Beschreibung psychosomatischer Essstörungen und Diskussion deren disponierender Faktoren in der deutschen Fachliteratur


Hausarbeit, 2001

42 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Normales Essverhalten und Essstörung
1.1 Normenwandel beim Umgang mit Nahrung
1.2 Normales Essverhalten versus Essstörung
1.3 Zusammenhang zwischen Essstörung und Sucht

2 Einteilung psychosomatischer Essstörungen
2.1 Anorexia nervosa
2.2 Bulimia nervosa
2.3 Eßsucht
2.3.1 Manifeste Adipositas als Folge von Esssucht
2.3.2 Latente Esssucht = latente Adipositas
2.4 Atypische Essstörungen und Übergangsformen

3 Ursachen zur Entstehung einer Essstörung
3.1 Bio-medizinische Ansätze
3.2 Soziokulturelle Faktoren
3.3 Familiäre Faktoren
3.3.1 Allgemeine Beziehungen innerhalb der Familie
3.3.2 Erklärungsansätze der pathogenen Familienstrukturen
3.4 Individuelle und persönlichkeitsspezifische Faktoren

Schlußwort

Literaturverzeichnis

Anlage

Einleitung

Essen ist für den Menschen zunächst das Natürlichste und Selbstverständlichste im Leben. Essen ist notwendig, um sich am Leben zu erhalten, um zu wachsen und um leistungsfähig zu sein. Der Begriff „Lebensmittel“ unterstreicht diese Bedeutung: Lebensmittel sind die Grundlage zur Erhaltung des Lebens. Dennoch gibt es Menschen, die nicht in der Lage sind, diese Lebensmittel als solche zu nutzen, einige müssen Unmengen von Lebensmitteln aufnehmen, andere verweigern deren Aufnahme, noch andere essen zunächst und erbrechen anschließend. Diese Symptome sind im allgemeinen bekannt, nicht zuletzt weil sie auch in den Medien zum Thema gemacht werden. Man spricht in diesem Zusammenhang von Esssucht, Magersucht und von Bulimie. Es wird zwar darüber gesprochen, dennoch fehlt es am Verständnis für die Erkrankung „Essstörung“. Es werden Diäten empfohlen oder Diäten angegriffen und die gesellschaftliche Einstellung zu dieser Problematik beschränkt sich mehr oder weniger auf den Leitsatz: `Dicke sollen weniger essen! Dünne sollen mehr essen!`.

„Nach wie vor ist das Missverständnis, Essprobleme seien gleichbedeutend mit Gewichtsproblemen, weit verbreitet. Deshalb stoßen besonders Normalgewichtige, die unter süchtigem Verhalten leiden, auf Unverständnis und haben es schwer, ihre Probleme anzusprechen. Umgekehrt erhalten `Dicke` oft ungebeten wohlgemeinte Diätratschläge, an die Mageren geht der Appell, doch zur Einsicht zu kommen und sich ausreichend zu ernähren. Mit solchen `Hilfen` aber können die Betroffenen ebenso wenig anfangen wie ein Nichtschwimmer mit dem Rat zu schwimmen.“ (Mader 1991, S.7).

