Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Gedankenexperimenten zur persönlichen Identität im Werk von Stanislaw Lem. Die medizinische Technik ist in dem fiktionalen Rahmen seiner utopischen Geschichten derart fortgeschritten, daß zum einen künstliche Prothesen für jedes Körperteil des Menschen - auch für das Gehirn - verfügbar sind und zum anderen die Chirurgie Organe und andere Körperteile beliebig verpflanzen und damit aus mehreren Menschen einen einzelnen zusammenstückeln kann. Die praktischen Probleme, die sich daraus ergeben, werden in der Arbeit genannt. Als erstes wird allerdings die Brauchbarkeit von Gedankenexperimenten untersucht.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Philosophie in Literatur
3. Gedankenexperimente
3.1 Die Annahme
3.2 Typologie der Gedankenexperimente
3.3 Funktionen für ein Gedankenexperiment
4. Zum Problem der persönlichen Identität
4.1 Identität über die Form
4.2 Identität über die Materie
4.3 Identität über die Erinnerung
4.4 Identität über die Funktion
4.5 Numerische und qualitative Identität
4.6 Identität über die Kontinuität
5. Auswirkungen des Identitätsbegriffes
6. Kritik an Lems Gedankenexperimenten
7. Schluß
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Gedankenexperimenten zur persönlichen Identität im Werk von Stanislaw Lem. Die medizinische Technik ist in dem fiktionalen Rahmen seiner utopischen Geschichten derart fortgeschritten, daß zum einen künstliche Prothesen für jedes Körperteil des Menschen - auch für das Gehirn - verfügbar sind und zum anderen die Chirurgie Organe und andere Körperteile beliebig verpflanzen und damit aus mehreren Menschen einen einzelnen zusammenstückeln kann. Von diesen Möglichkeiten ist die jetzige Technik und Medizin gar nicht so weit entfernt. Künstliche Arme und Beine gehören zum selbstverständlichen Repertoire der Medizintechnik. Es ist sogar gelungen, Knorpelgewebe wie das Ohr in der Petrischale nachzuzüchten - keine vollwertigen Ersatzkörperteile, aber immerhin oftmals überlebenswichtig für den Patienten. Organtransplantationen sind keine Sensationen mehr; Nieren, Haut, sogar das Herz werden zunehmend komplikationslos verpflanzt.
In Lems Radiohörspiel "Gibt es Sie, Mr. Johns?" will die Prothesenfirma den Körper des zu 100 Prozent aus Prothesen bestehenden Rennfahrers Johns pfänden, weil der seine Rechnungen nicht beglich. Das Drehbuch "Schichttorte" zeichnet ein Szenario, in welchem der Rallyefahrer Jones nach und nach mit fremden Körperteilen ergänzt wird. Seine Persönlichkeit beginnt sich zu verändern, und die Verwandten der Spender stellen Ansprüche. In beiden Geschichten geht es um die persönliche Identität. Die zentrale Frage lautet: Sind die fiktiven Figuren Johns und Jones immer noch ein und dieselben Personen, die sie vor ihrer Körperumwandlung waren? Auf materieller Ebene offensichtlich nicht. Johns[1] hat kein eigenes Körperteil im herkömmlichen Sinne mehr. Er sei ein "eigenmächtig aufmuckendes Prothesengefüge",[2] wie ihn der Anwalt der Prothesenfirma nennt; nichts habe er - oder "es" - mit dem "ursprünglichen" Johns mehr gemein. Anders geartet ist das Problem bei Jones. Er muß nicht wie Johns seine Existenz, sondern seine singuläre Identität beweisen. In materieller Hinsicht besteht er nun aus mehreren Personen.
