Zur Lexikalisierung von Wortneubildungen

Chancen und Schranken


Hausarbeit, 2006

29 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Typologisierung
1.1 Wortbildung
1.2 Irregularität/Abweichung

2. Lexikalisiert oder nicht?

3. Ergebnisuntersuchung und -auswertung an bereits bekannten
Lexikalisierungsthesen

4. Mögliche neue Ansätze der Lexikologie

Fazit

Literatur

Anhang 1 - Kontexte

Anhang 2 - Okkasionalismenliste

Einleitung

Die vorliegende Arbeit will den Versuch unternehmen, an bestimmten Beispielen herauszufinden wie Lexikalisierung vonstatten geht, welchen Bedingungen sie unterworfen ist und welche Möglichkeiten sich an diese Bedingungen knüpfen. Anhand dieser Beispiele sollen bereits bestehende Lexikalisierungstheorien überprüft sowie methodische Alternativen erkannt und diskutiert werden.

Zunächst werden dazu aus Texten die hierfür nötigen Beispiele extrahiert. Die verwendeten Texte stammen alle aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, um eine eventuell eingesetzte Lexikalisierung anhand von (bereits erschienenen) Nachschlagewerken überprüfen zu können.

Bevor diese Arbeit jedoch beginnt, ist es vorerst wichtig die Terminologie für den Begriff ‚ Lexikalisierung’ zu klären.

Für Motsch ist es zunächst ein Auswahlprozess der Sprachgemeinschaft, den er über diverse Prinzipien, Grundformen und Beschränkungen, welche diese Auswahl steuern, erläutert und definiert.

Fleischer entwickelt eine Dichotomie aus Speicherung und Demotivation, wobei Speicherung die dauerhafte Ablegung im mentalen Lexikon des Sprechers meint und Demotivation die Schwächung der Einzelbedeutung der Wortkomponenten bei der Wortbildung bezeichnet. Er betont, dass diese beiden Prozesse bei der Lexikalisierung nicht notwendig aneinander gebunden sein müssen, sondern auch getrennt voneinander vorkommen können, jedoch nur in ihrer Dichotomie als Lexikalisierung bezeichnet werden können.

Für die vorliegende Arbeit soll der Begriff Lexikalisierung an diese Interpretation angelehnt, jedoch etwas allgemeiner gefasst und die Demotivation in den Hintergrund gerückt werden, um Platz für neue mögliche Ansätze zu lassen.

Lexikalisierung heißt hier demnach die Übernahme und Speicherung von neuen Benennungen im mentalen Lexikon, d.h. im Gedächtnis, und deren Usualisierung, also ‚ Üblichwerdung’.

1. Typologisierung

Die im Anhang 2 verzeichneten Wörter stammen aus dem in der Einleitung beschriebenen Zeitraum und sollen nun zunächst typologisiert werden.

Wie der Begriff ‚ Wortneubildung’ schon andeutet, sind Okkasionalismen und Neologismen Wörter, die so entweder überhaupt noch nicht vorgekommen sind oder immerhin so neu sind, dass sie noch nicht lexikalisiert sind. In beiden Fällen müssen sie aber erst gebildet werden und genau hier findet sich die Verbindung von Lexikologie und Wortbildung.

Die Wortneubildungen durchlaufen also Wortbildungsprozesse, was es nützlich macht auch hier bei der Untersuchung nach Wortbildungsarten zu differenzieren, um gegebenenfalls eine Lexikalisierungsaffinität zu entdecken.

1.1 Wortbildung

Was aber sind Wortbildungsarten? In der Wortbildung unterscheidet man zunächst den internen Aufbau eines Wortes: ist es aus mehreren Bestandteilen aufgebaut oder nicht. Diese Bestandteile heißen Konstituenten, weil sie das Wort in seiner Struktur erstellen, also konstituieren. Von dieser Vorstellung geht die erste Differenzierung aus: ist das Wort in seiner Struktur durch mehrere (unmittelbare) Kostituenten (uK) erschaffen worden oder nicht, das heißt: gibt es eine uK-Struktur oder nicht. Diese uK-Struktur ist stets binär, was bedeutet, dass jedes Wort zunächst aus zwei Konstituenten besteht, welche wiederum jeweils wieder aus zwei Konstituenten bestehen können und so weiter.

