"Komplexe Dynamiken" - Nicht gelingender Alkoholgebrauch und depressive Bewältigungsstrategien im Spiegel unterschiedlicher Disziplinen


Diplomarbeit, 2007

139 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

0. Einleitung

1. Nicht gelingender Alkoholgebrauch
1.1 Begriffsklärungen
1.1.1 Alkoholismus/Alkoholabhängigkeit
1.1.2 Sucht
1.1.3 Nicht gelingender Alkoholgebrauch
1.2 Erklärungsansätze und Typologien
1.2.1 Genetische Dispositionen
1.2.2 Biologische Modelle
1.2.3 Psychologische Erklärungsmodelle
1.2.4 Klinische Sozialarbeit
1.2.5 Typologien und Verlaufsformen
1.3 Gesellschaft und Alkohol

2. Depressive Bewältigungsstrategien
2.1 Begriffsklärungen
2.1.1 Depression/depressive Störung
2.1.2 Depressive Episode
2.1.3 Major Depression
2.1.4 Depressive Bewältigungsstrategien
2.2 Erklärungsansätze und Verlaufsformen
2.2.1 Biologische Erklärungsansätze
2.2.2 Psychologische Erklärungsansätze
2.3 Depressive Bewältigungsstrategien und Gesellschaft

3. Das Verhältnis von Alkoholgebrauch und depressiven Bewältigungsstrategien
3.1 Zusammenhang beider Phänomene
3.2 Die Rolle der Gesellschaft

4. Perspektiven der Sozialen Arbeit
4.1 Kritik am Krankheitskonzept
4.2 Professionelle Handlungsstrategien
4.2.1 Prävention
4.2.2 Repression
4.2.3 Therapie und Überlebenshilfe
4.3 Ausblick

Literaturverzeichnis

0. Einleitung

Die beiden chilenischen Neurobiologen, Maturana und Varela legten in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“ eindrucksvoll dar, dass menschliche Wesen nur in der Sprache menschliche Wesen sind, „und weil wir über die Sprache verfügen, gibt es keine Grenzen dafür, was beschrieben, vorgestellt und miteinander in Zusammenhang gebracht werden kann“ (Maturana/Varela 1987: 229). Diesem Grundsatz werde ich folgen, und in meiner Diplomarbeit die beiden Phänomene „nicht gelingender Alkoholgebrauch“ und „depressive Bewältigungsstrategien“ beschreiben, vorstellen und miteinander in Zusammenhang bringen.

Überblickend möchte ich voranstellen, dass die von mir verwendeten Begriffe des „nicht gelingenden Alkoholgebrauchs“ und der „depressiven Bewältigungsstrategien“ auf das Konzept der Alltags- und Lebensweltorientierung, das vor allem von Hans Thiersch entwickelt wurde, und auf das Konzept der (Lebens)Bewältigung nach Lothar Böhnisch hinweisen. Diese von mir gewählten Termini sind also eingebettet in einen theoretischen Zusammenhang (vgl. Habermas 1990: 12).

Die Sichtweisen unterschiedlicher Disziplinen sollen dazu beitragen ein umfassenderes Bild dieser Phänomene zu bekommen: Alltag beschreibt neben einem praktischen und problematischen Ort, auch „einen theoretischen Ort, also eine Schnittstelle, an der sich unterschiedliche Theoriestränge und Diskussionslinien kreuzen“ (Schulze 1996: 71). Alltag ist nicht nur durch Wiederholungen gekennzeichnet, sondern auch durch Unzulänglichkeiten, Misslingen und durch Entwicklungsmöglichkeiten und Verbesserung (vgl. Schulze 1996: 71 ff.).

Das von mir in der Begrifflichkeit angedeutete bewältigungs- und lebensweltorientierte Professionsverständnis versucht neben allen vorgegebenen gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen zunächst auf das Subjekt in seinen Verhältnissen hinzuweisen, ohne dabei zwingen zu wollen, Angebote zu machen und Optionen für einen gelingenderen Alltag zu eröffnen (vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 122 f.).

In dieser Arbeit werden beide Geschlechter in der Verwendung einer pluralisierten Form von Hauptwörtern durch ein großes I angesprochen: Wenn also beispielsweise von

„SozialarbeiterInnen“ die Rede ist, sind damit mehrere Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, oder eben eine Sozialarbeiterin und ein Sozialarbeiter gemeint. Bei der Verwendung des Singulars habe ich mich vor allem wegen der besseren Lesbarkeit des Textes entschieden, nur die weibliche Form zu verwenden. Wenn nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, kann damit sowohl eine weibliche, als auch eine männliche Personen gemeint sein. „Die Sozialarbeiterin“ spricht also sowohl weibliche als auch männliche VertreterInnen dieser Berufsgruppe an.

Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Die Aufgabe von Wissenschaft kann es nicht sein, endgültige Wahrheiten zu finden und somit ist es auch nicht das Ziel dieser Diplomarbeit eine neue Wahrheit zu finden. Der Versuch, eine vollständige Antwort auf die Fragen der Entstehung dieser Phänomene zu geben, wäre wie Simon treffend formuliert größenwahnsinnig und verrückt (vgl. Simon 2002: 12). Vielmehr steht für mich im Vordergrund, Erklärungsansätze für diese Phänomene herauszuarbeiten und mir die Frage zu stellen, womit wir es hier zu tun haben und wie die Komplexität dieser Phänomene so vereinfacht werden kann, „um Sinnzusammenhänge und Erklärungen konstruieren zu können“ (ebd.), die für die Arbeit mit AdressatInnen nützlich sein können.

