Vergleicht man die Einträge in den verschiedenen Auflagen von Frau Bußmanns Lexikon zum Stichwort "Argumentation“ (vgl. Anhang A und B), so stellt man fest,
dass diese Einträge sich beträchtlich unterscheiden. In der neuesten, dritten Auflage ist die Wichtigkeit und der Einfluss des Argumentationsmodells eines Engländers,
Stephen Toulmin, auf die allgemeine Argumentationstheorie deutlich spürbar. In den
früheren Auflagen nahm noch die (v.a. klassische) Rhetorik einen Schwerpunkt ein.
Und genau auf dieser, speziell auf der klassischen juristischen Rhetorik baut auch das genannte Toulminsche Schema auf. Dieser Veränderung der Argumentationsdefinition im Laufe der Zeit folgt die
Gliederung dieser Arbeit, die sich in einem ersten Teil der klassischen Rhetorik widmet. Von den Vorgaben derselben – von der Konstituierung von Texten bis hin zur Beweisführung an sich – werden die Grundlagen für den zweiten, Stephen Toulmin gewidmeten Teil erarbeitet. In diesem zweiten Teil wird nach einem kurzen Blick auf die Person selbst das von Toulmin erarbeitete Argumentationsschema erläutert, wobei der Schwerpunkt auf der von ihm eingeführten Terminologie und der Anwendung derselben in der Analysepraxis liegt. Dieser zweite Teil schließt mit Problemen der Anwendbarkeit des Modells, bevor zum Abschluss eine Aussage darüber getroffen wird, ob Toulmin tatsächlich einen Weg gefunden hat, der Argumentationstheorie mehr Erkenntnisse zu liefern als das der klassische Syllogismus und das Enthymem konnten.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Rhetorik
II. 1 Klassische Rhetorik und Argumentation
II. 2 Die Konstituierung von Texten in der klassischen Rhetorik
II.2.1 Inventio und Intellectio
II.2.2 Dispositio
II.2.3 Elocutio
II.2.4 Memoria/mneme
II.2.5 Vox/actio/pronuntiatio
II.3 Die Beweisführung
II.3.1 Die Gliederung als Eingang der Beweisführung
II.3.2 Die Teile der Beweisführung und das Beweisverfahren an sich
II.3.2.1 Natürliche Beweise
II.3.2.2 Kunstgemäße Beweise
II.3.2.3 Topoi/loci
II.3.2.4 Argumentum, Syllogismus, Enthymem
III. Stephen Toulmins Argumentationsmodell
III.1 Zur Person
III.2 Toulmins Argumentationsschema
III.2.1 Claim/Conclusion
III.2.2 Data/Grounds
III.2.3 Warrant
III.2.3.1 Gebräuchliche Warrants
III.2.4 Backing
III.2.5 Qualifiers
III.2.6 Rebuttal/Reservation
III.2.7 Weitere Unterscheidungskriterien der Kategorien untereinander
III.2.7.1 Data und Warrant
III.2.7.2 Warrant und Qualifier bzw. Rebuttal
III.2.7.3 Backing und Datum
III.2.7.4 Backing und Warrant
III.3 Beispiele
III.4 Diskussion, Fragestellungen, Probleme in der Anwendung
IV. Schlussbemerkung: Stephen Toulmin und das Enthymem
V. Anhang A-C
VI. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Vergleicht man die Einträge in den verschiedenen Auflagen von Frau Bußmanns Lexikon zum Stichwort „Argumentation“ (vgl. Anhang A und B), so stellt man fest, dass diese Einträge sich beträchtlich unterscheiden. In der neuesten, dritten Auflage ist die Wichtigkeit und der Einfluss des Argumentationsmodells eines Engländers, Stephen Toulmin, auf die allgemeine Argumentationstheorie deutlich spürbar. In den früheren Auflagen nahm noch die (v.a. klassische) Rhetorik einen Schwerpunkt ein. Und genau auf dieser, speziell auf der klassischen juristischen Rhetorik baut auch das genannte Toulminsche Schema auf.