Ist eine uK-Struktur vorhanden, muss man wissen, ob jede uK für sich selbst stehen könnte, also wortfähig ist. Ist dies der Fall, wie in ‚ Blumentopf’ oder ‚ süss-sauer’ nennt man die Wortbildungsart Komposition, also eine Zusammensetzung. Ist nur eine uK selbst wortfähig, wie in ‚ Gleichheit’ oder ‚ gelblich’ nennt man die Wortbildungsart Derivation.

Beide, Komposition und Derivation, lassen sich jeweils noch mal unterscheiden. Ist bei der Komposition eine uK bestimmend und kann man beide uK nicht ohne Bedeutungswandel vertauschen, nennt man dies Determinativkomposition. Eine uK determiniert die Bedeutung des gesamten Wortes. Sind beide uK gleichwertig, so heißt dies Kopulativkomposition.

Die Derivation unterscheidet sich in Präfixderivation (Präfigierung), Suffixderivation (Suffigierung) und kombinatorische Derivation (Zirkumfigierung). Bei Ersterem besteht das Wort aus dem Grundwort und einem Präfix, zum Beispiel ‚ entweihen’, beim Zweiten wird das Grundwort mit einem Suffix kombiniert, zum Beispiel ‚ Gleichheit’, und beim Letzten werden sowohl Präfix, als auch Suffix an das Grundwort angehangen, wie zum Beispiel in ‚ Gerede’.

Hat das Wort keine uK-Struktur, muss man untersuchen, ob sich durch die Wortbildung die Wortart wechselt, aus einem Adjektiv oder einem Verb also zum Beispiel ein Substantiv wird. Ist das der Fall, heißt die Wortbildungsart Konversion. Ein Beispiele wären ‚das Lernen’.

Ist kein Wortwechsel feststellbar bleiben eigentlich nur noch Wörter wie ‚ AG’ oder ‚ TÜV’ übrig, die man dann Reduktionen nennt.

Untersucht man auf diese Merkmale hin unseren Gegenstand, kommt man zu folgendem Ergebnis:

Determinativkomposition: Achsenprofil, Alkoholrechnung, Alltagsarbeit, Arbeitskabinett, Aufsprunghocke, Aussageessenz, Baumwollmillionär, Beifallsbekundungen, Bergmannsbräutigam, Besitzgier, Bewusstseinsstufen, Bezahlungspalaver, Bildungstornister, Bildvision, Blauschatten, Broadwayunterwelt, dogmenfest, Dominikanerpater, Einkommensgruppe, Einzöller-Rohre, Erdfladen, Erdgeschoßräume, Erzählerton, Es-ist-erreicht-Schnurrbart, Fachgenossen, Fahrpolster, Feldmesskunst, Ferientrieb, Filmdokument, Filmgewaltige, Flanelljacke, fototechnisch, Freskenhimmel, Frühlingsbächlein, Gartenpavillion, Gattungsbewusstsein, Gauleiter, Gebefreude, Geberinitiative, geistdurchlichtet, Geldanweisung, Geldschrankknacken, Gelegenheitstheater, Gesamtentwicklung, Gestaltenstrom, Gesellschaftsorganismus, Gewölbemaler, Gipfelhöhe, Glaskonsolen, Gletschernähe, Goldsonne, gradgeschnitten, grundgut, Gutspächter, Handelsmentalität, Handlungsfülle, Hauptakteure, Hauptausgaben, Hauptentscheidung, Hauptviecherei, Hausstandsgeld, heiligerfreut, hinausragenden, hineingeschwindelt, hineinmanipuliert, jungreif, Kalendergeschichte, kasperlbunt, Kasperlschläue, Klosteratmosphäre, Klosterbauten, Kriegsanspannung, Kriminalhumoresken, Kugelgestalt, Kulminationshöhe, Künstlerneid, Kunstschriftsteller, Lebensbeichte, Lebensgesetz, Lebensperioden, Leibl-Zeit, Lichtquanten, luftgeboren, Luxusgebilde, Machtapparatur, Malerschule, Margarinepreis, Massendasein, Meeresbrandung, Mohrengesicht, Nachkriegswirklichkeit, nebelfein, Nordlandfahrt, Normaleuropäer, Odysseusfahrt, Ortungsorgan, Ost-West-Gegensatz, Pantoffelkult, Pappelreihe, Parkvilla, Pelzmädchen, Pionierkameradin, Privatreeder, raumsprengend, Raumsymphonie, Rechensystem, Reportageroman, Riesenmaschinerie, Ritterdienste, Rüstungsmagnat, sagenselig, Sakralarchitektur, Satanstakt, Schaukelmädchen, Schlafkabine, Schnabelmuster, Schulkonvention, Schwellenreißer, seitenfüllend, Seitenschaufenster, Soldatenmantel, Sonderproblem, Sowjetzone, Spätdrama, Spezialbericht, Sprachgefüge, Staatsjugend, stachelstarr, Steinöden, Stahlungsmöglichkeiten, Stuckverzierungen, Theaterbilder, tischgroß, Trambahnfahrt, U-Bootkonstrukteur, Untergangsaussage, Uranspaltung, Vernichtungsgier, Verwirklichungsmöglichkeit, Vierlingsflak, Vorkriegsstandard, Wahlparole, wassergestorben, Weltangst, Weltgebäude, Weltgefühl, Widerruck, Wiedertäuferallüren, Zahnwerk, Zeugungskraft, Zierpantoffel, Zigarrenspitzerl, Zugstücke, Zukunftseinsicht, Zweckbestimmung