Ich bin mir der Problematik und der Komplexität dieses Themas sehr wohl bewusst. Die Erklärungsansätze für die von mir dargelegten Phänomene werden nicht zu einer neuen Wahrheit führen, vielleicht aber zu neuen Wahrheitssegmenten. Dahinter liegt die Überlegung, dass sich Fragen nur beantworten lassen, indem ich eine Neuformulierung dieser Phänomene in andere Kategorien vorschlage, die sich von denen unterscheiden, die in der ursprünglichen Formulierung dieser Frage gebraucht wurden (vgl. Maturana 2000: 330). Ich habe mich also entschieden, die Definitionen „nicht gelingender Alkoholgebrauch“ statt Alkoholismus oder Alkoholabhängigkeit und „depressive Bewältigungsstrategien“ statt Depression oder depressive Störung als primären Zugang zu verwenden. Damit kann sich eine neue Sichtweise auf die Beschreibung der Phänomene ergeben, die in Teilen der Fachwelt mit Begriffen wie Alkoholabhängigkeit/Alkoholismus oder Depression/depressive Störung ausgedrückt werden.

Maturana geht davon aus, dass eine Theorie innerhalb des gebrauchten Vokabulars einen Sachverhalt beschreiben kann und dabei gleichzeitig wesentliche Aspekte des Gesamtgeschehens außer acht lässt – Sprachgebilde sind demzufolge systemische Gebilde, die in sich geschlossen und zirkulär sind (vgl. Lempke 1990: 22).

Der Begriff Alkoholismus etwa lässt sich mit einer Sprache der Moral, einer pathologisierenden Sprache (Sprache der Medizin) oder einer psychotherapeutischen oder psychologischen Sprache beschreiben – alle Ergebnisse werden aber immer nur Teilsegmente eines Phänomens liefern können (vgl. ebd.).

Es hängt mit der Perspektive der sprachlichen Welterschließung zusammen wie sprach- und handlungsfähige Subjekte etwas in der Welt wahrnehmen und damit zurechtkommen (vgl. Habermas 1998: 215). Durch eine Neuformulierung der von mir beschriebenen Phänomene können mitunter die Schwierigkeiten, die sich aus einer rein krankheitsorientierten Sichtweise ergeben, teilweise aufgehoben werden. Dennoch ist es nicht ganz möglich auf die geläufigen Definitionen Alkoholismus/Alkoholabhängigkeit oder Depression/depressive Störung zu verzichten, da diese landläufig die Phänomene beschreiben, mit denen ich mich in dieser Arbeit beschäftige. Außerdem werden diese Definitionen gerne von verschiedenen Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit, wie beispielsweise der Medizin, in ihrer Darstellung verwendet. Wenn ich also diese medizinischen Begriffe verwende, sollen dabei lediglich charakteristische Verhaltens-, Fühl- und Denkmuster beschrieben werden (vgl. Simon 2002: 12).

Forschungszugang

Eine multidisziplinäre, theoretische Arbeit scheint mir für diese Diplomarbeit aufgrund der vielschichtigen, sich wechselseitig beeinflussenden biopsychosozialen Faktoren angebracht zu sein. Eine empirische Arbeit würde bei der Darstellung dieser Phänomene und deren Zusammenhänge zu umfassend ausfallen und müsste sich somit zu sehr auf einzelne Faktoren konzentrieren. Eine empirische Arbeit würde für konkretere Fragen Sinn ergeben, wenn beispielsweise die Zufriedenheit von betroffenen NutzerInnen mit ihren Therapieerfahrungen in Kärnten untersucht werden sollte. Die vorliegende Diplomarbeit könnte somit auch als theoretischer Rahmen für eine empirische Arbeit nützlich sein.

Die umfassende Literatur aus den Gebieten der Medizin, der Psychologie, der Soziologie, der Sozialen Arbeit aber auch der Philosophie, Biologie oder Neurowissenschaften ergeben in einer theoretischen Arbeit die Chance, ein ganzheitlicheres Bild auf diese Phänomene zu geben, die nicht reduktionistisch betrachtet werden sollten. Bei einer multidisziplinären Sicht auf die Phänomene des nicht gelingenden Alkoholgebrauchs, depressiver Bewältigungsstrategien und deren möglichen Zusammenhänge, kann Soziale Arbeit eine integrative Funktion übernehmen, um die Ganzheit eines Menschen in seinem Dasein besser zu berücksichtigen. Mit dieser Arbeit soll einem Reduktionismus auf einzelne Sichtweisen bezüglich der möglichen Ursachen, dem Verlauf und der Bedeutung dieser Phänomene entgegentreten werden. Eine reduktionistische Abgrenzung schädigt die Lebensganzheit des Menschen, zudem wird durch eine einseitige Konzentration auf Einzelheiten der komplexe Zusammenhang des nicht gelingenden Alkoholgebrauchs und/oder depressiver Bewältigungsstrategien außer Acht gelassen.

Das Konzept der Lebensbewältigung von Böhnisch und der Ansatz einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit, wie sie vor allem von Thiersch entwickelt wurde, bietet sich für die Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen an. Sie zeigen den Bezugspunkt der Sozialen Arbeit in der Lebenswelt und im Alltag der Menschen auf, die in ihren gegebenen Verhältnissen nach psychosozialer Handlungsfähigkeit streben (vgl. Galuske 2002a: 24; vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 125). Dabei wird das Zusammenwirken von biopsychosozialen Faktoren in den Mittelpunkt gestellt und versucht die lebensweltliche Dynamik des Handelns aufzuschließen und pädagogisch zu transformieren (vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 126).

