Das Phänomen Kunst - Untersuchung zur Theorie des imaginären Kunstwerks bei Jean-Paul Sartre


Zwischenprüfungsarbeit, 2003

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1. Phänomenologie und Kunst

2. Das semiotische und das materialistische Kunstverständnis

3. Sartres Kunstverständnis
a. Was ist und was kann die Kunst?
b. Der Künstler
c. Der Rezipient

4. kritische Auseinandersetzung mit Sartre

Fazit

Bibliographie

EINLEITUNG

Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht das Kunstverständnis Jean-Paul Sartres. Hier möchte ich vor allem die Position Sartres vom Kunstwerk als imaginärem Phänomen untersuchen. Trotz der großen Vielfalt seiner Themen - Phänomenologie, Ontologie, Existenzphilosophie, Politik, Psychologie uvm. - haben seine philosophischen Werke, Essays, Reden, Dramen und Romane explizit oder implizit immer wieder die Kunst zum Gegenstand. Eine Ästhetik in einem systematischen Sinne hat er allerdings nicht verfasst. Daher ist es schwierig, ihn auf eine Theorie festzulegen, da er manchmal Jahre später Gedanken in einen neuen, aktuellen Zusammenhang gestellt hat. Dennoch gibt es Konstanten, die ich herausstellen möchte.

Ich beginne damit, den Gedanken Lambert Wiesings zu erklären, dass zwischen Phänomenologie und Kunst eine innere Verwandtschaft bestehe. Dabei geht es mir nicht um eine Analyse der Theorien Wiesings. Ich möchte seine Gedanken im Laufe meiner Arbeit dahingehend nutzen, vom Verhältnis von Kunst und Phänomenologie zum Kunst-Verständnis des Phänomenologen und Existenzphilosophen Sartre überzuleiten. Denn Sartres ästhetische Theorie ist eine phänomenologische.

Wiesing stellt sich die Frage, warum sich die Phänomenologie mit der Kunst - vor allem mit der avantgardistischen - so schwer tut. Hier möchte ich kurz die semiotische und die materialistische Position vorstellen. Im Hauptteil meiner Arbeit geht es mir um die Position Sartres, der sich von diesen beiden Ansätzen abgrenzt. Diese Gegenüberstellung ist nützlich, um zu zeigen, dass Sartre der Kunst eine Funktion sui generis geben will, die bei den eben genannten Positionen für ihn nicht gegeben ist.

Anschließend lege ich Sartres Bedingungen für den Kunststatus eines Werkes dar - seien es ein Roman oder ein Bild. Im Vordergrund meiner Untersuchungen steht dabei sein Essay „Was ist Literatur?“, aber ich behalte seine weiteren Publikationen zum Thema Literatur, Malerei und damit Kunst im Allgemeinen dabei im Blick. Was ist Kunst für Sartre? Welche Rolle spielt bei ihm der Künstler? Welche der Rezipient? Welche ausschließliche Funktion hat das Phänomen Kunst bei ihm?

Schließlich werde ich einige kritische Anmerkungen zu Sartre machen und hier auf mögliche Auswege im Werke seines Kollegen und philosophischen Gesprächspartners Maurice Merleau-Ponty verweisen.

1. PHÄNOMENOLOGIE UND KUNST

In „Phänomene im Bild“ stellt Lambert Wiesing zunächst die These auf, dass Phänomenologie und Kunst methodisch verwandt seien. Das erläutert er im Zuge seiner Diskussion des phänomenologischen Bildbegriffs. Seine zweite These ist die, dass Bilder sowohl in den Neuen Medien als auch in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine grundlegende gemeinsame Funktion haben: als Verstärker der Imagination. Dass sich letzteres als eine Funktion der Kunst im Allgemeinen in der Philosophie Jean-Paul Sartres wiederfindet, möchte ich im Laufe meiner Arbeit zeigen. Die Imagination spielt in der Ästhetik Sartres sogar die entscheidende Rolle. Hierauf komme ich jedoch später zu sprechen.

Die Phänomenologie ist nach Wiesing im Wesentlichen aus drei Gründen dazu geeignet, dem Sinn und Zweck von Kunst näher zu kommen:

Zuerst einmal habe Phänomenologie eine Strukturaffinität mit der Kunst - nämlich die Imaginarität[1]. Der phänomenologischen Theorie liege als einer Philosophie der Korrelation -der Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und Gegenständen und damit der reflektierten Wahrnehmung -‚ eine ähnliche Methode wie der Bildbetrachtung zugrunde. Der Bildbetrachter stilisiere, imaginiere und synthetisiere ebenso, wie es der Phänomenologe von alltäglichen Bewusstseinsakten auch annimmt. „Phänomen“ übersetzt man am besten mit „Erscheinung“. Ein Phänomen ist in der Phänomenologie das „Bild“, dass sich ein Subjekt von einem Objekt macht so wie es ihm erscheint. Oder wie Martin Suhr es ausdrückt: „Das Phänomen ist die Einheit von erkennendem Bewußtsein und erkanntem Objek t [2]. Man kann zwar nicht davon ausgehen, dass auch Vorstellungen, bildhaft sind (so als ob wir im Kopf quasi einen Katalog von Bildern hätten). Reflektierte Wahrnehmung, also das Denken, und das Bildbetrachten haben aber laut Wiesing ähnliche „stilistische Strukturen“ und damit nicht unbedingt den gleichen Inhalt, aber eine gleiche Form. Das sagt schon der Volksmund, wenn man üblicherweise sagt: „Von dieser Angelegenheit muss ich mir erst ein Bild machen“. Beide seien also aktive Gestaltungen, bei denen Dinge wie in einem Bild zusammengefasst, in den Mittelpunkt oder Hintergrund gerückt und Übergänge konstruiert würden.[3]