Dieser Veränderung der Argumentationsdefinition im Laufe der Zeit folgt die Gliederung dieser Arbeit, die sich in einem ersten Teil der klassischen Rhetorik widmen wird. Von den Vorgaben derselben - von der Konstituierung von Texten bis hin zur Beweisführung an sich - sollen die Grundlagen für den zweiten, Stephen Toulmin gewidmeten Teil erarbeitet werden. In diesem zweiten Teil wird nach einem kurzen Blick auf die Person selbst das von Toulmin erarbeitete Argumentations- schema erläutert werden, wobei der Schwerpunkt auf der Erläuterung der von ihm eingeführten Terminologie und der Anwendung derselben in der Analysepraxis lie- gen soll. Dieser zweite Teil wird mit Problemen der Anwendbarkeit des Modells schließen, bevor zum Abschluss eine Aussage darüber getroffen werden soll, ob Toulmin tatsächlich einen Weg gefunden hat, der Argumentationstheorie mehr Er- kenntnisse zu liefern als das der klassische Syllogismus und das Enthymem konn- ten.
II. Rhetorik
II.1 Klassische Rhetorik und Argumentation
Die Rhetorik, von Aristoteles (384-322 v.Chr.) in seinem gleichnamigen Werk „Rhetorik“ als Wissenschaft begründet, gibt Anweisungen zum Abfassen von Texten für die Redepraxis. Dazu gehören Regeln, die z.T. in den Bereich der Textlinguistik gehören, nämlich solche für die Anordnung der Gedanken (dispositio) und ihre sprachliche Formulierung (elocutio). Zur elocutio gehören die Lehre von den Rede- figuren (z.B. Hyperbel, Metonymie, Metapher, Ironie, Wiederholung, Klimax, Anapher usw.) und von der Syntax (Periodenbau), in denen sich die Rhetorik mit der späteren Stilistik deckt. Diese von den Griechen über die Römer in die Neuzeit überlieferte Kunst der argumentierenden monologischen Rede steht bei Aristoteles der Dialektik gegenüber.
Im Unterschied zur Textlinguistik mit ihrem sehr weitgefassten Textbegriff beschränkt sich die Rhetorik auf die Untersuchung literarischer, juristischer oder politischer Texte, wobei sie präskriptiv vorgeht und an den Vorbildern der (jeweils) klassischen Autoren ausgerichtet ist. Die Regeln der klassischen Rhetorik sind für zahlreiche Textsorten bis in die Neuzeit hinein wirksam.1
Nach Aristoteles gibt es drei verschiedene Anwendungsgebiete für die Rhetorik2: Erstens die Ratsrede (genos symbuleutikon / genus deliberativum), also eine Rede vor der Volksversammlung, die politische Entscheidungen herbeiführen soll, indem einer in der Zukunft auszuführenden Aktion, wie zum Beispiel einer Kriegserklärung, zu- oder abgeraten wird. Ein zweites Einsatzgebiet der Rhetorik ist die Gerichtsrede (genos dikanikon / genus iudiciale), die eine Entscheidung zwischen wahr und un- wahr bzw. Recht und Unrecht in Bezug auf etwas in der Vergangenheit Geschehenes herbeiführen soll. Die Prunk- oder Festrede (genos epideiktikon/genus demonstra- tivum) dient dagegen nicht der Entscheidungs-, Meinungs- oder Handlungsbeein- flussung, sondern spricht Lob oder Tadel über etwas Vorliegendes aus - hier kommt es darauf an, wie der Redner den Redegegenstand darstellt. Diese drei Genera sind nach Quintilian nicht streng voneinander abgrenzbar, sondern greifen ineinander über, d.h. in der beratenden Rede oder in der gerichtlichen Rede wird auch Lob und Tadel zu finden sein, in der beratenden wird auch über in der Vergangenheit Gesche- henes geurteilt werden müssen.3
Die Prunkrede ist es, die die „Schuld“ daran trägt, dass die Rhetorik im Laufe der Zeit in Verruf geraten ist und seit Aristoteles einen starken Prestigeverlust erlit- ten hat. Dennoch lohnt sich ein Einblick in die Technik und das Verständnis der klassischen Rhetorik: schließlich sind deren Verfahren und Figuren noch heute un- verzichtbar. Um nur einige Elemente vorwegzunehmen: die Syllogistik - also die Wissenschaft vom Schlussfolgern - gründet sich auf das klassische philologische
Schlussverfahren, den Syllogismus (vgl. S. 10); die rhetorischen Figuren wie Hyperbel, Metapher, Metonymie, Syneckdoche, Ironie, Parallelismus, Chiasmus oder Klimax (etc.) sind eng verwandt mit den auch heute noch inventarisierten Topoi, der Fundquelle für Beweise zur Argumentierung (vgl. auch S. 8f.).