In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Häufigkeit der psychosomatischen Essstörungen, insbesondere der Magersucht und Bulimie, enorm angestiegen. Betroffen sind vor allem junge Mädchen im Alter von 13 und 25 Jahren (vgl. Gerlinghoff, Backmund, Mai 1999, Pierro 1995) aber es gibt auch zunehmend Jungen und Männer, welche an einer Essstörung leiden. Die geschlechtsspezifische Relation beträgt dabei ungefähr 12 zu 1, wie in der letzten Fachtagung zum Thema Essstörungen von der Landesstelle gegen Suchtgefahren Mecklenburg-Vorpommern e.V. festgestellt wurde, wobei exaktere epidemiologische Studien ganzer Bevölkerungsgruppen bislang noch fehlen. Insgesamt handelte es sich bei den Erkrankten in etwa 90 bis 95% um Frauen (Pierro 1995). Die Krankheit Bulimie betrifft etwa 2 – 4 % der weiblichen Gesamtbevölkerung zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr, die Häufigkeit der Magersucht ist ähnlich hoch (vgl. Landesstelle gegen Suchtgefahren M.-V., 1998, Mucha, Hoffmann 1998). In der EBIS-Jahresstatistik 1996 wurde festgestellt, dass beim weiblichen Klientel der Neuzugänge die Essstörungen an dritter Stelle der Hauptdiagnosen stehen. Diese Ergebnisse basieren auf Angaben von insgesamt 460 ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen für Suchtkranke in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Appel 1998). Vielfach werden Betroffene nicht als krank angesehen und demzufolge ergeben sich oftmals schwerwiegende Missverständnisse zwischen den Betroffenen und deren sozialem Umfeld (Eltern, Schule, Freunde). Die falsche Behandlung der Betroffenen und unpassende Bemerkungen erschweren die Erkennung, die Wahrnehmung und die Akzeptanz der Krankheit. Folglich wird es für die Essgestörten immer schwerer, sich zu behaupten und den Mut zu finden, um nach Hilfe zu suchen. Werden die Ursachen der Essstörung nicht erkannt und behoben, wird die Krankheit sich immer weiter fortsetzen, und dies kann zu schweren körperlichen und seelischen Komplikationen führen. Das Anliegen dieser Arbeit ist, die Formen psychosomatischer Essstörungen zu charakterisieren, um ein Verständnis für den Inhalt der Begrifflichkeiten zu erhalten. Weiterhin werden die Ursachen für die Entstehung diskutiert. Denn nach Ansicht der Autoren sind diese Erkenntnisse eine der wesentlichen Grundlagen für einen adäquaten Umgang mit den Betroffenen.

Das Krankheitsgeschehen von Essstörungen ist so komplex und vieldimensional zu betrachten, dass es schwerfällt, alle Betrachtungsweisen zu berücksichtigen. Aus diesem Grund müssen die Autoren sich im Rahmen dieser Arbeit auf die Beschreibung der wesentlichsten Aspekte beschränken, um diese in der notwendigen Ausführlichkeit bearbeiten zu können (Es wurde vorangig deutsche Fachliteratur recherchiert).

Bei allen Ausführungen beschränken sich die Autoren im wesentlichen auf weibliche Betroffene, da die weitaus überwiegende Zahl der Betroffenen weiblichen Geschlechts sind, und es über männliche Essgestörte bislang in der Literatur kaum gesondert auswertbare Angaben gibt.

1 Normales Essverhalten und Essstörung

1.1 Normenwandel beim Umgang mit Nahrung

Für `normales[1] Essverhalten` ist festzustellen, dass es heute kaum noch möglich ist, eine Norm zu definieren. Der Umgang mit Nahrung hat sich in den letzten Jahrzehnten auf Grund verschiedener Entwicklungstendenzen verändert. Als Ursachen dafür sind verschiedene Aspekte erkennbar, von denen zunächst die Verfügbarkeit von Nahrung zu nennen wäre. Im Zuge der Industrialisierung ist die Versorgung der Bevölkerung regelmäßiger geworden. Die Ernährung war nicht mehr ausschließlich von jahreszeitlichen, regionalen oder sozialen Einflüssen bestimmt. Durch verbesserte Transportmöglichkeiten und Konservierungsmethoden steht Nahrung immer und überall in ausreichenden Mengen zur Verfügung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten Probleme wie Unterernährung weitgehend gelöst werden. Da auch die körperliche Belastung infolge der Industrialisierung sank, verringerte sich gleichzeitig der individuelle Energiebedarf. „Ab ca. 1950 kann schließlich von einer Situation des Überflusses gesprochen werden, in der die individuelle Wahl von Nahrungsmitteln nicht mehr allein durch ökonomische Gesichtspunkte bestimmt wird.“ (Janssen, Senf, Meermann 1997, S.3).

Auch ist in dieser Zeit die Versorgung qualitativ verbessert worden. Die Zusammensetzung tendierte mehr zu fettreicher und kohlenhydratarmer Kost. Der Konsum von Zucker bildet dabei eine Ausnahme, denn dieser ist gestiegen und stagniert erst seit kurzer Zeit. Daraus folgt, die energiereicheren Nahrungsmittel standen in ausreichender Menge zur Verfügung. „Mitte des 19. Jahrhunderts setzte ein Prozess ein, der hundert Jahre später seinen Höhepunkt erreichte, in dessen Verlauf Nahrungsmittel in immer größerer Quantität und breiterer Qualität zur Verfügung standen, und Hunger als Problem für die große Mehrheit der westeuropäischen Bevölkerung in den Hintergrund trat.“ (Jansen, Senf, Meermann 1997, S.3).