Wie sinnliche Wahrnehmung, Denken und Bildbetrachtung, also Imagination, zusammenhängen, haben Philosophen unterschiedlich aufgefasst. Während die Vertreter der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserl und Jean-Paul Sartre auf je eigene Weise eher das gegensätzliche -aber trotzdem im Zusammenhang stehende - Verhältnis von Wahrnehmung und Imagination interessiert, betont Maurice Merleau-Ponty hingegen besonders die Ähnlichkeit von Wahrnehmungsbildern im Alltag und Imagination bzw. Darstellungsbildern in der Kunst. Für Husserl und Sartre stehen sich das Denken und das Bildbetrachten nahe, für Merleau-Ponty ist das auch schon bei der Wahrnehmung der Fall.

Seien es nun das Denken oder bereits die Wahrnehmung - diese Bewusstseinsakte sind dem des Bildbetrachtens ähnlich. Sie unterscheiden sich nur darin, dass wir uns bei der sinnlichen Wahrnehmung bewusst sind, dass die Gegenstände, die wir sehen, hören, fühlen in Raum und Zeit verankert sind, während wir die imaginären Vorstellungsbilder beim Betrachten eines Bildes, Lesen eines Buches oder beim Nachdenken als ausschließlich in unserem Bewusstsein existierend erkennen. Wir imaginieren auch bei der Wahrnehmung. Oder nehmen vor lauter Präsens eines bestimmten Gegenstandes andere daneben nicht wahr. Schauen wir beispielsweise von vorne auf einen Holztisch, stellen wir uns implizit die Rückseite, die nicht in unserem Sichtfeld liegt, dazu vor. Ein Tischler wird ihn viel präziser wahrnehmen und Einzelheiten, wie die Struktur des Holzes sehen, während ein Schulkind ihn vielleicht nur als Unterlage für seine Hefte ansieht.

Bewusstseinsakte von der sinnlichen Wahrnehmung bis zur Vorstellung haben damit neben der erwähnten Eigenschaft der Imaginarität Wiesing zufolge noch einen weiteren Aspekt gemeinsam: die Synthetizität[4]. Auf die Imagination folgt also die Interpretation. Das Bewusstsein habe eine dynamische Struktur, eine Atmosphäre und werde vom Wahrnehmungs-Kontext beeinflusst. Die Nähe der Phänomenologie zur Gestaltpsychologie möchte ich hier nur erwähnen, aber nicht näher diskutieren. „Auch sie [die Gestalttheorie] hat zu der Einsicht geführt, daß vorbegriffliche Konstantenbildung auf ästhetischen Formprinzipien beruht, in denen das Sinnliche und Sinnhafte eine unzertrennliche Einheit bilden.[5]

Auch in der Philosophie Henri Bergsons findet sich ein solch vereinigender Bildbegriff~ „Der zentrale Begriff der [..] die Kluft zwischen den Vorstellungen und den Gegenständen zu überbrücken helfen soll, ist der Begriff des Bildes.“[6] Bergson will zwischen den Gegensätzen des Idealismus und des Realismus vermitteln, wie es auch die Absicht Merleau-Pontys und Sartres ist. Sartre versucht dies besonders in seiner Konstruktion des Kunstwerks als imaginärem Objekt, was ich später noch aufgreifen werde. Für Bergson hat die Wahrnehmung eine bildliche Struktur und eine verknüpfende Funktion zwischen Außenwelt und Bewusstsein. Sie ist synthetisierend und schöpferisch: „In diesem Prozeß [der Wahrnehmung] ist das Bild eine schöpferische und praktische Auseinandersetzung unserer Sinne und Vorstellungen mit der Welt der Dinge.“[7]

Der dritte Grund, warum die Phänomenologie Wiesing zufolge der Kunst nahe steht, ist der, dass beiden das Merkmal einer Intentionalität zugrunde liegt: „ das Denken in Begriffen als auch das Betrachten eines Bildes ist ein intentionaler Akt. Wer denkt, denkt an etwas; wer ein Bild betrachtet, richtet seinen Blick auf einen dargestellten Gegenstand.“[8] Bewusstsein sei also immer Bewusstsein-von-etwas. Die Verwandtschaft von Denken und Bildbetrachtung dürfe sich allerdings nicht auf das Merkmal der Intentionalität beschränken, denn jedem Bewusstseinsakt liege ja eine Intention zugrunde. So auch dem Lesen oder dem Studieren von Vögeln beispielsweise. Nur verbunden mit dem Merkmal der Imaginarität und dem der Synthetizität sei die These des Verwandtschaftsverhältnisses gerechtfertigt. „Das Denken und das Bildbewußtsein vermeinen ihr intentionales Objekt gleichermaßen als einen imaginären Gegenstand.“[9] Diese Definition lässt sich - denke ich - auf das Betrachten, Hören, Lesen von Kunstwerken im Allgemeinen übertragen.