Stanislaw Lem sieht sich literarisch in der Tradition von Jules Verne, dem Begründer der sogenannten Science-fiction.[3] Nicht die zukünftig mögliche Technik und Apparatur an sich treten in das Zentrum der Analyse, sondern die Perspektive ihrer zukünftigen Potenz. In Gedankenexperimenten wird durchgespielt, welche Auswirkung eine bestimmte Technik für das bisherige Selbstverständnis des Menschen hat. Probleme zur persönlichen Identität lassen sich nur durch Gedankenexperimente adäquat erfassen. Situationen werden allein auf geistiger Ebene geschaffen, die in der Wirklichkeit an die Grenzen des Möglichen oder des moralischen Diskurses stoßen. Literatur eröffnet ebenso diese möglichen Welten. Inwieweit sich diese Basis für philosophische Studien eignet, wird im ersten Teil dieser Arbeit festgestellt. Auf dieser Grundlage werden anschließend Fragen zur persönlichen Identität untersucht, die in den beiden Geschichten Lems vorkommen. Ethische Probleme und die Frage, ob eine Maschine denken kann, bleiben weitgehend unberücksichtigt.
2. Philosophie in Literatur
Philosophische Erfahrung ist selbst Fiktion wie die Literatur, insofern sie etwas Spezifisches und nicht auf naturwissenschaftliche oder spirituelle Erfahrung reduzierbar ist.[4] Daß z.B. die Welt aus Luft hervorgeht, wie Anaximenes postulierte, ist ebenso eine Fiktion wie eine Welt, die sich aus einem Urknall entwickelte. "Kannst du dir vorstellen, daß die Maxime deiner Fiktion ein universelles Gesetz der Natur würde?" stellt Guy Landreau in diesem Zusammenhang als Prinzip auf und zeigt damit, daß bestimmte Vorstellungen von der Welt - ob in der Zukunft, Vergangenheit oder Gegenwart - ein logisches Beziehungsgeflecht von anderen Vorstellungen nachziehen.
Hans Jonas benennt die Science-fiction als eine Kraft, die die Zukunft in der Gegenwart vertritt. Sie liefere holistische und eidetische Vorstellungen zukünftiger Wirklichkeit und von der Fernwirkung von Prozessen.[5] Es sei durchaus legitim, diese Art von Literatur mit Philosophie in Verbindung zu bringen, die ihrerseits gewissermaßen die Geltungsbereiche des Möglichen und Notwendigen erkundet.
Lem reiht sich nur ungern in die Staffage der Sci-fi-Autoren ein und will der Gattung nicht als Werbeträger dienen. Er meint, daß der gängigen Science-fiction die adäquate Implikation technischer Tendenz am wenigsten glückt.[6] Meist würden nur alte Ritter- und Heldensagen auf fremde Planeten versetzt oder das Heil der Menschheit mit dem technischen Fortschritt bedingungslos verknüpft. Lem will vielmehr die Erfindungen auf den Boden der Tatsachen stellen und dabei Methoden und Material verwenden, welche sich nicht vollkommen jenseits der zeitgenössischen Möglichkeiten und Kenntnis befinden.
Literatur bietet generell die Chance, vorgefundene Fakten in neue Relationen zu setzen, die ihrerseits über eine gewisse Wahrscheinlichkeit verfügen. Sie betreibt quasi selbst eine Evolution der Wirklichkeit mit Spielprinzipien und erschafft mögliche Spielkonfigurationen. Es ist ein Spiel mit Möglichkeiten, bzw. als Ironie ein Spiel mit Unmöglichkeiten, dessen Regeln der Schriftsteller kennen muß.[7]
In den beiden Geschichten von Stanislaw Lem gibt es Rallye- und Rennfahrer, Gerichte mit Anwalt und Richter, die sich mit Unterhaltsklagen beschäftigen, sowie Autobusse, die Unfälle bauen. Das sind im Grunde genommen ganz "alltägliche", schon bekannte Phänomene der Gegenwart, die Lem jedoch mit den technischen Möglichkeiten einer nicht näher bestimmten Zukunft konfrontiert. Es stellt sich heraus, daß die Technik Probleme mit sich bringt, die den Menschen scheinbar selbst in Frage stellen: Der Mensch ist sich seiner Identität nicht mehr sicher. Durch diese extentiellen Fragen, die Lem mittels der neubeschworenen Techniken wie Transplantation und Prothesen aufzeigt, schlägt er der gängigen Sci-fi-Leserschar, die sich nach Zeit- und Weltferne sehnt,[8] ein Schnippchen. Science-fiction bietet groteskerweise meist eine Flucht vor der - und nicht in die - Zukunft an. Die losgelöste Diskrepanz zwischen jetzt und morgen befreit den Leser von der Eigenverantwortung und dem Selbstbewußtsein, an der Gestaltung der Welt und des eigenen Lebens mitzuwirken. Indem Stanislaw Lem gegenwärtige Phänomene in den Geschichten in einer nie explizit genannten und datierten Zukunft zeigt, nimmt er dem Leser die Fluchtmöglichkeiten vor ihr. Hier und heute ist er Problemen ausgesetzt, die schon immer existiert haben und die durch mögliche technische Neuerungen nur in ihren praktischen Auswirkungen zunehmen können.
