Probleme beim Vergleich von Literaturterminologien


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2000

12 Seiten


Leseprobe


Einführung: Literaturterminologien im Blickpunkt interkultureller Forschung

Die neuerlich immer intensiver geführten Diskussionen über eine „Verwissenschaftlichung“ der literaturwissenschaftlichen Terminologie sind bisher durchaus „eurozentrisch“ verlaufen. In einem 1986 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten Symposium über dieses Thema und in dessen umfangreicher Buchdokumentation[i] ist fast ausschließlich von der – tatsächlichen oder zu wünschenden – Beschaffenheit europäischer Literaturterminologien die Rede.

Es liegt jedoch nahe, unseren Betrachtungshorizont weiter zu spannen. Wir werden uns der Eigenart unserer eigenen litw. Terminologie erst richtig bewußt, wenn wir sie mit „fremden“ vergleichen, etwa der chinesischen, den arabisch-persischen, den indischen oder auch der japanischen. Dies kann hier nur durch einige – durchaus als vorläufig zu verstehende – zahlenmäßige Feststellungen geschehen. Für Einzelanalysen ist kein Raum. Aus diesen Hinweisen lassen sich jedoch mancherlei Schlüsse ziehen, etwa hinsichtlich der Möglichkeit eines wahrhaft internationalen bzw. „interkulturellen“ Literaturthesaurus oder einer Speicherung seines Begriffsschatzes im Computer[ii].

1. Unterschiede zwischen literaturwissenschaftlichen und anderen Fachterminologien

Ich habe an anderer Stelle[iii] ausführlicher dargelegt, wodurch sich litw. Fachterminologien von anderen, z.B. der Biologie, Psychologie oder Computer Science unterscheiden und kann deshalb hier zusammenfassen:

1. Die Terminologien der neueren und exakteren Wissenschaften wurden zumeist und hauptsächlich von einer Nation (oder von nur wenigen Nationen) und deren Sprache(n) geprägt und brauchen deshalb nur in andere Sprachen übersetzt (bzw. in anderen Sprachen erklärt) zu werden. 2. Die Erkenntnisse der exakteren Wissenschaften sind universal und überall im Prinzip gleich wichtig, gleich wissenswert, was auch für die Fachbegriffe gilt, in denen sie übermittelt werden. 3. Die Fachbegriffe der exakteren Wissenschaften werden deshalb vom Zusammenhang der Kultur, in der sie entwickelt wurden, relativ unabhängig. (Selbst die Freudsche Tiefenpsychologie, die kaum „exakt“ genannt werden kann, läßt sich zwar historisch aus dem Wien der Jahrhundertwende erklären, beansprucht jedoch für die, die sie überhaupt anerkennen, überall gleiche Gültigkeit.)

Jeweils das Gegenteil gilt für literarische Terminologie: Jede Kultur (Nation) bildet ihre eigene Literatur und litw. Terminologie aus. 2. Die nationalen Literaturformen sind normalerweise nur für die verständlich, nacherlebbar und relevant, die am Gesamtzusammenhang der jeweiligen Sprache und Kulturtradition, in die diese eingebettet sind, teilhaben. 3. Gerade das, was den Eigencharakter nationaler Literaturen ausmacht, kann sich vom jeweiligen kulturellen Hintergrund nur schwer lösen bzw. wirkliche Weltgeltung erlangen, trotz des Ideals einer „Weltliteratur“.[iv] Anders als etwa Musik muß Literatur schon wegen ihrer Angewiesenheit auf Sprache stärker an ihren nationalen Hintergrund gebunden bleiben. Es gibt deshalb – vereinfachend gesagt – nur eine Biologie, Medizin, Physik etc. mit jeweils nur einer internationalen Fachterminologie, während es viele Literaturwissenschaften mit jeweils verschiedenem Sachwortschatz gibt.

