Die Großraumtheorie von Carl Schmitt


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

32 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Recht als Einheit von Ordnung und Ortung
1.1 Die Landnahme als politischer Ur-Akt
1.2 Der Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum

2. Die Auflösung der europäischen Staats- und Völkerrechtsordnung
2.1 Die globale Raumrevolution: Der europäische Nomos der Neuzeit
2.2 Der elementare Gegensatz zwischen Land- und Seemächten
2.3 Die technologische Raumrevolution: Der europäische Nomos der Gegenwart
2.3.1 Enthegung und Entrechtlichung des Krieges
2.3.2 Der ‚Universalismus’
2.3.2.1 Die ‚Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff’
2.3.2.2 Verlust der Neutralität als friedenserhaltendes Prinzip
2.3.2.3 Vom gerechten Gegner zum totalen Feind

3. Die Großraumtheorie
3.1 Der zeitgeschichtliche Rahmen
3.2 Der Bedeutungsverlust des Staates
3.3 Der Reichsbegriff
3.3.1 Reich und Großraum
3.3.2 Völkerrechtliches Interventionsverbot für fremdräumige Mächte
3.4 Der Volksbegriff
3.5 Abschließende Bemerkungen
3.5.1 Der paradoxe Effekt der Reichsordnung
3.5.2 Die NS-Rezeption der Großraumtheorie

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Es gibt nicht viele Denker, die auch noch viele Jahre nach ihrem Ableben eine derart kontroverse Diskussion erzeugen können wie Carl Schmitt es tut. Kaum eine andere Gestalt des deutschen Geisteslebens des 20. Jh. hat durch ihre Ambivalenz ein derart breites Spektrum an Urteilen provoziert: Während einige Schmitt als linientreuen Nazi-Vordenker oder zumindest gnadenlosen Opportunisten sahen, betrachteten andere ihn als originellen Kopf, der sich nicht dafür hingeben wollte, dem ausgetrampelten Pfad des Meinungs-Mainstreams bedingungslos zu folgen.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einer Schrift Carl Schmitts, die in der wissenschaftlichen Publikation nach dem II. Weltkrieg nur noch verhältnismäßig wenig Beachtung fand: Die „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht“ aus dem Jahre 1939.[1] Die ‚Völkerrechtliche Großraumordnung’ erfreute sich in der kurzen Periode zwischen 1939 und circa 1943/44, in der ihre Aktualität reell und ihre Thesen mehr als nur eine Fingerübung eines Stubengelehrten erschienen, einer breiten Rezeption nicht nur in der nationalsozialistischen Propagandaliteratur, sondern auch im angelsächsischen Ausland, wenn auch dort unter ebendiesen Vorzeichen. Schmitt selbst hat nach dem Wissensstand des Autors nach 1945 jede direkte Stellungnahme zu seiner Schrift vermieden. Nicht jedoch hat in den Nachkriegsjahren seine Beschäftigung mit dem tieferen Thema seiner Arbeit aufgehört, nämlich der engen Wechselbeziehung zwischen Recht und Raum, wovon eine breite Bibliographie kündet, die freilich im beschränkten Rahmen dieser Arbeit nur ansatzweise fruchtbar gemacht wird.

Im Zentrum meiner Arbeit steht die Frage, was Schmitts Großraumtheorie im einzelnen ausmacht, welche neuen Elemente in das Völkerrecht einfließen, welche herkömmlichen Begrifflichkeiten ersetzt werden sollen und welche Entwicklungen überhaupt ein neues Völkerrecht notwendig machen.

Zunächst aber werde ich im ersten Kapitel versuchen, Schmitts Grundlegung einer Rechts- und Raumordnung nachzuzeichnen. Die hier gesammelten Erkenntnisse sollen als Basis für das weitere Verständnis der eigentlichen Großraumtheorie dienen und haben nicht zuletzt den Zweck, einen ersten Einblick in Schmitts Denken zu gewinnen.

Im zweiten Kapitel beschäftige ich mich mit den komplexen Ursachen, die nach Schmitts Auffassung eine Neufassung des bestehenden Völkerrechts notwendig machen, namentlich den sogenannten Raumrevolutionen und den verschiedenen Kräften, die den Zerfall der überbrachten europäischen Staats- und Völkerrechtsordnung bewirkt haben.

Im dritten und letzten Kapitel befasse ich mich mit der eigentlichen Großraumtheorie. Hierbei soll es nicht nur um die Frage gehen, was die Theorie an Neuem zu bieten hat, sondern ebenso was sie an Altem ersetzen soll. In Kapitel 3.5 sollen abschließende Bemerkungen in bezug auf Anspruch und Wirklichkeit der Großraumtheorie das nachfolgende Fazit vorbereiten helfen.