Soziale Arbeit kann in diesem speziellen Feld versuchen, ihre AdressatInnen ganzheitlicher zu betrachten und diese Phänomene als alltägliche, normale Lebensbewältigungsstrategien zu sehen, die im Kontext sozialer, psychischer und biologischer Faktoren begründet sein können (vgl. Thiersch 1995: 121). Solche speziellen Lebensbewältigungsmuster sollten zunächst als das betrachtet werden, was sie eigentlich sind: eine Möglichkeit, Aufgaben und Probleme, wie sie sich Menschen im Alltag stellen, bewältigen zu können. Solche Muster gehen zunächst einher mit anderen Deutungs- und Handlungsmuster. Schwierig wird es dann, wenn diese Muster dominant und zum alles beherrschenden Thema werden. Dann kann laut Thiersch von Sucht oder von einer psychischen Störung gesprochen werden (vgl. Thiersch 1995: 124). Im Umgang mit AdressatInnen Sozialer Arbeit ist es daher nötig, diese Lebensbewältigungsstrategien nicht als „nicht normal“ oder „abweichend“ im Sinne einer auf Normen basierenden, defizitären Sichtweise zu betrachten, sondern ressourcenorientiert als alltägliche, dem jeweiligen Menschen in seiner speziellen Lebenslage durchaus verständliche Verhaltensweisen.

Die Darstellung verschiedener Sichtweisen ermöglicht es auch, mögliche Ursachen und Bedeutungen der Phänomene zu benennen und diese in der Arbeit mit AdressatInnen Sozialer Arbeit nutzbar zu machen. Dennoch und unabhängig von meinen Überlegungen ist vorab festzuhalten, dass die Hilfe, die Menschen zu Recht bei den als belastend oder bedrohlich bewerteten Problemen erwarten können, und die ihnen dann auch nach dem wissenschaftlichen Standard der Medizin, Psychologie und der Sozialen Arbeit gewährt werden kann, derzeit noch immer abhängig davon ist, ob diesen Phänomenen die Kategorie einer Krankheit zugemessen wird oder nicht. Bei allen Überlegungen ist es notwendig betroffenen Menschen über Aushandlungsprozesse immer die bestmögliche Behandlungsqualität zu eröffnen, anzubieten und schließlich auch zu gewähren (vgl. Schlösser 1995: 33). Darüber hinaus sollte Soziale Arbeit selbstbewusst ihr hermeneutisches Denken und die daraus gewonnenen Einsichten in die Spezifik lebensweltlicher Erfahrungen auch vor dem Forum naturwissenschaftlicher Vernunft darstellen, verteidigen und nutzbar machen für die Anliegen ihrer AdressatInnen (vgl. Jung 2002: 160).

Aufbau der Arbeit

Im ersten Kapitel gehe ich auf unterschiedliche Erklärungsansätze des nicht gelingenden Alkoholgebrauchs ein. Zuerst werden verschiedene Begriffe geklärt, danach biologische, psychische und soziale Faktoren in Bezug auf Entstehung und Verlauf vorgestellt. Dabei werden mitunter Erklärungsansätze kritisch betrachtet und wie etwa im Kapitel „Psychologische Erklärungsmodelle“ unterschiedliche, beinahe schon gegensätzliche Ansätze gegenüber gestellt.

Das zweite Kapitel befasst sich in ähnlicher Weise mit depressiven Bewältigungsstrategien. Der Blick ist dabei wie in der gesamten Arbeit auch, generell auf eine psychosoziale und gesellschaftliche Einbettung konzentriert, um einer rein psychiatrischen (biologischen) Sichtweise entgegenzutreten. Mir ist wichtig, in der Verwendung von Sprache sensibel zu sein, da Sprache Realitäten schafft, die bald als objektive, menschenunabhängige Wirklichkeit angesehen wird. Besonders auf dem Gebiet der Psychiatrie und Medizin, die sich zwar bemüht neben biologischen auch psychosoziale Faktoren in der Beschreibung ihrer Phänomene einzubringen, besteht meiner Ansicht nach die Gefahr, allgemein akzeptierte Kriterien der Wirklichkeitsanpassung als Gradmesser der geistigen Gesundheit oder Gestörtheit eines Menschen geben zu wollen (vgl. Watzlawick 2005b: 91). Die psychiatrische Sichtweise stellt insofern eine Hintergrundfolie dar, die kritisch hinterfragt wird.

Im dritten Kapitel wird der komplexe Zusammenhang zwischen nicht gelingendem Alkoholgebrauch und depressiven Bewältigungsstrategien dargestellt. Dabei werden unterschiedliche Erklärungsansätze vorgestellt und ein Hauptaugenmerk auf die Rolle der Gesellschaft gelegt. Depressive Leere und die Füllung dieser Leere scheinen ein neues Phänomen massiver Identitätsprobleme zu sein. Depressionen und Sucht können als die Kehrseite der Freiheit, aus unzähligen Möglichkeiten seine eigene Identität gestalten zu können, gesehen werden (vgl. Ehrenberg 2004: 124).

Das vierte Kapitel widmet sich Perspektiven der Sozialen Arbeit. Nach einer kritischen Betrachtung des Krankheitskonzepts, setze ich mich mit professionellen Handlungsstrategien auseinander. In ihrer Arbeit werden auch SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen zunehmender mit Menschen konfrontiert sein, die diese oft schwer nachvollziehbaren Verhaltens- und Bewältigungsmuster aufweisen und somit eines besonderen, professionellen Verständnisses bedürfen. Die hier vorgestellten Erklärungsansätze haben für eine professionelle Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin höchstens den Status, Inbegriff von Vorkenntnissen zu sein, auf die sie in den immer wieder neu bzw. anders zu kontextualisierenden, individuellen Fällen für eine gelingendere Handlungspraxis als Reflexionszusammenhang zurückgreifen kann (vgl. Dewe/Otto 2002: 194).