Diese, grundsätzlich von ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund nicht lösbaren, Literaturwissenschaften weisen jedoch in ihrer Terminologie dann Querverbindungen auf, wenn sie entweder auf gemeinsame Ursprünge und Vorbilder zurückgehen oder später sich gegenseitig beeinflußt haben. Ebenso wie die europäischen Literaturen in mehr oder weniger starkem Ausmaße von der griechisch-römischen geprägt wurden (was man noch an den ihnen gemeinsamen metrischen und rhetorischen Begriffen sieht), so gehen die meisten asiatischen Literaturen teilweise auf chinesische Vorbilder zurück (was man z.B. im Japanischen an chinesischen Gattungsnamen erkennt), und so haben auch die arabischen Literaturen (einschließlich der persischen und sogar einer indischen Tradition[v] ) die Mehrzahl ihrer metrischen und generischen Bezeichnungen gemeinsam. Diese Überschneidungen scheinen zuerst einer internationalen Normung litw. Begriffe entgegenzukomnmen. In Wirklichkeit täuschen sie jedoch häufig Gemeinsamkeiten vor, die in Wirklichkeit nicht (mehr) bestehen, weil die nationalen Sprachen sich weit voneinander wegentwickelt haben.

2. Gründe für die „Unwissenschaftlichkeit“ literarischer Sachbegriffe

In dem oben erwähnten Sammelband werden mancherlei Gründe für die „Unwissenschaftlichkeit“ litw. Begriffe genannt, die hier, in aller Kürze und durch eigene Beobachtungen ergänzt, zusammengestellt werden sollen:

1. Die Anwendbarkeit vieler litw. Begriffe auf mehr als ein Untersuchungsfeld, z.B. „Realismus“ als Stil- sowie Epochenbegriff[vi]. 2. Die (noch) unscharfe zeitliche Abgrenzung vieler Epochenbegriffe, wie z.B. von „Moderne“ und „Postmoderne“ oder des „Barock“[vii]. 3. Die allzugroße Nähe vieler litw. Begriffe zu solchen der Umgangssprache, wie etwa „Tragik“ und „Tragisches“[viii]. 4. Ihre häufig (wort)spielerische Verwendung („Ideologische Tragödie und Tragödie der Ideologie“[ix] ), manchmal auch ihre „persuasive“ Anwendung (wie im Modebegriff „Paradigma“)[x] oder ihre „programmtragende“ Funktion (z.B. Wolfgang Isers Begriff des „Implizierten Lesers“ oder Hans-Robert Jauß‘ Begriff „Erwartungshorizont“).[xi] 5. Der absichtlich „evokative“ und quasi-dichterische Sprachgebrauch vieler Literaturwissenschaftler, die eine „Verwissenschaftlichung“ ihrer Disziplin und deren Terminologie (im Sinne einer Angleichung an die der exakten Naturwissenschaften) als „Vergewaltigung“[xii] ablehnen und ihre Hauptaufgabe darin sehen, dem Leser ihrer Arbeiten Erlebnisse zu verschaffen, „etwas in ihm auszulösen“, ihn empfänglich für die Wirkung von Dichtung zu machen. 6. Die mangelnde Überprüfung der älteren Begriffe zum Zeitpunkt ihrer Einbürgerung in die Litw., wie Klaus Weimar sogar an den Zentralbegriffen „Literatur“, „Literaturgeschichte“ und „Literaturwissenschaft“ gezeigt hat.[xiii] 7. Andererseits die Definition neuerer Begriffe von ganz verschiedenen Rahmenkonzepten und Voraussetzungen unterschiedlicher wissenschaftlicher Schulen her, z.B. der Begriff „Metapher“.[xiv] 8. Die „inflationäre Anwendung“ vieler Begriffe auf alle erdenklichen Gegenstände, die diese Modebegriffe „als analytische Kategorien untauglich“ werden läßt, wie Peter Kuon an dem Betgriff „Utopie“ vorführte.[xv] Ebenso gut ließe sich das am Begriff „Ironie“ zeigen. 9. Die Zugehörigkeit dieser Begriffe zu unterschiedlichen sprachanalytischen Klassen, wie Werner Strube[xvi] gezeigt hat, z.B. „univoken“ (etwa „Trochäus“), „paronymen“ („Sonett“), „porösen“ („lyrisch“), den sogenannten „Familienähnlichkeitsbegriffen“; bzw. „offenen“ („Tragödie“, „Novelle“) im Gegensatz zu den „geschlossenen“ („griechische Tragödie“, „Boccaccio-Novelle“), worauf bereits Morris Weitz aufmerksam machte.[xvii] 10. Die Interessenrichtung litw. Begriffe auf die Erfassung des „Spezifischen“ im Unterschied zur „Genauigkeit“. Beides ist nicht dasselbe.[xviii] Der Begriff „Jambus“ kann genau definiert werden, ist jedoch nicht spezifisch. Die Bedeutung des Wortes „lyrisch“ ist dagegen höchst ungenau, als Stilqualität jedoch spezifischer. 11. Diese Eigenart litw. Sprache wird von manchen Betrachtern mit ihrer Tendenz, sich der Sprache ihres Untersuchungsgegenstandes anzunähern, in Verbindung gebracht, etwa im häufigen Gebrauch von Metaphern und von anderen poetischen Elementen (vgl. Punkt 5).[xix] 12. Die Vielfalt litw. Begriffe, die z.T. das Gleiche oder Ähnliches meinen. Sie spiegelt die Uneinheitlichkeit des Forschungsbetriebs, den Mangel an Dialog und Abstimmung der Terminologie.[xx] 13. Der „Terminologie-Import“[xxi] aus der Linguistik und den verschiedenen Schulen des Strukturalismus und der Semiotik, der zwar zu einer Bereicherung der litw. Terminologie geführt, nicht jedoch zu einer Klärung bereits vorhandener Begriffe beigetragen hat. 14. Häufig wurden Begriffe, die in ihrem Herkunftsbereich klar definiert waren, bei ihrer Übernahme in die Litw. „semantisch abgerüstet“ (J. Slawinski[xxii] ): „Allerwelts-Termini um den Preis des Verlustes der Grenzen ihrer Bedeutung“. Beispiele geben wiederum Modeworte wie „Paradigma“ oder „Ironie“ ab. 15. Die Häufigkeit von Begriffsfestsetzungen in der Sprache der Litw. „durch willkürliche Definitionen eindrucksvoller Kunstwörter“ (Fricke) anstatt durch die, von Fricke und anderen empfohlene, „Explikation“ standardsprachlicher Begriffe“.[xxiii] Diese Neuschöpfungen haben bereits vorhandene Begriffe häufig nur dupliziert und damit zur „Sprachverwirrung“, der sie angeblich abhelfen wollten, beigetragen. (Wo neue Beobachtungen nicht von bereits vorhandenen Begriffen wiedergegeben werden können, sind Neuschöpfungen natürlich berechtigt.)