Insgesamt liegt der Schwerpunkt der Arbeit in erster Linie auf der ideengeschichtlichen Substanz und weniger auf den Zusammenhang mit den parallelen zeitgeschichtlichen Ereignissen, wobei der historische Hintergrund natürlich immer dann mitberücksichtigt wird, wenn er sich für die Erklärung der Theorie als unabdingbar erweist. Auf die rege nationalsozialistische Rezeption des Reichsbegriffs wird nur insofern eingegangen, als daß sie einen Beitrag zur ideologischen Positionierung von Carl Schmitt leisten kann.

1. Recht als Einheit von Ordnung und Ortung

Carl Schmitt denkt in seiner Rechtsphilosophie den Rechtsbegriff stark vom Raum her. Beide Kategorien, also das Recht als Ordnungsprinzip auf der einen Seite und der Raum als Ordnungskategorie auf der anderen, fließen in seinem Denken zusammen zu einer gemeinsamen Begriffswelt. Für Schmitt ist klar, daß das Konzept des Rechts nur dann hinreichend begriffen werden kann, wenn man es mit dem Phänomen des Raums zusammenbetrachtet, denn Recht, das bedeutet für ihn nichts anderes als die ‚Einheit von Ordnung und Ortung‘.

1.1 Die Landnahme als politischer Ur-Akt

Schmitt faßt von allen drei Sphären das feste Land als die eigentliche „Mutter des Rechts“ auf; das Recht sei seiner Natur nach „erdhaft und auf die Erde bezogen“,[2] weil nur dort eine wahre Verortung stattfinden könne. Historisch vollziehe sich diese Verortung, indem eine Gruppe von bislang umherstreifenden Menschen sesshaft würde und feste Wohnsitze beziehe. Diese Wohnsitznahme stellt für Schmitt den zentralen rechtsbegründenden Ur-Akt für jede politische Gemeinschaft dar, bei dem „die raumhafte Anfangsordnung, der Ursprung aller weiteren konkreten Ordnung und allen weiteren Rechts“ festgelegt werde.[3] Die Landnahme besäße einen „kategorialen Charakter“ und schüfe als „Ur-Typus eines konstituierenden Rechtsvorgangs“ den „radikalsten Rechtstitel, den es überhaupt gibt, den radical title[4] im vollen und umfassenden Sinne des Wortes“.[5] Dabei beharrt der Jurist Schmitt darauf, daß sich bei der Landnahme in jedem Falle und ganz unabhängig von ihrer konkreten historischen Ausformung stets „eine Art Obereigentum der Gemeinschaft“ etablieren würde.[6] Verweilen wir einen Augenblick bei dieser Behauptung – wird hier nicht bereits von Anfang an eine Art Vorrangstellung der Gesamtheit vor dem einzelnen deklariert mit all ihren Implikationen für die politische Verfaßtheit des Gemeinwesens?

1.2 Der Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum

Wie begründet Schmitt also seine These? Zunächst einmal fällt auf, daß er in seiner Rechts- und Raumtheorie dem Akt der Landbesitzergreifung einen verblüffend ähnlichen Rang zuweist, wie es etwa die Kontraktualisten in ihrer Lehre mit dem Gesellschaftsvertrag getan haben: So wie die Vertragstheoretiker den Übergang vom Natur- in den Gesellschaftszustand als ein konstituierendes Moment für die darauf aufbauende (monarchische) Herrschaftsordnung definierten, so geht es auch dem deutschen Rechtswissenschaftler bei seinem politischen Ur-Stiftungsakt um einen unanfechtbaren theoretischen Ausgangspunkt, von dem sich alle weitere Gesellschaftsordnung ableiten läßt, nur diesmal eben unter dem Vorzeichen der Kollektivität.

Und wie die Vertragstheoretiker ihren politischen Ur-Akt will auch Schmitt seinen nicht nur als historische Tatsache, sondern mehr noch als logische Denknotwendigkeit interpretiert wissen (und damit als das eigentlich ‚höhere’, weil zeitlose Argument!). Dies wird aus seiner Begründung ersichtlich: So argumentiert er, daß rechtstheoretisch selbst dann von einem gemeinschaftlichen Ur-Akt auszugehen sei, wenn im Zuge einer rein individualistischen Landergreifung jeder Neusiedler auf eigene Faust vorgehen und sich Land und Besitz aneignen würde, da sich auch dieser Prozess letztlich im Rahmen des größeren, kollektiven Landnahmevorgangs der Gemeinschaft vollzogen habe und durch diesen seine Absicherung erführe.[7] Und in den Außenbeziehungen seiner Gruppe zu anderen landbesitzenden Mächten müsse der einzelne sowieso hinter das Kollektiv zurücktreten, da hier die Gruppe den Konkurrenten gegenüber als geschlossene Einheit aufzutreten pflege.[8]