1. Nicht gelingender Alkoholgebrauch

Für alkoholische Getränke als Drogen, die süchtig machen können, herrscht in der Bevölkerung ein sehr geringes Problembewusstsein vor. Im Hinblick auf die gesamte Drogenproblematik werden in Österreich am häufigsten und selbstverständlichsten alkoholische Getränke konsumiert (vgl. Eisenbach-Stangl 1993: 53). Dem Spitzenplatz der ÖsterreicherInnen beim Alkoholkonsum entspricht auch ein Spitzenplatz bei alkoholbezogenen Problemen. Die spezifischen Konsumgewohnheiten der ÖsterreicherInnen erhöhen das Risiko für zahlreiche Problematiken wie nicht gelingenden Alkoholgebrauch (im Folgenden synonym für Alkoholabhängigkeit/Alkoholismus verwendet) und/oder depressive Bewältigungsstrategien (synonym für Depressionen/depressive Störungen) (vgl. Eisenbach-Stangl 1993: 55).

Der hohe Alkoholkonsum der ÖsterreicherInnen ist keineswegs nur ein Phänomen der Erwachsenenwelt. Laut Feldkirchner Jugendstudie 2004 (Autrata/Scheu 2004) findet bei Feldkirchner Jugendlichen im Alter von 10 - 20 Jahren auch der Konsum legaler Drogen, wie Alkohol, in beträchtlichem Ausmaß statt, mit allen daraus abzuleitenden Gefährdungslagen (vgl. Hönig/Scheu 2006: 70). 64,1% der befragten Jugendlichen trinken in zum Teil größeren Mengen Alkohol. Von denen, die täglich Alkohol konsumieren, trinken etwa 14% mehr als 2 Liter Bier (oder vergleichbare Alkoholmengen) pro Tag. 20,7% der Befragten gaben an, bereits vor dem Erreichen des 10. Lebensjahres erstmals Alkohol getrunken zu haben. Bis zum Alter von 16 haben etwa 56% der Befragten zum ersten Mal Alkohol getrunken (vgl. Hönig/Scheu 2006: 71). Die Studie konstatiert bei Feldkirchner Jugendlichen aufgrund des frühen Alkohol-Erst-Kontakts und des hohen Konsums von alkoholischen Getränken ein ernstzunehmendes Gefährdungspotential (vgl. Hönig/Scheu 2006: 71).

Auch bei der Moosburger Jugendstudie 2006 (Autrata/Hohenwarter/Scheu 2006) gaben 76,3 % der Befragten an, gelegentlich oder sogar jeden Tag in zum Teil größeren Mengen Alkohol zu konsumieren (vgl. Hönig/Scheu 2006: 89).

Was diese Studien belegen, ist seit Siegmund Freud nichts Unbekanntes mehr: Ein scheinbar spezifisches Phänomen ist in Wirklichkeit ein generelles (auch in der Kindheit anzutreffendes) (vgl. Rudolph 2000: 251). Trotzdem irritieren solche Ergebnisse wie einstmals die Aussagen Siegmund Freuds, mit denen er darstellen wollte, dass das Sexualleben keineswegs nur die Erwachsenenwelt betrifft: „Jetzt werden Sie die Perversionen allerdings in einem anderen Lichte sehen und deren Zusammenhang mit dem menschlichen Sexualleben nicht mehr verkennen, aber auf Kosten welcher Überraschungen und für ihr Gefühl peinlicher Inkongruenzen! Sie werden gewiss geneigt sein, zuerst alles zu bestreiten, die Tatsache, dass die Kinder etwas haben, was man als Sexualleben bezeichnen darf, die Richtigkeit unserer Beobachtungen und die Berechtigung an dem Benehmen der Kinder eine Verwandtschaft mit dem, was späterhin als Perversion verurteilt wird, zu finden“ (Freud 1999b: 321).

1.1 Begriffsklärungen

1.1.1 Alkoholismus/Alkoholabhängigkeit

Beim Begriff Alkoholismus handelt es sich um keine nosologische Einheit, sondern um einen Kollektivausdruck für eine ganze Familie von Problemen, die mit Alkohol verwandt sind (vgl. Uhl 2001: 53). Eine, die zu dieser Familie gehört, ist die Depression.

Die Bezeichnung Alkoholismus wird als Ausdruck für das chronische, kontinuierliche Trinken oder den periodischen übermäßigen Konsum von alkoholischen Getränken verwendet. Alkoholismus ist durch mehrere Faktoren gekennzeichnet, vor allem aber durch eine beeinträchtigte Kontrolle über das Trinken, häufige Episoden von Vergiftungen durch Alkohol und die gedankliche Beschäftigung mit diesem Stoff und seinem Konsum trotz nachteiliger Konsequenzen (vgl. Dilling 2002: 9). Magnus Huss verwendete 1849 die Bezeichnung Alkoholismus als erster (vgl. ebd.).

Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff Alkoholismus als Gesamtheit der durch Alkohol und alkoholischen Getränke verursachten Leiden und Krankheiten verwendet (vgl. Falck 1855: 294). Damals wurde schon versucht, Alkoholismus in verschiedene Bereiche bezüglich der Typen und Verlaufsformen zu unterteilen: „Nach ihrem Verlaufe, so wie nach sonstigen Verhältnissen zerfallen dieselben in chronische, acute, so wie in acute-episodische, (…)“ (Falck 1855: 294). Zu dieser Zeit wurde vor allem auf die körperlichen Folgen des Alkoholismus hingewiesen, auch auf so genannte Nervenleiden, wie Demenz, Manie, Halluzinationen, „Hirnerweichung“, „Selbstmordtrieb“ etc., die mit dem übermäßigen Gebrauch von alkoholischen Getränken verbunden wurden (vgl. Falck 1855: 304 ff.).

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden vor allem auf die körperlichen Folgen des lang anhaltenden schweren Trinkens hingewiesen. Schließlich wurde mit verschiedenen Typologien versucht jeden Alkoholkonsum zu kennzeichnen, der zu Schädigungen führt (körperlich, psychisch oder sozial; individuell oder gesellschaftlich relevant) (vgl. Dilling 2002: 9).

Die Bezeichnung Alkoholismus war dennoch stets sehr ungenau und mehrdeutig. Im ICD-10 wird der Begriff deshalb nicht mehr verwendet und unter der Bezeichnung des Alkoholabhängigkeitssyndroms (F10.2) geführt. Diese Bezeichnung sollte von der akuten Intoxikation (F10.0) und dem schädlichen Gebrauch (F10.1.) unterschieden werden. Nach ICD 10 sollte eine Abhängigkeitsdiagnose nur dann gestellt werden, wenn mindestens 3 der folgenden Kriterien während des letzten Jahres vorhanden waren: starker Wunsch oder Zwang zum Konsum, verminderte Kontrollfähigkeit, körperliches Entzugssyndrom, Nachweis einer Toleranz, Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen und anhaltender Substanzkonsum trotz negativer Folgen (vgl. Dilling et al. 2000: 92f.).

1.1.2 Sucht

Der Begriff der Sucht wurde von der WHO im Jahr 1963 durch „Missbrauch“ und „Abhängigkeit von Substanzen“ ersetzt. Die Begriffsänderung zielte darauf ab, die klinisch-medizinisch bedeutsamen Süchte genauer zu beschreiben (vgl. Tretter 1998: 128). Gegenüber diesem Versuch ist kritisch festzuhalten, dass dadurch die Bedeutung der Substanz ein zu starkes Gewicht gegeben wurde. Obwohl der Suchtbegriff vor allem aus medizinischer Sicht als unscharf und umgangssprachlich gesehen wird (vgl. Krausz/Haasen 2004: 13), wird dieser Terminus aber in den letzten Jahren, auch im wissenschaftlichen Kontext wieder häufiger verwendet und umfasst sowohl stoffgebundene wie auch nichtstoffgebundene Süchte (wie etwa Glücksspiel, Magersucht, Kaufsucht) (vgl. Feuerlein et al. 1998: 6).

In Definitionen süchtigen Verhaltens gehen auch soziale und psychische Aspekte in Zusammenhang mit exzessivem Substanzgebrauch hervor, die aber meist psychosoziale Probleme als Folge und nicht als Bedingungen süchtigen Verhaltens verstehen (vgl. Tretter 1998: 128). Ob etwa soziale Bedingungen oder Chancen des Individuums und freie Entfaltungsmöglichkeiten schon vor der Ausbildung von Sucht eingeengt waren, geht aus den Definitionen von Sucht meist nicht hervor.

Sucht steht für ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand auf Kosten biopsychosozialer Ressourcen (vgl. Tretter 1998: 128). Dieses unabweisbare Verlangen kommt auch im Sammelbegriff der französischen Bezeichnung für Sucht zur Geltung: „les toxicomanies“. Manie bezeichnet das Getriebensein, das Betroffensein und Ausgeliefertsein der Betroffenen. Manie ist auch die Bezeichnung für eine psychische Störung. Hier lässt sich in ersten Ansätzen ein Zusammenhang mit Depression erkennen (vgl. Musalek 2004: 3).

1.1.3 Nicht gelingender Alkoholgebrauch

Zunächst einmal will ich den Begriff des „nicht gelingenden Alkoholgebrauchs“ kritisch betrachten. Vielleicht mag der Eindruck entstehen, dass mit dieser Begrifflichkeit der Versuch gestartet wird, ein puritanisches Konzept vom gelingenden Leben zu postulieren (Thiersch 1995: 125). Auch könnte jemand vielleicht einwenden, dass mit Metaphern der Schwäche, des Defizits oder des Nicht-Gelingens ein bestimmtes (defizitäres) Menschenbild vermittelt wird (vgl. Herriger 2002: 70).

Das Empowerment-Konzept zeichnet ein Bild von einem Menschen, als kompetenten Konstrukteur eines gelingenden Alltags: „Der Konsument sozialer Dienstleistungen wird hier nicht mehr (allein) im Fadenkreuz seiner Lebensunfähigkeiten und Hilflosigkeiten wahrgenommen“ (ebd.). Dem habe ich grundsätzlich nichts hinzuzufügen, dennoch schließt diese Sicht nicht aus, dass eine Strategie gelingen oder eben auch nicht gelingen kann. Den Menschen rein von einem idealistischen, positiven, perfekten Standpunkt aus zu betrachten, dem alles gelingt, aber nichts misslingt, halte ich für wenig realistisch und sogar für gefährlich. Menschen machen auch Fehler. Eine Strategie darf auch einmal nicht gelingen, frei nach dem Motto von Cicero bzw. Dörner et al. „cuiusvis hominis est errare“ - „Irren ist menschlich“ (Cicero 1856: 1370; Dörner et al. 2004: 11).