Als ein weiterer Aspekt für diese Entwicklung ist die De-Ritualisierung der Nahrungsaufnahme anzuführen. Im Ursprung diente die Nahrungsaufnahme der Erhaltung des Lebens, sie stillt den Hunger und den Durst. Der Vorgang der Nahrungsaufnahme wurde durch kulturelle Einflüsse geformt und zivilisiert. Es entstanden regulierende Normen, die sich im Laufe der Zeit entwickelten. Der französische Soziologe Claude Fischler (1990) spricht in diesem Zusammenhang von einem Verfall der Normen, welche das Essen regulieren und er definiert dies mit dem Begriff der modernen Gastroanomie.

Diesen Verfall der Normen zeigt er anhand der Entwicklung der Institution Mahlzeit: Früher war die Mahlzeit ein Ereignis, zu dem die Familie sich zusammenfand, wobei die Zeiten festgelegt waren und das Essen fast einem Ritual gleichte. Die Personen hatten eine festgelegte Sitzordnung, sorgten für Reinheit und ein angemessenes Erscheinungsbild. Selbst die Reihenfolge des Sich-Bedienens bzw. Bedient-Werdens war festgelegt, sowie die Art der Behandlung der Nahrung, die Art der Behandlung der anderen Teilnehmer, die Wahl des Gesprächsthemas bei Tisch... . Die Wahl, die Kombination und die Zubereitung der Nahrungsmittel wird besprochen und unterliegt bestimmten Regeln. Sicher stellte diese hochritualisierte Form der Mahlzeit nicht für alle Familien die Realität dar. Ansatzweise gab es in sozialschwachen Familien diese Form der Mahlzeit jedoch auch, nämlich insofern sich die Familienmitglieder zu festen Zeiten an festen Orten zusammenfanden, um die Mahlzeiten in gesitteter Form einzunehmen. Der Verfall dieser Rituale kristallisierte sich mit zunehmender Industrialisierung heraus. Die französische Ethnologin Bruneton-Governatori fasste die wichtigsten Tendenzen der Ernährungsgewohnheiten zusammen. Aus Interviews, welche sie mit alten Menschen führte, in denen sie die Probanden zu ihrer Wahrnehmung der Veränderung der Eßgewohnheiten befragte, ließen sich folgende Kernaussagen herausarbeiten:

- ein Verschwinden des dem Essen einstmals gezollten Respekts; Nahrungsmittel sind leichter zugänglich und werden leichter weggeworfen;
- ein Zurücktreten der ökonomischen Determinanten hinter anderen; die Nahrungszubereitung hat sich aus der Logik der Ökonomie des „ganzen Hauses“ gelöst, so dienten Holz- und Kohlenfeuerung beispielsweise zugleich der Beheizung des Hauses wie der Essenszubereitung, und entsprechend überwog das langsame Kochen von Kartoffeln, Hülsenfrüchten und Kohl.
- Ebenso hat sich die Ernährung von den Fesseln sozialer Bestimmungen gelöst, von den Nahrungsbegrenzungen nach sozialem Stand, Alter und Geschlecht, von Wochenrhythmen, religiösen Bestimmungen und regionalen Gepflogenheiten;
- Schließlich ist als Motiv der Nahrungsaufnahme das Bedürfnis, sich zu ernähren, anderen Motiven wie denen der Schönheit und Gesundheit gewichen.

(vgl. Janssen, Senf, Meermann 1997)

Zusammenfassend stellten die Autoren fest, dass die Deritualisierung der Nahrungsaufnahme mit der industriellen, kulturellen und sozialstrukturellen Entwicklung im Zusammenhang steht. Da die Moderne Gesellschaft mobile und flexible Menschen fordert, ist die Tendenz der Ernährung logisch nachvollziehbar. Der Fortschritt lässt die uneingeschränkte Nahrungsaufnahme zu – die uneingeschränkte Nahrungsaufnahme gibt mehr Raum für den weiteren Fortschritt, da mehr Flexibilität, Mobilität und Individualisierung möglich ist. „Fischler resümiert die Bedeutung der Tendenz zur Gastroanomie für die Entstehung moderner Essstörungen folgendermaßen: Sie entlasse die Menschen in eine Freiheit der individuellen Wahl der Nahrung und des Umgangs mit ihr, eine Freiheit, die letztlich Desorientierung und Hilflosigkeit produziere. Der Schritt zu Magersucht und Bulimie als dekulturierte Varianten der Nahrungsaufnahme sei dann nicht mehr weit.“ (Janssen, Senf, Meermann 1997, S.4)