Insgesamt also stellt Schmitts Theorie bereits in ihrer Grundlegung stark auf die Gemeinschaft und den Vorrang des Kollektivs vor dem einzelnen ab, aber es stellt sich die Frage, ob der gemeinschaftliche Charakter der Landnahme - und damit auch die davon abgeleiteten gesellschaftlichen Implikationen - für die Bestimmung des politischen Verhältnisses zwischen Individuum und Kollektiv wirklich so logisch zwingend und denknotwendig ist, wie Schmitt selbst es darstellt. Das Problem liegt meines Erachtens in dem Landnahmeakt selbst verborgen. Betrachten wir den Extremfall einer ausschließlich individualistischen Besitznahme, wie er oben angesprochen wurde: Schmitt sah selbst bei diesem Szenario ein Obereigentum der Gemeinschaft gewahrt, weil er die Landaneignung des einzelnen im größeren Kontext der Landnahme der gesamten Gruppe betrachtete. Für ihn war die Gemeinschaft zuerst da und alles was danach folgte, also die Schaffung von Privateigentum durch Privatpersonen auf dem Wege der privaten Landaneignung, konnte den bereits geschaffenen, weil zeitlich vorausgehenden Rechtsanspruch der Gemeinschaft nicht mehr auflösen. Folgt man aber Schmitts eigener Theorie, daß Recht an sich überhaupt erst durch seine Verortung möglich wird, darf natürlich auch keine Rede von irgendeinem vorgeschalteten Rechtstitel sein, der noch aus einer Zeit herrührte, als die Gruppe umherwanderte und noch keine festen Wohnsitze bezogen hatte. Vielmehr wurde die politische Gemeinschaft und damit auch das Recht selbst erst durch die Landnahme etabliert und wenn sich diese Landnahme mitunter rein privatistisch vollzog, läßt dies systemimmanent gedacht keinerlei Raum für einen kollektiven radical title, wie ihn Schmitt postuliert hat, denn das Individuum war vor dem Kollektiv da und die Gemeinschaft konstituierte sich erst, während und indem sich die einzelnen Privatpersonen ansiedelten.

Damit läßt sich auch Schmitts These nicht länger aufrecht halten, daß überall auf der Welt alle weiteren, abgeleiteten „Besitz- und Eigentumsverhältnisse, wie Gemeinschafts- oder Individualeigentum, öffentlich- oder privatrechtliche, sozial- und völkerrechtliche Besitz- und Nutzungsformen“ in letzter Instanz aus ein und derselben Legitimationsquelle, also dem kollektiven Gründungsakt, abgeleitet werden müssen. Angesichts der Vielfalt historischer Gründungsakte läßt sich eben kein gemeinsames Urprinzip konstatieren, das für alle und jede Gemeinschaft gelten soll; vielmehr zeigt sich, daß die Ordnung der menschlichen Gemeinschaft in dem gleichen Maße kontingent ist wie die Ortung, auf der sie beruht.

[...]


[1] Dieser Arbeit liegt der unveränderte Nachdruck der 4. Auflage von 1941 (Berlin) zugrunde.

[2] Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1950, S.13

[3] Ebd., S.19

[4] Schmitt schreibt den Ausdruck im Original kursiv.

[5] Schmitt, Carl, 1950, S.17

[6] Ebd., S.16

[7] Vgl. Schmitt, Carl, 1950, S.16

Ein historisches Beispiel wäre etwa die Kolonisation des ‚Wilden Westens‘ durch weiße Siedler, die zwar als Privatpersonen auf eigene Initiative und eigenes Risiko nach Westen zogen, aber gleichwohl unter einem lockeren, übergeordneten Schutze der Vereinigten Staaten standen, ohne den eine erfolgreiche Okkupation des neuen Lebensraums gegen den Widerstand der einheimischen Indianerstämme wohl gar nicht erst möglich gewesen wäre. Deswegen ist – nach Schmitts Denkungsart – die Inbesitznahme der neuen Territorien durch die USA völkerrechtlich gerechtfertigt, auch wenn Washington am eigentlichen Landergreifungsprozess gar nicht teilgenommen hatte.

[8] Vgl. Schmitt, Carl, 1950, S.16f.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Die Großraumtheorie von Carl Schmitt
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Vorstellungen vom sozialen Raum in der politischen Theorie und politischen Psychologie
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
32
Katalognummer
V74286
ISBN (eBook)
9783638690409
ISBN (Buch)
9783638712132
Dateigröße
499 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Großraumtheorie, Carl, Schmitt, Vorstellungen, Raum, Theorie, Psychologie
Arbeit zitieren
Holger Michiels (Autor:in), 2004, Die Großraumtheorie von Carl Schmitt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74286

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