II.2 Die Konstituierung von Texten in der klassischen Rhetorik
Die Operatoren, die zur Konstituierung von Texten in der klassischen Rhetorik unterschieden wurden, waren die folgenden4:
II.2.1 Inventio und intellectio
Bei der inventio handelt es sich um die Auffindung des Themas bzw. der Gedanken und Möglichkeiten, die sich aus einem Thema bzw. aus einer Fragestellung entwi- ckeln lassen. Der erste Schritt liegt hierbei in der intellectio, dem Erkennen, Verste- hen und Beurteilen des Redegegenstandes. Dieser Vorgang des „Auffindens“ stützt sich in erster Linie auf Fähigkeiten, die eben gerade nicht durch die Redekunst ge- lehrt werden, nämlich auf “Scharfsinn, wissenschaftliche Kenntnis und Fleiß“5.
II.2.2 Dispositio
Die dispositio ist die gedankliche Gliederung des thematischen Materials. Zur sprachlichen Gliederung innerhalb der Beweisführung siehe S. 7-10 (diese gehört dann bereits der elocutio an).
II.2.3 Elocutio
Die elocutio ist der sprachliche Ausdruck dessen, was schon gedanklich durchgegangen und im Hinblick auf den Vortrag gegliedert worden ist.
II.2.4 Memoria/mneme
Bei der memoria oder mneme handelt es sich um die Gesamtheit der mnemotech- nischen Verfahren zum Auswendiglernen des verfassten Textes: Einprägen der Gedanken bzw. der Rede ins Gedächtnis, der sprachlichen Formulierungen und der geplanten Aktionen beim Vortrag.6 Im abendländischen Bildungssystem spielte die memoria bis in die Neuzeit eine wichtige Rolle beim Unterricht und galt vielfach als Voraussetzung für das Studium.
II.2.5 Vox/actio/pronuntiatio
Hierbei handelt es sich um den eigentlichen Vortrag, die Ausführung der Rede, d.h. pronuntiatio oder actio bedeutet im weitesten Sinne die Verwirklichung der Rede durch Reden und Gesten oder auch physische Handlungen.7
Die Stadien der memoria und der actio finden sich noch nicht bei Aristoteles8, aber bald schon bei Cicero und Quintilian9.
II.3 Die Beweisführung ( pisteis, eikos/argumentatio )
Die 10 Beweisführung ist der wichtigste Teil in der persuasiven Rede und hat ihren Startpunkt bereits in der Phase der inventio, da es dort bereits gilt, die inhaltliche Fülle der argumenta (also der Beweisstücke/der Bestandteile der Beweisführung; vgl. S. 10) mit Hilfe der loci/ topoi ausfindig zu machen (vgl. S. 9). Hierbei ist „[d]ie Überzeugung mit Hilfe der Vernunft ist das oberste Ziel“11.