Zu der De-Ritualisierung der Nahrungsaufnahme kommt noch ein dritter Aspekt hinzu, der die eben genannten Entwicklungstendenzen verstärkt: die Entstehung neuartiger Normen der Nahrungsaufnahme. Das Essen heute unterliegt neuen Motiven. Der Mensch ist weniger gezwungen, seine Nahrungsaufnahme an Normen zu binden, die durch Mangel an Nahrungsmitteln und Hunger oder durch Tradition und Ritual entstehen. Vielmehr wird das Essen von neuen Normen bestimmt, wie z.B. das Stärken der Gesundheit, das Erzielen eines Aussehens, welches dem modischen Ideal entspricht, die Haut zu pflegen, Arteriosklerose vorzubeugen. Weiterhin wird nicht mehr ausschließlich gegessen, um den Hunger zu stillen, sondern beispielsweise um Spaß zu haben, sich zu trösten, sich zu belohnen oder aus Langeweile. Das Essen ist hauptsächlich auf Leistungsfähigkeit, Gesundheit und das körperliche Erscheinungsbild ausgerichtet, wobei die Körperform den wesentlichsten Anteil einnimmt. Das heutige Schlankheitsideal ist zwar historisch gesehen nicht einmalig (in der Gotik z.B. gab es ebenfalls einen schlanken Körper als ideales Maß), jedoch war damals die Form der Verwirklichung eine andere. Der wichtigste Unterschied liegt darin, dass früher die angestrebte Körperform mit Hilfe von einfachen Mitteln erreicht wurde, welche eine oberflächliche, kurzfristige Wirkung hatten. Als Beispiel ist hier das Korsett zu nennen, dass den bekleideten Körper in seiner Erscheinungsform manipulierte. Die neue Kulturtechnik des Diäthaltens zielt auf Veränderungen des Körpergewichts und ist nur durch langfristige Selbstkontrolle realisierbar. Das Ergebnis ist die Formung des nackten Körpers. Diese Tendenz entwickelte sich zuerst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das Übergewicht als medizinische Krankheit bekannt wurde (vgl. Janssen, Senf, Meermann 1997). Man darf demzufolge nicht die These der Gastroanomie von Claude Fischler pauschal akzeptieren. Die Veränderungen der Nahrungsaufnahme beschreiben wir nicht als Normverfall, sondern besser nach der Theorie von Norbert Elias als qualitative Veränderung der Normen (vgl. Janssen, Senf, Meermann 1997).

1.2 Normales Essverhalten versus Essstörung

Wie bereits erwähnt, gibt es die Regelmäßigkeit der Mahlzeiten (morgens, mittags, abends) nicht mehr in der einst ausgeprägten Form. Die Nahrungsaufnahme unterliegt im Alltag oftmals großen Schwankungen. Zum einen ist dies mit Gegebenheiten von Arbeits-, Schul-, oder Studiumssituationen zu erklären. Gegessen wird, wenn Zeit dafür ist oder man begnügt sich mit Kleinigkeiten zwischendurch, die meist den Kalorienbedarf decken, jedoch weniger ein anhaltendes Sättigungsgefühl erreichen. Am Abend wird dann der Hunger wach und die großen Mahlzeiten werden demzufolge auf diese Tageszeit verlegt. Die Art der angebotenen Nahrung, besteht zu großen Anteilen aus „Fast Food“, „Minutensuppen“, Fertiggerichten... . Da diese Dinge schnell greifbar bzw. schnell zubereitet sind, werden sie häufig, insbesondere von jungen Leuten, bevorzugt. Das Verzehren von Süßigkeiten und Knabbereien wird zusätzlich noch durch gezielte Werbung forciert. Das Essen wird in vielerlei Hinsicht missbraucht. Es wird oftmals aus Appetit, Frustration, Spaß, Langeweile, Lust, Ärger gegessen, wobei nicht über die Zusammensetzung der Nahrung nachgedacht wird. Erst wenn sich die Folgen wie Unwohlsein und Übergewicht bemerkbar machen, werden sich einige ihres Missverhaltens bewusst und greifen zu regulierenden Maßnahmen wie z.B. Diäten (vgl. Gerlinghoff, Backmund 1999, Mucha, Hoffman 1999, Pudel Westenhöfer 1998).

