"Hier dürfen Sie schweigen ..." - Zur Ästhetik des Schweigens im Werk Reiner Kunzes


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

21 Seiten, Note: sehr gut (1,0)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Einladung zu einer Tasse Jasmintee
2.1 Das Schweigen als Politikum
2.2 Schweigen als Akt der Autonomie

3. Schreibtisch am Fenster, und es schneit
3.1 Stille als die andere Seite des Schaffensprozesses

4. Der Himmel von Jerusalem
4.1 Das ‚nach innen genähte’ Wort

5. Fazit

6. Literatur

1. Einführung

Reiner Kunze stellt seinem 1972 erschienenen Gedichtband Zimmerlautstärke[1] ein Zitat Senecas voran:

…bleibe auf deinem Posten und

hilf durch deinen Zuruf; und wenn

man dir die Kehle zudrückt, bleibe

auf deinem Posten und hilf durch

dein Schweigen.

Wem ein Gedichtband Reiner Kunzes in die Hände fällt, der bemerkt sofort beim ersten Blättern die Dominanz der weißen Fläche im Druckbild der einzelnen Seiten. Die überwiegende Zahl der Gedichte Kunzes ist äußerst kurz. Man gewinnt den Eindruck einer sehr konzentrierten dichterischen Sprechweise, eines gewissen Lakonismus, der einem verschwenderischen oder auch inflationären Sprachgebrauch skeptisch gegenüberzustehen scheint. „Da wird die Sprache mit der Pinzette gehandhabt“, formuliert Michael Albus im Interview mit Reiner Kunze am 6. Dezember 1987 in der Sendung Sonntagsgespräch des ZDF.[2] Im Hinblick auf die Worte Senecas, die Kunze ganz bewusst diesem Gedichtband voranstellt, lässt sich ein Grundcharakteristikum seiner Dichtung feststellen: Eine Neigung zu äußerster sprachlicher Verknappung. Kunzes Selbstverständnis als Lyriker ist nicht nur durch literarische Mitteilung geprägt, sondern ebenso stark durch den Verzicht auf Mitteilung. Hilfe ist nicht nur der „Zuruf“, sondern auch das „Schweigen“. Das „Moment der Reduktion“[3], so Heiner Feldkamp richtig, „[…] bedeutet gleichzeitig ein Mehr an Leerstellen im Gedicht, die zu Freiräumen für den Leser werden können und die eine Zunahme an Offenheit und Mehrsinnigkeit bewirken.“[4]

Dieser auf Offenheit angelegte und sich immer wieder selbst kritisch reflektierende Sprachgebrauch Reiner Kunzes in seinen Texten soll auf den folgenden Seiten im Mittelpunkt interpretativer Betrachtungen einiger exemplarisch aufgeführter Gedichte stehen. Es stellen sich vielfältige Fragen zu diesem charakteristischen Merkmal des künstlerischen Schaffens Reiner Kunzes: Welche Motive biographischer Herkunft führten und führen den Lyriker Kunze zu einer Dichtung im Zeichen äußerster sprachlicher Reduktion? Ist dem Werk Kunzes eine Sprachskepsis eigen? Inwiefern gibt es eine Entwicklung oder auch Kontinuität der sprachlichen Verknappung im Werk Reiner Kunzes? Welche Bedeutung hat das Schweigen als Topos in seinen Gedichten? Und inwiefern ist das Schweigen im weitesten Sinne eines der zentralen ästhetischen Prinzipien seines dichterischen Bemühens?

Ansätze für eine Klärung dieser Fragen aufzuweisen und Möglichkeiten für eine interpretatorische Bewertung dieser gewissermaßen auf ‚Zimmerlautstärke[5] herabgestuften’Sprache zu zeigen, ist das Anliegen dieser Arbeit, wobei eine eindeutige und erschöpfende Abhandlung dieser Sachverhalte meiner Meinung nach weder leistbar oder wünschenswert wäre, noch der Offenheit und Autonomie der literarischen Kunstwerke Kunzes gerecht werden würde.