Um die Glaubwürdigkeit des eigenen Standpunktes herauszustellen und die Zuhörer von ihm zu überzeugen, muss die argumentatio stichhaltig und beweiskräf- tig sein; „dazu bedient sie sich der Zeichen (signa), Beweise (argumenta) und Bei- spiele (exempla)“12. Das signum ist ein sinnlich wahrnehmbares Zeichen, das vom Redner als Indiz für eine bestimmte Sachlage, als Beweis einer Behauptung, als Mittel zur Affekterregung eingesetzt wird. Dabei unterscheidet man Zeichen, die eine sichere Schlussfolgerung erlauben (signa necessaria), von solchen Zeichen, die eine Schlussfolgerung als bloß wahrscheinlich (signa non necessaria) nahelegen.13 Die exempla sind die natürlichen Beweise, die vom Redner nicht mit Hilfe des Schlussverfahrens gewonnen werden, sondern ihm vorgegeben sind und mit Hilfe seiner Erfahrung und Wahrnehmungsfähigkeit gefunden werden müssen. Da sie aber nur durch die Bearbeitung des Redners oder Schriftstellers eine zweckentsprechende Funktion in seiner Rede erlangen, gehören sie hinsichtlich ihrer Anwendung zu den kunstgemäßen Beweisen (vgl. S. 7). Inductio nennt Cicero die Methode, eine außer- halb des eigentlichen Redegegenstandes liegende Sache als Beispiel in die Rede einzubeziehen.14
II.3.1 Die Gliederung als Eingang der Beweisführung (prothesis, prokataskeu / divisio, partitio)
Partitio heißt 15 die gliedernde Aufzählung der Redeziele. Sie kann sowohl am Rede- anfang stehen als auch an das Ende der Argumentation treten. Ihre Bedeutung liegt in der Verständlichkeit und Klarheit der Gedankenführung. Die Beweisführung wird dadurch sowohl für den Redner als auch für den Hörer zielstrebig und überschaubar. Die Bedeutung der partitio liegt darin, dass z.B. bei verwickelten Redegegenständen (genus obscurum) mehrere Beweisziele verfolgt werden können, ohne dass die Ver- ständlichkeit und Klarheit der Gedankenführung für das Publikum leidet. In ge- wissem Sinne gehört die partitio damit auch zur Technik der Überleitung.16 „Der hauptsächlich rational orientierten partitio als Eingang der Beweisführung entspricht die mit affektischen Funktionen behaftete aufzählende Wiederholung und Zusam- menfassung (enumeratio) am Schluß der Rede.“17
II.3.2 Die Teile der Beweisführung und das Beweisverfahren an sich
Quintilian unterteilt die argumentatio in Beweisführung im engeren Sinne (probatio) und Widerlegung der Argumente des Gegenübers (refutatio). Dies werden wir bei Toulmin in ähnlicher Form wiederfinden, wenn die Termini backing und warrant bzw. qualifier und rebuttal behandel werden (ab S. 13).
Grundsätzlich stehen dem Redner zwei Gruppen von Beweisverfahren zur Verfügung, natürliche Beweise (probationes inartificiales/pisteis atechnoi) und kunstgemäße Beweise (probationes artificiales/pisteis entechnoi):
II.3.2.1 Natürliche Beweise
Natürliche Beweise sind Argumente, die auf vorgegebenen Tatsachen beruhen; sie haben mit der zur Diskussion stehenden Sache zu tun und sind so vorgegeben.
[...]
1 vgl. Bollée 1999/2000: 9
2 vgl. Ueding 1986: 24
3 vgl. Ueding 1976: 204
4 vgl. Ueding 1986: 23, 117, 229, 234, 263f
5 vgl. Ueding 1976: 197
6 vgl. Ueding 1986: 229
7 vgl. Ueding 1976: 283
8 vgl. Ueding 1986: 23
9 Quintilian (in seiner „ Ausbildung des Redners “ / “ institutio oratoria “): Die Ganze [sic] Stärke und Geschicklichkeit des Redners ferner lasse sich in folgende fünf Teile zerlegen: Zuerst müs- se er erfinden, was er sagen wolle; zweitens, das Erfundene nicht allein nach einer äußerlichen Reihenfolge, sondern nach dem inneren Gewicht und nach richtiger Abschätzung verteilen und zusammenstellen; drittens, dieses vermittelst der Rede einkleiden und ausschmücken; hierauf es im Gedächtnis aufbewahren; zuletzt es mit Würde und Anmut vortragen. (zitiert nach Ueding 1976: 195)
10 vgl. Ueding 1986: 263
11 Ueding 1986: 104
12 Ueding 1976: 216
13 vgl. Ueding 1976: 216
14 vgl. Ueding 1976: 218
15 vgl. Ueding 1986: 264
16 vgl. Ueding 1976: 214
17 Ueding 1986: 264
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