„Feste Zeiten werden am ehesten noch in Krankenhäusern oder Seniorenheimen eingehalten. Die meisten Menschen essen zu viel, zu schnell, zur falschen Zeit und bei besonderen Anlässen übermäßig. Nach üppigen Feiertagen gilt es zu fasten, im Frühjahr steht eine Fastenkur an, und nach einem zu reichlichem Festmahl wird schon einmal der Finger in den Hals gesteckt, um sich zu erleichtern. Das Fazit ist: Wir haben alle ein gestörtes Essverhalten. Dieses Essverhalten kann unbekömmlich sein, ungesund und Beschwerden verursachen; trotzdem verstehen wir es nicht als krankhaft, als pathologisch. Selbst Fachleute müssen zugeben: Die Übergänge sind fließend.“ (Gerlinghoff, Backmund 1999, S. 11).

Auch S. Mucha und K. Hoffmann vertreten die Meinung, dass die Grenzen zwischen einer Essstörung und gesundem Essverhalten fließend sind. „Beispielsweise gehört das Kalorienzählen in unserer Gesellschaft leider zum Alltag, gleichzeitig würde man bei jemandem, der bei einem gutem Essen oder bei einem Büfette so „richtig zuschlägt“, nicht auf die Idee kommen, von einer Essstörung zu sprechen. Es handelt sich dabei um gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten – jeder versteht zunächst, wenn jemand „ein paar Kilo abnehmen“ möchte, genauso wird es aber auch akzeptiert, zu besonderen Anlässen „über die Stränge zu schlagen“. (Mucha, Hoffmann 1998, S. 12)

Ein Widerspruch liegt darin, dass es heutzutage mehr Aufklärung über Ernährung gibt, als in den Jahren, in denen es weniger Essstörungen gab. Ernährungswissenschaftler sorgen dafür, dass die Informationen an die Bevölkerung herangetragen werden. In Arztpraxen, in Krankenhäusern, in Krankenkassen, teilweise sogar in Schulen findet man Prospekte, in denen über eine optimale Ernährung geschrieben wird. Es werden von den Krankenkassen Kurse und Vorträge angeboten, die auch besucht werden. Jeder Durchschnittsbürger könnte, aufgrund des breiten Nahrungsmittelangebotes eine ideale Ernährung realisieren und auch finanzieren. Gleichzeitig breitet sich aber eine Unsicherheit über Ernährung aus, es steigt die Zahl an Übergewichtigen, Magersüchtigen und Bulimiekranken an. „Die Ernährungswissenschaft weiß heute besser denn je, wie sich ein Mensch ernähren muß. Die Voraussetzungen in Form eines breiten, vielgestaltigen Lebensmittelangebotes von guter Qualität und hoher Sicherheit sind ebenfalls besser als zu allen Zeiten, in denen die Menschen lebten. Und dennoch wird beobachtet: Der Mensch isst anders, als er sich ernähren sollte“ (Pudel, Westenhöfer 1998, S. 13).

Die Probleme im Essverhalten entstehen aus den Widersprüchen zwischen den Ernährungsinformationen durch Ernährungswissenschaftler, Ärzte, Sportler, Werbung oder Packungsaufschriften der Lebensmittel. Auf der anderen Seite wird für süße und fettige Lebensmittel geworben, und diese stehen in breiter Palette kostengünstig zur Verfügung. Die Werbung regt uns dazu an, bestimmte Produkte zu kaufen. Man lockt mit Begriffen wie „light“, mit bunten und (appetit)anregenden Bildern, gesunden Inhaltstoffen sowie mit schlanken, attraktiven und lebenslustigen Darstellern, die den Verbraucher glauben lassen, dass man das Wohlbefinden durch diese Produkte tatsächlich steigern kann. Der Widerspruch zwischen Empfehlung bzw. Wissen über Gesunderhaltung des Körpers, dem übertriebenen Schlankheitsideal und dem gegenüberstehenden riesigen Warenangebot führt gehäuft zu unnatürlichem Essverhalten (vgl. Westenhöfer 1991).