2. Einladung zu einer Tasse Jasmintee

EINLADUNG ZU EINER TASSE JASMINTEE

Treten Sie ein, legen sie Ihre

traurigkeit ab, hier

dürfen Sie schweigen

Dieses äußerst kurze, 1967 entstandene Gedicht ist dem Gedichtband Sensible Wege[6] entnommen, welcher 1969 veröffentlicht wurde. Der Titel des Gedichts lässt in der Vorstellung des Lesers die bildhafte Szene einer Begrüßung an der Haustür entstehen: Ein Gast ist der „Einladung“ gefolgt und wird hereingebeten. Die Aufforderung „Treten Sie ein, […]“ (Z. 1) fordert zum Betreten des Innenraums in mehrfachem Sinne auf – nicht nur die Schwelle eines Hauses wird überschritten, sondern auch die Grenze der Privatheit einer Person, eines Individuums. Das alltägliche, intime Umfeld eines Menschen wird geoffenbart, die Dinge und Menschen, mit denen sie sich umgibt, gewähren einen Blick auf die Facetten seiner Persönlichkeit. Gleichzeitig fällt eine Grenze zwischen Gast und Gastgeber – wahre menschliche Begegnung wird möglich, interpersonale Beschränkungen fallen. Diese innere Dimension dieses äußeren Geschehens des Eintretens wird in der nun folgenden Aufforderung noch stärker betont. Die Bitte „legen Sie Ihre/ traurigkeit ab, […]“ (Z. 2) durchkreuzt die Sprachgewohnheiten des Lesers, indem die lineare Reihenfolge der Aufforderungen ohne Pause mit der Bemerkung fortgeführt wird, die „traurigkeit“ (Z. 2) abzulegen, wie einen Mantel. Das Ablegen einer inneren Befindlichkeit wird in Analogie gesetzt zu einem äußeren Geschehen, wie etwa das Ablegen eines Mantels im Hausflur. Die Bitte abzulegen – eine jedermann bekannte Floskel, die gewöhnlich zum Ritual der Begrüßung gehört – wird hier ihrer Floskelhaftigkeit beraubt. Es stellt sich die Frage: Woher rührt diese „traurigkeit“ (Z. 2)?

Die Frage erfährt keine Antwort, denn im von den Enjambements beförderten pausenlosen Fluss des Gedichts folgt unmittelbar das Zugeständnis „[…] hier/ dürfen Sie schweigen“ (Z. 3). Der Leser sieht in bildhafter Vorstellung eines Begrüßungsrituals die Ankunft z. B. im Wohnzimmer, das Platznehmen und den voraussichtlichen Beginn eines Gesprächs vor sich, die nun abermals durchbrochen wird durch das Angebot des Schweigens. Das genaue Gegenteil des Erwarteten tritt ein – von vornherein scheint nicht die Absicht des Besuches ein Gespräch gewesen zu sein, sondern gerade die Absicht nicht zu sprechen oder sprechen zu müssen. Im Wort „dürfen“ (Z. 3) wird eine Erlaubnis erteilt, die auf ein Bedürfnis Antwort zu geben scheint, das außerhalb des Gedichts artikuliert wurde. Konsequenterweise muss der gegebenen Erlaubnis auch ein Verbot entsprechen. Ein Verbot zu schweigen muss bestehen oder ein Gebot des Redens – ausgesprochen von wem auch immer.

2.1 Das Schweigen als Politikum

Um die Fragen nach der „traurigkeit“(Z. 2) und dem „schweigen“(Z. 3) zu beantworten, bedarf es vielleicht eines Seitenblicks auf die Biographie Reiner Kunzes, denn sie bildet in vielen seiner Werke den Ausgangspunkt für dichterische Verarbeitungen von Erlebnissen, wenn sich auch der Gehalt der Texte bei weitem nicht darin erschöpft.