Stanislaw Lem geht es nicht darum, Futurologie - die wissenschaftliche Vorhersage der Zukunft - zu betreiben, was ihm prinzipiell sowieso unmöglich erscheint. Vielmehr will er genau untersuchen, welche verschiedenen Möglichkeiten einer Zukunft denkbar sind, um dann die einzelnen Konsequenzen bestimmter Entwicklungen für Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft aufzeigen.[9] Daß Lem dies in literarischer Form der Science-fiction aufbereitet, ist wohl nicht - wie Pierre Lachat vermutet - durch die polnische Zensur bedingt[10] oder allein mit der Absicht verbunden, philosophische Probleme einem großen Publikum unterhaltsam nahezubringen. Er sieht die Science-fiction als Plattform für "riskante Versuche unorthodoxen Denkens [...] und für das Aussprechen von Hypothesen, die der Wissenschaftler noch nicht aussprechen darf, weil sie die Spitze eines aus lauter Vermutungen errichteten Turmbaus zu Babel bilden. Die Science-fiction könnte zum Exerzierplatz neuer, auch philosophischer Versuche werden."[11] Lem meint, daß er zum Philosophen geboren wurde zu einer Zeit, in der Philosophen nicht mehr die souveränen Schöpfer eines Weltbildes sein können. Große philosophische Systeme seien nicht mehr zu errichten, weil es nur noch Spezialdisziplinen gebe. Science-fiction heißt für ihn, wissenschaftliche Strenge mit schöpferischer Freiheit zu verbinden. Und damit betreibe er Philosophie, "wenn auch eine verkleidete, weil in Literatur überführte Philosophie."[12]
[...]
[1] Die Verwendung der Personennamen Johns und Jones ist natürlich in diesen Zusammenhang problematisch, denn sie implizieren eine konstante Identität der beiden Figuren. Man müßte eher von den Personen sprechen, die vor der Operation Johns und Jones genannt wurden, sowie von den Personen, die sich nach der Operation für Johns und Jones ausgeben. Damit würde ein Urteil über ihre letztliche Identität absichtlich in der Schwebe gehalten. Der Einfachheit halber werden sie jedoch in dieser Arbeit weiter Johns und Jones genannt.
[2] Lem 1971. S. 286.
[3] Vgl. Flessner 1991. S. 21.
[4] Guy Lardreau. Nach Freese 1995. S. 28.
[5] Jonas 1984. S. 64ff. Nach Flessner 1991. S. 243.
[6] Nach Flessner 1991. S. 52/55.
[7] Vgl. Flessner 1991. S. 75.
[8] Vgl. Flessner 1991. S. 30.
[9] Vgl. Gräfrath 1993. S. 116.
[10] Vgl. Flessner 1991. S. 50.
[11] Stanislaw Lem. Die Geschichte des Einfalls. S-88f. Nach Gräfrath 1993. S. 117.
[12] Vgl. Lem 1980a. S. 307f ("Dialoge" Nachwort).
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