Die Ursache für diese Widersprüchlichkeit liegt darin, dass das Essen nicht gleichzusetzen ist mit Ernährung. Sich ernähren bedeutet soviel wie „bewusste Nahrungsaufnahme“. Sie geht demzufolge mit kognitiv – rationalen Prozessen einher, welche durch das Ziel, eine gute Gesundheit zu bewirken, gesteuert werden.

Mit dem Begriff Essen wird jedoch die Gesamtheit der Wahrnehmungen während und nach der Mahlzeit eingeschlossen. Dabei spielen emotionale Komponenten wie Lust, Genuß, Trauer, Frustration, Geselligkeit eine wesentlichere Rolle (vgl. Pudel, Westenhöfer 1991). Daraus schlussfolgern wir, dass das tatsächliche Essverhalten weitaus mehr von psychischen Aspekten gesteuert wird, als von dem Wissen und der Vernunft. Das Ernährungsverhalten ist vielmehr von emotionalen Faktoren beeinflussbar. „Gegenüber kognitiven Argumenten und Informationen allerdings, die auf Gesundheit abheben, scheint das menschliche Ernährungsverhalten eher resistent zu sein.“ (Pudel, Westenhöfer 1991, S. 18).

Aber wo finden wir nun die Grenzen zwischen normalem Essverhalten und einer psychosomatischen

Essstörung ?

Essen und Trinken sind notwendig, um das Leben zu erhalten, es sind im wahrsten Sinne des Wortes Lebensmittel. Zugleich spielen Essen und Trinken aber auch eine große Rolle als Genussmittel, unser Geschmacks- und Geruchssinn machen sie dazu. Von Geburt an ist essen untrennbar mit frühen emotionalen und sozialen Erfahrungen verbunden. Schon Säuglinge erfahren, dass Essen viel mehr als reine Nahrungsaufnahme ist, denn Stillen bedeutet zusätzlich einen innigsten Kontakt zur Mutter. Weiterhin erleben Kinder häufig, dass Gaben von Süßigkeiten oder ihr Entzug gleichbedeutend sind mit Belohnung oder Bestrafung. Man erlernt bis zum Erwachsenenalter, dass das Essen eine Vielzahl von Gefühlen und Stimmungen auszudrücken vermag oder verschaffen kann. Somit reagieren viele Menschen auf Gefühle und Stimmungen durch verändertes Essverhalten. Außerdem spielt Essen eine wichtige Rolle in der Kommunikation. Bei Festen wird gemeinsam gegessen, um Verbundenheit und Geselligkeit auszudrücken, um die Gäste willkommen zu heißen. Im Christentum hat das gemeinsame Mahl eine zentrale Bedeutung, und zu besonderen Anlässen lässt man sich in Restaurants bedienen und verwöhnen. Allein wird gegessen, nicht selten aus Kummer, mit der Folge, dass sogenannter „Kummerspeck“ sichtbar wird. Andere hingegen reagieren mit Nahrungsverweigerung, weil ihnen „etwas auf den Magen schlägt“. Der Magen ist das Organ, dass am empfindlichsten auf seelische Nöte reagiert, demzufolge sind unsere Verhaltensweisen auf physiologischer und psychischer Ebene begründbar. Zusätzlich spielen bei der Ausbildung eines individuellen Essverhaltens gesellschaftliche und familiäre Bedingungen eine Rolle, sowie persönliche Einstellungen und Neigungen (Mader 1991). Solange das Essen als relativ normaler Vorgang betrachtet wird, solange die Gedanken an Essen, Ernährung und Figur keinen übermäßigen Raum in Anspruch nehmen, solange nicht andere Probleme über das Essen kompensiert werden müssen, kann man von einem normalem Essverhalten sprechen. Wobei ein normales Essverhalten in diesem Sinne noch keine gesunde Ernährung darstellen muß, denn die Zusammensetzung betrachten wir hierbei zunächst nicht, da wir nur die psychische Essstörung abgrenzen wollen.