Betrachte man die von Wiesing genannten Gründe zusammenfassend, so geht er also davon aus, dass Bild-Bewusstsein immer Bewusstsein-von-etwas ist, d.h. das reflektierende Subjekt denkt intentional, und gleichzeitig stilisierend bzw. interpretierend. Damit übernimmt er Gedanken der Phänomenologie. Denken - und bei Merleau-Ponty oder Bergson auch die Wahrnehmung - ist ihr zufolge subjektiv eingefärbt. Bestes Beispiel hierfür ist die Kunst, sie drückt genau diese Subjektivität aus. Und jeder künstlerische Ausdruck, sei er sprachlich oder bildlich, ist zugleich eine Interpretation der Welt und ihres Sinns. Auch in der Phänomenologie gibt es kein Sein an sich, sondern nur Gegebenheitsweisen. Meines Philosophie und vor allem Phänomenologie vollzieht Weltinterpretation auf theoretischer Ebene und die Kunst vollzieht sie auf der angewandten, praktischen. Das ist die Formel, auf die sich das Verwandtschafts-Verhältnis von Kunst und Phänomenologie bringen lässt.

Sartre, wie auch Merleau-Ponty und andere, haben die Phänomenologie in die rechtmäßige Nähe zur Kunst gebracht. Sartre wendet sich dabei sowohl gegen das semiotische als auch gegen das materialistische Kunstverständnis. Abgekürzt kann man ersteres unter „etwas ist für-etwas präsent“ subsumieren, letzteres schlicht unter „etwas“. Diese beiden stelle ich nun kurz vor.

2. DAS SEMIOTISCHE UND DAS MATERIALISTISCHE KUNST VERSTÄNDNIS

Lambert Wiesing stellt in seinem Text das semiotische und das materialistische Sartres Kunstverständnis gegenüber, was plausibel ist, da Sartre sich selber von beiden absetzt. Wiesing erklärt, dass die Phänomenologie sich den Zugang zur modernen, avantgardistischen Kunst versperrt, wenn sie sich ausschließlich auf die Materialität von Kunstwerken konzentriert, wie es beispielsweise Heidegger in seinem Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerkes“ tut.[10] Sie neige nämlich durch die Konzentration auf die konkreten Phänomene, wie Husserl es fordere, zur materialistischen Position. Wiesing referiert dann eine von Nelson Goodman vertretene Position. Goodman sagt, dass die traditionelle philosophische Ästhetik im 20. Jahrhundert ihre Berechtigung verloren habe, da sie die Antwort auf die Frage nach dem Kunststatus im Gegenstand selber suche. Das sei absurd angesichts von sogenannten Ready-Mades, die Alltagsgegenstände als Kunst stilisieren - wie das Urinoir von Marcel Duchamp oder die gestapelten Brillo-Kartons von Andy Warhol.

Nelson Goodman vertritt in seinem Buch „Weisen der Welterzeugung“ die semiotische, bzw. zeichentheoretische Position. Goodman erklärt, dass jedes darstellende Werk ein Symbol sei. Er wendet sich damit gegen die Puristen, für die reine Kunst ohne jeglichen Symbolcharakter ist und nur für sich selber stehe. Für sie ist der Kunststatus im Werk begründet. Damit haben sie eine in diesem Fall ähnliche Ansicht wie Heidegger. So würde aber laut Goodman der Inhalt und die Aussage auch avantgardistischer Kunst vernachlässigt werden. Er will dem materialistischen Dilemma der werkimmanenten Analyse entkommen und wandelt die Frage ‘Was ist Kunst?‘ in ‘Wann ist Kunst?‘ um. Der Kunststatus ist für ihn ein funktionalistischer und von symboltheoretischen Bedingungen abhängig.

[...]


[1] Wiesing, S. 35

[2] Suhr. S. 99

[3] Wiesing, S. 91

[4] ebd., S. 35

[5] Fellmann, S. 18

[6] Vrhunc, S. 136

[7] ebd., S. 162

[8] Wiesing, S. 31

[9] Ders., S. 32

[10] Wiesing, S. 99

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen Kunst - Untersuchung zur Theorie des imaginären Kunstwerks bei Jean-Paul Sartre
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Philosophie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
24
Katalognummer
V84296
ISBN (eBook)
9783638005098
ISBN (Buch)
9783638912570
Dateigröße
499 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Phänomen, Kunst, Untersuchung, Theorie, Kunstwerks, Jean-Paul, Sartre
Arbeit zitieren
Silja Maehl (Autor:in), 2003, Das Phänomen Kunst - Untersuchung zur Theorie des imaginären Kunstwerks bei Jean-Paul Sartre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84296

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