verfasserfrage (= Forschungen, Verein für Niederdeutsche Sprachforschung, Neue Folge, Reihe B, Sprache und Schrifttum, Bd. 8), Neumünster 1973, S. 84.

[5] Ebd., S. 85.

[6] Siehe Anhang S. 1.

[7] Siehe Anhang S. 2.

[8] Honegger, P., Ulenspiegel. Ein Beitrag zur Druckgeschichte und zur Verfasserfrage, Neumünster 1973, S. 88.

[9] Honegger, P., Ulenspiegel, Neumünster 1973, S. 88.

[10] Vgl. Dankert, Werner, Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe, 2., Aufl., Bern/ München 1979, S. 265f.

[11] Honegger, P., Ulenspiegel, S. 88.

[12] Vgl. ebd., S. 89.

[13] Vgl. Honegger, S. 90.

[14] Ebd., S. 91.

[15] Vgl. ebd., S. 91f.

[16] Historie Historienanfang

90 „ E lend…“

91 „ R uw…“

92 „ M erke…“

93 „ A ls…“

94 „ N ach…“

95 „ B ei…“

[17] Honegger, S. 94.

[18] Ebd., S. 92.

[19] Vgl. ebd., S. 92f.

[20] Ebd., S. 94. Diese Gründe könnten sein: a) Das Fehlen der entsprechenden Holzschnittinitialen aus dem die freie Abänderung des Historienanfangs durch den Setzer erfolgte; b) die freie Orthographie zur Zeit Botes in Bezug auf Vokale und Konsonanten, die unter anderem folgende Oppositionen kannte: a/e; i/y; b/p; c/k; f/v; v/u/w sowie s/z sowie c) gewisse Anpassungsleistungen des elsässischen Druckers an die Druckersprache des Elsass.

[21] Vgl. ebd., S. 95f.

[22] Vgl. ebd., S. 96ff.

[23] Gemeint sind die Historien 47, 23, 62 und 84.

[24] Honegger, S. 100.

[25] Vgl. ebd., S. 100f.

[26] Vgl. ebd., S. 102.

[27] Außerdem unterstellt Honegger hier, dass die „schůmacheren“ der Hist. 44 eigentlich „buren“ hießen, was die vermeintlich thematische Stringenz aufrecht zu erhalten scheint.

[28] Punkte a)l) vgl. Honegger, S. 102-109.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Aufbau und Erzählstruktur des Ulenspiegel-Buches - Insbesondere in Hinblick auf die Forschungspositionen Peter Honeggers
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Germanistische Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
HpS Ulenspiegel
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
40
Katalognummer
V74240
ISBN (eBook)
9783638690140
ISBN (Buch)
9783638694995
Dateigröße
7452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aufbau, Erzählstruktur, Ulenspiegel-Buches, Insbesondere, Hinblick, Forschungspositionen, Peter, Honeggers, Ulenspiegel
Arbeit zitieren
Marc Partetzke (Autor:in), 2006, Aufbau und Erzählstruktur des Ulenspiegel-Buches - Insbesondere in Hinblick auf die Forschungspositionen Peter Honeggers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74240

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