Von psychischen Essstörungen kann man ausgehen, wenn die Nahrungsmittel als Drogen missbraucht werden. Hier erfolgt ein maßloser Konsum oder eine maßlose Verweigerung. Die verschiedenen Formen der Essstörungen haben viele Gemeinsamkeiten. Das Leben dreht sich zwanghaft um das Essen bzw. um das Nicht – Essen. Unbeschwertes Genießen, gesunder Appetit, echter Hunger sind für Essgestörte fremd. Essen erzeugt Scham und Schuldgefühle, die Angst zuzunehmen und die Empfindung zu versagen. Nicht – Essen erzeugt Gefühle wie Stolz, Unabhängigkeit und Macht. Die Betroffenen denken nahezu pausenlos darüber nach, was sie essen oder nicht, was sie gegessen haben oder nicht und wie sie die Folgen beseitigen können. Weitere typische Gemeinsamkeiten liegen darin, dass eine regelmäßige Gewichtskontrolle erfolgen muß, selbst ein Zielgewicht festgelegt wird oder eine panische Angst vor der Waage entsteht, aus Angst vor dem Gewicht. „Essstörung ist keine Ernährungsstörung. Sicherlich ernähren sich viele Essgestörte falsch. Doch das ist nicht ein Mangel an Wissen über gesunde Ernährung. Besonders bei Magersüchtigen und Bulimikerinnen sind sehr detailierte Kenntnisse über Kalorien, Nährwerte etc. vorhanden. Und welcher Esssüchtige hat nicht schon unzählige Diäten gemacht? Ständig den Gedanken im Kopf zu haben, `wie viel darf ich noch essen`?, mit Schuldgefühlen auf das Essen reagieren, essen statt zu fühlen: all das quält die Betroffenen. Und das ist nicht unbedingt abhängig vom äußeren Erscheinungsbild. Immer häufiger klagen `normalgewichtige` Mädchen über ihr `Fettsein` “ (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Köln 1994, S.5). Essgestörte haben ein gestörtes Körperempfinden. Sie nehmen ihren Körper anders wahr, als er in der Realität vorhanden ist. Sie empfinden sich entweder dicker oder dünner als sie in Wahrheit sind. Man spricht hier auch von einem verzerrten Körperselbstbild. Weiterhin fehlt bei den meisten das Verständnis über die Ursachen ihrer Essstörung bzw. die Einsicht, überhaupt ein ernsthaftes Problem zu haben. Viele neigen im Leben sehr zur Perfektion, sie glauben, eigenen Ansprüchen und den Ansprüchen ihres Umfelds nicht gerecht werden zu können. Nach außen hin wirken sie dagegen oftmals souverän, sie verbergen ihre Gefühle und ihre Unsicherheit vor anderen weitgehend. Essgestörte unterliegen häufig großen Stimmungsschwankungen, welche nicht zuletzt durch die Waage bestimmt werden. Zwischen den einzelnen Formen der Essstörungen gibt es fließende Grenzen. Bei der Betrachtung müssen wir von einem „Schubladendenken“ Abschied nehmen. Man kann zwar die einzelnen Essstörungen charakterisieren, doch können die einzelnen Formen schon bei ein und derselben Person ineinander übergehen und sich gegenseitig phasenweise ablösen (vgl. Mucha, Hoffman 1998, Mader 1991).

[...]


[1] Bearbeitet von Sebastian Herholz

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Beschreibung psychosomatischer Essstörungen und Diskussion deren disponierender Faktoren in der deutschen Fachliteratur
Hochschule
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg  (Studiengang Pflegewissenschaft)
Veranstaltung
Gesundheitspsychologie
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
42
Katalognummer
V7452
ISBN (eBook)
9783638147132
ISBN (Buch)
9783638639941
Dateigröße
682 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Wissenschaftlich fundierte Beschreibung psychosomatischer Essstörungen im Kontext beeinflussender Faktoren. 264 KB
Schlagworte
Bulemie, Anorexie, Esssucht
Arbeit zitieren
Diplom Pflegewirt (FH) Sebastian Herholz (Autor:in), 2001, Beschreibung psychosomatischer Essstörungen und Diskussion deren disponierender Faktoren in der deutschen Fachliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7452

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