Den Begriff „nicht gelingender Alkoholgebrauch“ habe ich gewählt, weil damit m. E. die biopsychosoziale Ebene treffender ausgedrückt wird als bei den Begriffen Alkoholismus/Alkoholabhängigkeit und Sucht. Dieser Begriff drückt aus, dass es sich bei diesem Phänomen um ein Bewältigungsverhalten handelt, das als Ausdruck des Strebens der Menschen in ihrer Leiblichkeit, nach psychosozialer Handlungsfähigkeit in unserer „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) gesehen werden kann (vgl. Böhnisch 2001b: 29).

Risikofreies Verhalten ist selten geworden, und doch sind Menschen darauf angewiesen, dass ihnen ständig jemand sagt, wo die Gefahren lauern, welche negativen Konsequenzen bestimmte Verhaltensweisen nach sich ziehen können, und wie der Alltag gelingender bewältigt werden kann (vgl. Rauschenbach 1992: 31). Neben Sozialer Arbeit wollen diese Aufgaben verschiedene Bezugswissenschaften, wie Medizin, Psychologie oder Soziologie übernehmen, deren oft unterschiedliche Zugänge ein umfassenderes Bild ergeben können. Bei aller Berechtigung institutionalisierter Hilfen ist es notwendig, die Autonomie und Mündigkeit der Menschen zu wahren. Diese Aufgaben wollen aber auch verschiedene selbsternannte, aus der „Psychowelle“ hervorgetreten „ExpertInnen“, wie „GeistheilerInnen“, „KartenlegerInnen“, „SchamanInnen“ oder sonstige „LebensberaterInnen“ auch mithilfe von TV, Telefon oder Internet übernehmen. Eine Wurzel für die „Psychowelle“ liegt eben darin, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen (Beck 1986: 159).

Die Expertin zur Frage, ob eine Strategie gelingender oder nicht gelingend ist, sollte das Subjekt bleiben. Eine Subjektorientierung macht es nötig, den Menschen im Kontext der Erfahrung seiner Wirklichkeit, als ein handlungsfähiges, emotionales und reflexives Wesen zu sehen (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter 2002: 169; vgl. Richter 2006: 99). Bei aller Konzentration auf das Individuum darf also der gesellschaftliche, alltägliche, lebensweltliche Kontext der Subjekte nicht außer Acht gelassen werden. Die individuelle Dimension des Subjekts kann ohne diese anderen Seiten nicht verstanden werden (vgl. Richter 2006: 100). Darauf weist schon die Bedeutung der lateinischen Wurzel von Sub-ject hin: sub-iecta bzw. sub-iectus heißt übersetzt, die bzw. der unter etwas geworfen ist, im strengeren Sinne unterworfen oder ausgesetzt ist (vgl. Stowasser/Petschenig/Skutsch 1997: 487). Das meint, dass Menschen in ihrer vollen Sinnlichkeit, in ihrem Erleben und ihrer Erfahrung der Wirklichkeit mit ihrer Umwelt verknüpft sind. Es wäre absurd sich ein kontextloses Subjekt oder auch einen subjektlosen Kontext vorzustellen (vgl. Schreiber 1999: 22).

Der Alltagsbegriff von Thiersch impliziert, dass ein Mensch in jedem Moment seiner Gegenwart nur in den Dimensionen seiner räumlichen Erfahrung, in seinem zeitlichen Kontinuum und in den Dimensionen seiner sozialen Kontexte heraus begriffen werden kann (vgl. Thiersch 1992: 50f.). Die Einheit von Kontinuum und Kontext stellt gleichsam die Bühne, den Ort vor, auf der Menschen in historisch gewordenen und veränderbaren Formen und Rollen miteinander agieren (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter 2002: 170). Auf dieser Bühne strengen sich Menschen an um sich selbst zu inszenieren, zu behaupten, darzustellen, anzupassen oder zugewiesene Rollen zu übernehmen. Die verschiedenen Formen des Alkoholgebrauchs oder auch von Depressionen erscheinen in diesem Kontext immer auch als „Ergebnis einer Anstrengung in den gegebenen Verhältnissen zurecht zu kommen, und müssen darin zunächst respektiert werden, auch wenn die Ergebnisse für den Einzelnen und seine Umgebung unglücklich sind“ (Thiersch/Grunwald/Köngeter 2002: 169).

Alltäglichkeit, als ein Moment der Strukturen des Alltags, kann einerseits als ein heuristisches Prinzip, als Rahmenkonzept, das im Konzept der Lebensweltorientierung ihren Ausdruck findet, benutzt werden. Andererseits meint es einen spezifischen Modus des Verstehens und Handelns, eine spezifische Art die Wirklichkeit zu erfahren (vgl. Thiersch 1992: 46). Sie agiert außer in der erfahrenen Zeit und im erfahrenen Raum, auch in erfahrenen sozialen Bezügen, wie Familie, Nachbarschaft, Verwandtschaft oder Gemeinde. Die zur Lebensbewältigung notwendigen Ressourcen und Unterstützungen in schwierigen Lebenssituationen werden hier traditionellerweise gesucht und gefunden. Durch die Erosion von traditionellen Familien-, Nachbarschafts-, oder solidarischen Strukturen, sind Menschen mehr und mehr darauf angewiesen ihre sozialen Ressourcen selbst zu inszenieren (vgl. Thiersch 1992: 50 f.). Alkohol, der kulturell gesehen, auch die Funktion sinnstiftender Identität im Eingebundensein in sozialen Beziehungen hatte, wird somit für manche zum Mittel der Wahl, soziale Bezüge, soziale Ressourcen herzustellen.