Kopulativkomposition: jungreif, sportlich-artistisch, theoretisch-mathematisch, Randsaum

Konversion: die Aperspektivischen, das Bahnbrechende, der Dabeiseier, der Empfehler, das Ernstmachen, der Fabulierer, die Feierlichen, das Feilschen, des Freudemachens, das Geltenlassen, der Heimkehrer, loopten, die Sachkundigen, das Sichhinauftasten, das Sichmessen, die Unübersehbare, Verknautschtes, das Vorbildgeben, Wegweisendes, der Wiederbeleber, das Zahlendürfen, das Zähnefletschen, das Züchten, die Unzuständigen

Präfigierung: das Gelächel, das Geström, Ur-Pantoffel

Suffigierung: Äckerchen, ausschnitthaft, fetzig, Griechentum, Kontrapunktierung, minnesängerlich, Perpetuierung, Roboterhaftigkeit, Römertum, Verlorenheit, wurmhaft, Zeitlosigkeit, zeremonienlos

Zirkumfigierung: Gehüpfe, gehätschelt, mammonistisch, unüberhörbar, unversieglich

Wie zu sehen ist, nimmt die Komposition den Hauptbereich vor der Derivation und der Konversion ein. Dieses Bild findet sich bei Wolfgang Motsch bestätigt[1]. Neben den Wortbildungsprodukten dienen aber auch noch Phraseologismen und Entlehnung der Wortschatzerweiterung. Beispiel aus dem Untersuchungskontext hierfür sind: ‚ Fahrt ins Graue’ und ‚ Broadway-Story’.

Bei ‚ Fahrt ins Graue’ fällt auf, dass es eine Variation des bereits bekannten Ausdrucks ‚Fahrt ins Blaue’ ist, durch die Variation aber mit einer neuen Bedeutung aufgeladen wird. Verbindet man mit einer Fahrt ins Blaue einen spannenden Ausflug ohne ein vorher bestimmtes Ziel, an den man freudige Erwartungen knüpft, so scheint die Fahrt ins Graue aufgrund der mit grau assoziierten Eigenschaften wie trist oder langweilig nicht gerade etwas Schönes zu sein.

Das hier beschriebene Beispiel ist ein Fall von Modifikation. Dieser Begriff bezeichnet eine unerwartete Veränderung eines bisher lexikalisierten Begriffes (dies kann ein Lexem oder, wie in diesem Fall, ein Phraseologismus sein) und dient der Informationsverdichtung, indem man eine bekannte Assoziation mit einer neuen erweitert.

1.2 Irregularität/Abweichung

Modifikation ist ein Beispiel für Abweichung, die ein grundlegendes Merkmal von Okkasionalismen ist und sehr großen Einfluss auf die potenzielle Lexikalisierung eines Begriffes ausübt.