Kunze äußert im Gespräch mit Michael Scheuermann im September 1987: „Ich schreibe, um mein Leben zu bewältigen, […]“[7] Diese Antwort auf die Frage Scheuermanns nach den Quellen einer Schreibmotivation in der Zeit nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik lassen ahnen, wie stark das Dichten Kunzes mit seinem Leben verknüpft ist, jedoch nicht ausschließlich als Antwort auf politische Verhältnisse des Deutschlands östlich des eisernen Vorhangs zu verstehen ist. Besäße es aber eine solche Dimension gar nicht, so wäre Kunzes heimliche Berühmtheit unter den DDR-Bürgern kaum erklärbar. Peter von Borcke merkt in diesem Zusammenhang an, dass „wie von den Liedern Wolf Biermanns, in der DDR ungezählte maschinenschriftliche und handschriftliche Kopien von Kunzes nur im Westen erschienenen Gedichtband ‚Sensible Wege’ […]“[8] kursieren.

Rainer Kunze ist als Bürger der DDR seit den späten 50er Jahren immer wieder in Auseinandersetzungen mit dem herrschenden Regime verwickelt. 1959 bricht Kunze sein Promotionsstudium aufgrund politischen Drucks ab und bestreitet seinen Lebensunterhalt für zwei Jahre als Hilfsmaschinenschlosser. Ab 1962 lebt Kunze als freier Schriftsteller, wird jedoch schon in dieser Zeit in seinen Publikationsmöglichkeiten vonseiten des Staates massiv eingeschränkt. Im September 1968 beginnt die aggressive Infiltration des Privatlebens Reiner Kunzes durch das Ministerium für Staatssicherheit in Form von Observation und Abhöraktionen. Informelle Mitarbeiter des MfS verbreiten gezielt Gerüchte über den Schriftsteller, um ihn sozial zu isolieren. Die Behörde beabsichtigt eine „Kompromittierung des Kunze in Schriftstellerkreisen der DDR und der CSSR.“[9]

[...]


[1] Kunze, Reiner: Zimmerlautstärke. Gedichte. Frankfurt am Main: S. Fischer 1972.

[2] Kunze, Reiner: Wo Freiheit ist… . Gespräche 1977 – 1993. Frankfurt am Main: S. Fischer 1994. S. 108.

[3] Feldkamp, Heiner: Entfernung von einem Wort zum andern. Selbstverständnis, Ästhetik und Poetik Reiner Kunzes. In: Reiner Kunze. Werk und Wirkung. Hg v. Rudolf Wolff. Bonn: Bouvier 1983 (=Sammlung Profile Bd. 2). S. 38.

[4] Feldkamp In: Wolff 1983. S. 39.

[5] Reiner Kunze betitelt so den 1972 von ihn im S. Fischer Verlag erschienen Gedichtband

[6] Kunze, Reiner: Sensible Wege. Achtundvierzig Gedichte und ein Zyklus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969. S. 55.

[7] Kunze: Wo Freiheit ist… . Frankfurt am Main 1994. S. 93.

[8] Borcke, Peter von: Treten Sie ein, hier dürfen Sie schweigen. In: Reiner Kunze. Materialien und Dokumente. Hg. v. Jürgen P. Wallmann. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1977. S. 37.

[9] Deckname „Lyrik“. Eine Dokumentation von Reiner Kunze. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1990. S. 16.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
"Hier dürfen Sie schweigen ..." - Zur Ästhetik des Schweigens im Werk Reiner Kunzes
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für deutsche Philologie, Abt. für Neuere deutsche Literaturgeschichte)
Veranstaltung
Hauptseminar: Lyrik der Gegenwart
Note
sehr gut (1,0)
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V79386
ISBN (eBook)
9783638860062
ISBN (Buch)
9783638860956
Dateigröße
430 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hier, Schweigens, Werk, Reiner, Kunzes, Hauptseminar, Lyrik, Gegenwart
Arbeit zitieren
Magister Artium Christoph Hartmann (Autor:in), 2004, "Hier dürfen Sie schweigen ..." - Zur Ästhetik des Schweigens im Werk Reiner Kunzes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79386

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