Der Alltag im Hinblick auf Alkoholgebrauch ist durch eine doppelte Dimension geprägt. Alltag ist einerseits durch Wiederholungen, Überschaubarkeit, Vertrautheit, durch Routinen und Rituale geprägt: Alltäglichkeit ist also mitunter in Bewältigungsmustern pragmatisch geprägt, das den Menschen eigentlich zur Aufrechterhaltung einer elementaren Ordnung dient, also auch Halt und Sinn verleiht (vgl. Thiersch 1986: 16 f.). Diese Bewältigungsmuster werden ausgehandelt und gelten zwischen den Beteiligten eines sozialen Gefüges (vgl. Thiersch 1986: 17). Alltag ist aber nicht nur durch Wiederholungen und Routinen geprägt, sondern auch durch Entwicklungschancen, Verbesserung, Neues, Unüberschaubares und durch Unzulänglichkeiten und Misslingen (vgl. Schulze 1996: 74).

Die speziellen Handlungs- und Deutungsmusterhaben, wie nicht gelingender Alkoholgebrauch oder auch depressive Bewältigungsstrategien haben immer auch einen gesellschaftlichen Charakter. Die Lebenswelt ist bestimmt durch eine Dialektik des Gelingenden und Verfehlten, als Ergebnis einer Anstrengung, in den gegebenen Verhältnissen zurecht zu kommen (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter 2002: 169 f.). Diese Verhältnisse drücken eine Bedingtheit aus, der ein Mensch in seiner sozialen Existenz unterworfen ist. Erfahrene Wirklichkeit ist immer durch gesellschaftliche Strukturen und Ressourcen bestimmt (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter 2002: 170). In unserer Gegenwart ist die Lebenswelt geprägt durch neue Ungleichheiten, die nicht mehr nach dem Schema von sozialen Klassenunterschieden gesehen werden können, sondern in einer neuen Unmittelbarkeit von Gesellschaft und Individuum (vgl. Beck 1986: 158). Gesellschaftliche Probleme schlagen unmittelbarer in psychische Dispositionen um, es herrscht eine neue Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinn, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen, und immer weniger in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden (vgl. Beck 1986: 158 f.).

Pluralisierung ist ein Stichwort, in denen sich neue Widersprüchlichkeiten erkennen lassen. Pluralisierung von Lebenslagen meint die Unterschiedlichkeit von Lebensstrukturen, also die Unterschiedlichkeit von Strukturen in Wien und Feldkirchen, in Stadt und Land, von Ost und West, Nord und Süd, für Frauen und Männer, Mädchen und Burschen, AusländerInnen, EmigrantInnen und „eingeborenen“ ÖsterreicherInnen (vgl. Thiersch 1992: 20). Mit Pluralisierung ist die Unterschiedlichkeit von Lebensbedingungen verbunden. Die Grunddifferenzen können aber nicht einfach nur mehr im Sinne ökonomischer, beruflicher oder statusbezogener Merkmale ausgemacht werden, sondern sind differenzierter und vielschichtiger (vgl. Thiersch 1992: 21).

Gruppen und Individuen werden zugemutet, ihre Lebensräume bewusst zu inszenieren und den Entwurf des eigenen Lebensplans vor sich und anderen zu verantworten. Dabei wird Lebensbewältigung eine anstrengende Angelegenheit (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter 2002: 171). Menschen sind zur Bewältigung von Problemlagen auch zu sozialen und politischen Koalitionen gezwungen. Koalitionen werden aber punktuell, situations- und themenspezifisch und wechselnd mit unterschiedlichen Gruppen aus unterschiedlichen Lagen geschlossen und wieder aufgelöst (vgl. Beck 1986: 159). In einer individualisierten Gesellschaft kommt es zu einer eigentümlichen Pluralisierung, zu neuen, bunten Konflikten und Koalitionen (vgl. ebd.).

1.2 Erklärungsansätze und Typologien

1.2.1 Genetische Dispositionen

Die Psychiatrie ist bei der Entstehung süchtigen Verhaltens teilweise durchaus überzeugt von genetischen Dispositionen. Dies wird mittels zahlreich durchgeführter Familienstudien zu untermauern versucht (vgl. Gastpar et al. 1999: 28). Aus solchen Studien geht beispielsweise hervor, dass insbesondere Alkoholismus familiär gehäuft auftritt. Ist ein Elternteil von Alkoholismus betroffen, ist das Risiko für die Kinder für diese Abhängigkeit höher, als bei gesunden Elternteilen (vgl. ebd.). Auch Zwillingsuntersuchungen und Adoptionsstudien ergeben eindeutige genetische Komponenten (vgl. ebd.). Kontrollierte Verlaufsstudien, wie etwa von Zerbin-Rüdin (1985), zeigten bei Söhnen von AlkoholikerInnen, die gleich nach der Geburt adoptiert wurden und keinen Kontakt zu ihren biologischen Eltern mehr hatten, dass sie im Vergleich zu adoptierten Kindern von nicht alkoholabhängigen Eltern ein 4-fach höheres Alkoholismusrisiko aufwiesen. Söhne von alkoholabhängigen Menschen, die zu Hause aufwuchsen erkrankten dabei aber nicht häufiger an Alkoholismus als ihre adoptierten Brüder. Studien an eineiigen Zwillingen zeigten, dass die Konkordanzrate für Alkoholismus etwa 60% beträgt (vgl. Tretter 1998: 132 f.).