Man bezeichnet ein Wort als abweichend, wenn es die durch den Leser an sich gestellt Erwartungshaltung nicht erfüllt.

Ein weiteres Beispiel aus dem Untersuchungskorpus wäre die ‚ Feldmarschallin’. Der ursprünglich lexikalisierte Begriff ‚ Feldmarschall’ wird durch ‚- in’ feminisiert und erhält den Bedeutungszusatz weiblich. Die ursprüngliche Erwartung des Lesers wird jedoch nicht erfüllt, weil es keinen weiblichen Feldmarschall gibt, denn eigentlich ist die Frau des Feldmarschalls gemeint, die eigentlich als ‚ Frau Feldmarschall’ bezeichnet werden müsste und nicht abweichend mit ‚ Feldmarschallin’.

Man unterscheidet zunächst zwei Arten der Abweichung:

1. die formale Abweichung und
2. die semantisch/pragmatische Abweichung.

Die formale Abweichung lässt sich noch in die morphologische und phonologische Abweichung unterteilen. ‚ Feldmarschallin’ wäre ein Beispiel für die morphologische Abweichung, weil das Endprodukt nicht regulär ist: der Begriff Feldmarschall ist als Einzelwort nur maskulin möglich.

Die oben erwähnte ‚ Fahrt ins Graue’ ist ein Beispiel für die semantisch/pragmatische Abweichung, bei der die eigentliche Bedeutung modifiziert wird.

Oben wurde angeführt, dass die Abweichung Einfluss auf die Lexikalisierungsaffinität ausübt. Warum ist das so?

Um dies zu erklären, muss man ein weiteres Merkmal von Wortneubildungen heranziehen: die Kontextabhängigkeit. Das heißt: ist ein Wort nicht aus sich selbst heraus zu verstehen, muss es durch den ihn umgebenden Kontext erklärt werden. Ein Wort ist umso schwerer aus sich selbst zu verstehen, je stärker es abweicht. Es benötigt daher umso mehr erklärenden Kontext. Da aber der Kontext nicht mitlexikalisiert werden kann, ist ein Wort umso besser zu lexikalisieren, je weniger es abweichend ist und, folglich, je geringer die dazugehörige Menge an erklärendem Kontext ist.

Kurz: ein Neologismus hat größere Chancen ins mentale Lexikon aufgenommen zu werden, je weniger er abweichend ist.[2]

Da sich, wie oben schon erwähnt, die Abweichung stark auf die Lexikalisierungsaffinität auswirkt, macht es Sinn die hier zu untersuchenden Wörter nach dem Abweichungsgrad zu sortieren.

Wie aber stellt man fest, ob ein Wort abweichend ist oder nicht?

Als ersten Schritt trennt man das Basiswort von der Wortbildungsart. (Beispiel: ‚ Äckerchen’ > ‚ Acker’.) Als nächstes nimmt man ähnliche Beispiele derselben Wortart (‚ Hose’, ‚ Haus’, Bohne’, …) und wendet die Wortbildungsart wieder an (‚ Höschen’, Häuschen’, Böhnchen’, …). Existieren diese Beispiele, werden sie benutzt oder funktionieren sie wenigstens, ist das Testwort nicht abweichend und hat Chancen lexikalisiert zu werden.

[...]


[1] Vgl. Motsch, 1983

[2] Vgl. Hohenhaus, ‚Nicht-Lexikalisierbarkeit’

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Zur Lexikalisierung von Wortneubildungen
Untertitel
Chancen und Schranken
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Lexikalisierung
Autor
Jahr
2006
Seiten
29
Katalognummer
V82859
ISBN (eBook)
9783638889605
ISBN (Buch)
9783638889698
Dateigröße
600 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lexikalisierung, Wortneubildungen, Lexikalisierung, Wortbildung, Morphem, Morpheme, Wortbildungsmorphem, Linguistik, Sprachwissenschaft, Sprachwissenschaften, Germanistik, Lexem, Lexikon, Usualisierung, Üblichwerdung, Motivierung, Demotivierung, Wortbildungsmorpheme
Arbeit zitieren
MA Björn Fischer (Autor:in), 2006, Zur Lexikalisierung von Wortneubildungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82859

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