[...]


[i] Hg. Christian Wagenknecht: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. (Akten des IX. Germanist. Symposions der Dt. Forschungsgemeinschaft, Würzburg 1986.) Stuttgart 1988; im weiteren zitiert als „T“. Dort findet sich die bisher vollständigste Bibliogr. zu unserem Thema (S. 437-445).

[ii] Vgl. meine Aufsätze: „Der Geltungsbereich unserer lit. Sachbegriffe“ (ebd. S. 80-104) sowie: „Ein Thesaurus der Literaturwissenschaft?“ In: Acta Humanistica et Scientifica Universitatis Sangio Kyotiensis. Jg. XVI. März 1987, Heft 4, S. 326-352, und: „Zur semantischen Beschaffenheit literarischer Sachbegriffe“ (Ebd. No. 27 (2000) 131-142. Der vorliegende Aufsatz ist eine gekürzte Zusammenfassung meines Beitrags zu den Akten des VIII. Internationalen Germanistenkongresses in Tokyo 1990, der unter dem Thema stand „Begegnung mit dem ‚Fremden‘, Grenzen – Traditionen – Vergleiche“ (Bd. 4, 412-421, München: iudicium), mit den beiden zuvor genannten Aufsätzen.

[iii] S. o. T, Anm. 1, S. 80-104.

[iv] Vgl. den Artikel „Weltliteratur“ von Erwin Koppen in Merker-Stammlers Reall. IV (1984), S. 615-627.

[v] Zur schnellen Orientierung über für uns „fremde“ Literaturen dienen die entsprechenden Beiträge zu Kindlers Lit.lexikon Bd. VII. Zürich 1965, sowie immer noch die entspr. Essays in : Dt. Philol. im Aufriss, Bd. III. 1957, besonders aber die Artikel im Dictionary of Oriental Lieratures, Vols I-III. Hg. v. Jaroslav Prusek, London 1974.

[vi] Vgl. Bernd W. Seiler: „Das Wahrscheinliche und das Wesentliche. Vom Sinn des Realismus-Begriffs und der Geschichte seiner Verundeutlichung.“ In: T, Se. 373-392.

[vii] Vgl. Jörg Schönert: „Gesellschaftliche Modernisierung und Lit. der Moderne.“ In: T, S. 393-413.

[viii] Vgl. K. Ludwig Pfeiffer: „Tragik und Tragisches: Zur Tragikomödie eines Begriffsschicksals.“ In T, S. 363-372.

[ix] So der Titel von Reinhold Grimms Interpretation von Brechts Lehrstück ‚ Die Maßnahme ‘.

[x] Diese Beispiele von Hans Harald Müller: „Probleme des Anwendungsbereichs eines Definitionsprogramms in der Literaturwissenschaft“ In: T, S. 69-79.

[xi] In: Literaturgeschichte als Provokation. 1979.

[xii] Wie eng der Sprachgebrauch der Litw. mit deren Zielsetzung verbunden ist, zeigt H. H. Müller im obengenannten Aufsatz; aber auch Hans-Heinrich Lieb, welcher die Litw. als einen Zweig der Semiotik auffasst: „Der Status der Litw. und ihrer Sprache“. In: T, S. 105-139. Gunther Witting („Über einige Schwierigkeiten beim Isolieren einer Schreibweise“: In: T, S. 274-288) spricht von der „Notzuchtmetaphorik“ einiger Vertreter der älteren Schulen.

[xiii] „Zentrale Termini sind unserer Wissenschaft irgendwie und irgendwoher zugeflogen und unbedenklich gebraucht worden, ohne erkennbare Bemühung um eine Präzisierung des allgemeinen Sprachgebrauchs, ohne zusätzliche definitorische Anstrengungen und ohne Wissen von Herkunft und Implikationen dieser Termini.“ („Literatur, Literaturgeschichte, Literaturwissenschaft“ In: T, S. 9-23). Vgl. auch René Wellek: „Literature, Fiction, and Literariness.“ In: The Attack on Literature and Other Essays. U. of N. Carolina Press 1982, S. 19-32.

[xiv] Vgl. Hendrik Birus und Anna Fuchs: „Ein terminologisches Grundinventar für die Analyse von Metaphern.“ In: T, S. 157-174.

[xv] „Gattung als Zitat. Das Paradigma der lit. Utopie“ in: T, S. 309-325. Ein besonders instruktives Beispiel gäbe auch der Begriff „Struktur“.

[xvi] „Sprachanalytisch-philosophische Typologie litw. Begriffe“ In: T, S. 35-49.

[xvii] „The Role of Theory in Ästhetics.“ In: Problems in Ästhetics. Hg. von Morris Weitz. London 21970, S. 176f.

[xviii] Vgl. Max Black: Sprache. München 1973, S. 190.

[xix] Vgl. Harald Fri>

[xx] Vgl. H. H. Müller s. o. Anm. 7, und Gerhard Sauder: Fachgeschichte und Standortbestimmung. In: Erkenntnis der Lit. Theorien, Konzepte, Methoden der Litw. Hg. v. Dietrich Harth und Peter Gebhardt. Stuttgart 1982, S. 321-344.

[xxi] Vgl. H. H. Müller s. o. Anm. 7, S. 3.

[xxii] „Probleme der litw. Terminologie“ In: J. S.: Literatur als System und Prozess. Hg. v. Rolf Fieguth. München 1975, S. 65-81, S. 71.

[xxiii] H. Fricke s. o. Anm. 16, S. 256, Anm. 13.

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Details

Titel
Probleme beim Vergleich von Literaturterminologien
Hochschule
Kyoto Sangyo University  (German Department)
Autor
Jahr
2000
Seiten
12
Katalognummer
V7728
ISBN (eBook)
9783638148863
ISBN (Buch)
9783638798907
Dateigröße
497 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Zusammenfassung meiner publizierten Aufsätze: 'Der Geltungsbereich unserer lit. Sachbegriffe' (In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Hg. Christian Wagenknecht, Stuttgart: Metzler 1988, S. 80-104) sowie: 'Ein Thesaurus der Literaturwissenschaft?' (In: Acta Humanistica et Scientifica Universitatis Sangio Kyotiensis. Jg. XVI. März 1987, Heft 4, S. 326-352) und: 'Zur semantischen Beschaffenheit literarischer Sachbegriffe' (Ebd. No. 27, 2000, 131-142).
Schlagworte
Probleme, Vergleich, Literaturterminologien
Arbeit zitieren
Dr. Wolfgang Ruttkowski (Autor:in), 2000, Probleme beim Vergleich von Literaturterminologien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7728

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