KritikerInnen sehen die Ergebnisse solcher Untersuchungen als ziemlich widersprüchlich, sprechen sich wegen großer Differenzen in den Ergebnissen, die methodenbedingt aufgrund unterschiedlicher Stichproben und Diagnosekriterien verursacht werden, zusammenfassend höchstens für eine gewisse genetische Komponente als Determinante von Alkoholabhängigkeit aus (vgl. Köhler 2000: 56; vgl. Tretter 1998: 133).

In der Frage, ob es ein so genanntes „Suchtgen“ gibt, haben ForscherInnen bislang trotz intensiver Bemühungen ein solches zu entdecken, noch keine Beweise liefern können. Weder konnten bei Alkoholabhängigen Besonderheiten im Genom, noch Besonderheiten in bestimmten Genen nachgewiesen werden (vgl. Köhler 2000: 56).

Das Beispiel der genetischen Dispositionen als ursachenorientierte Erklärungssätze für so manche Störungen und Abweichungen, kann als Suche nach den „eigentlichen Ursachen“ angesehen werden. Diese Suche setzt möglichst früh an, im Erbgut oder zumindest in der frühkindlichen Erfahrung, bis gewisse ExpertInnen eben auf die „wirklich grundlegende Ursache“ stoßen, die für die jeweilige Perspektive passt (vgl. Böhnisch 1994: 175). Diese Hypothesen sind so groß und unüberschaubar, zumal von den geschätzten 50.000 bis 100.000 Genen, die das Erbgut eines Menschen ausmachen, bislang erst ein wenig mehr als 2000 identifiziert sind (vgl. Schott 2000: 326).

Die Hauptursachen der Abhängigkeitsentwicklung können trotz des Fortschritts der neurobiologischen Forschungen zu physiologischen Mechanismen ohnehin nicht aufgedeckt werden. Bei diesen Befunden kann es sich nur um Korrelate der Abhängigkeitsentwicklung handeln. Auch bei einem eventuellen Nachweis einer genetischen Basis würde die Frage stehen bleiben, welchen Nutzen dieser im Umgang mit den Menschen haben könnte. Psychosoziale Aspekte werden weiterhin immer ein wichtiger Bereich für die Arbeit mit Betroffenen bleiben (vgl. Tretter 1998: 135).

Genetische Einflussfaktoren, die auf das Verhalten einwirken, sind alles andere als unveränderlich und ein für alle mal festgelegt. Die Menschen sind ihren Genen niemals restlos ausgeliefert, denn „genetische und Umwelteinflüsse wirken absolut untrennbar zusammen [und] zwischen Anlage und Erziehung entfaltet sich von den ersten Augenblicken der Entwicklung an eine dynamische Wechselwirkung“ (Solms/Turnbull 2007: 230). Es wäre ein voreiliger und gefährlicher Schluss, sofort auf eine erbliche Belastung alleine zu schließen, wenn beispielsweise ein Elternteil oder beide alkoholabhängig waren (vgl. Brandt 1975: 110). Die Umwelteinflüsse von Kindern aus suchtbelasteten Familien können einen ungünstigen Umweltfaktor darstellen und ihre Entwicklung beeinflussen, jedoch ist ein Mensch in seinen Handlungs- und Deutungsmustern prinzipiell immer wandlungsfähig. Durch die Mobilisierung und Eröffnung innerer und äußerer Ressourcen sind gelingerende Muster der Lebensbewältigung möglich (vgl. Brandt 1975: 110f.).

1.2.2 Biologische Modelle

Ein Kernpunkt biologischer Theoriebildung zur Abhängigkeit ist die Annahme eines so genannten Belohnungssystems im Gehirn, auf das der Alkohol in verschiedenartiger Weise Einfluss nimmt (vgl. Küfner/Bühringer 1997: 463). Hier werden vor allem neurochemische Prozesse für die Entstehung von Abhängigkeit verantwortlich gemacht. Hierbei wesentlich ist die Annahme, dass Alkohol unter anderem die Fähigkeit besitzt, seinen Konsum positiv zu verstärken (vgl. Heinz et al. 2003: 47). Unter positiver Verstärkung wird verstanden, dass der Alkoholkonsum positive Wirkungen auslöst, die die weitere Einnahmewahrscheinlichkeit erhöhen. Verantwortlich dafür ist die drogeninduzierte Stimulation einer Dopaminfreisetzung in einer Region des Gehirns, die als wesentlicher Teil des so genannten (dopaminergen) Belohnungs- oder Verstärkungssystems gesehen wird (vgl. ebd.).

In diesem Zusammenhang spielt auch das so genannte endorphinerge System eine wesentliche Rolle. Die euphorisierende Wirkung des Alkohols wird einer Aktivierung endophinerger Neuronen zugeschrieben. Durch Freisetzung der Endorphine wird die Aktivität dopaminerger Neuronen indirekt stimuliert (vgl. Gastpar et al. 1999: 35). Dadurch ergeben sich verschiedene Hypothesen, die beispielsweise besagen, dass die Ausschüttung der Endorphine den Wunsch nach weiterem Alkohol, zuletzt nach exzessiven Mengen verstärkt. Der Mensch entwickelt somit eine Toleranz (vgl. Gastpar et al. 1999: 35). Toleranz kann „als Rechtsverschiebung der Dosiswirkungskurve nach wiederholter Drogeneinnahme“ beschrieben werden (Gastpar et. al. 1999: 34). Durch die wiederholte Einnahme der Substanz beginnt sich der Körper also daran zu gewöhnen und das bewirkt ein vermindertes Ansprechen, was eine Dosissteigerung erforderlich macht, um die gleiche Wirkung zu erzielen (vgl. Pschyrembel 2002: 1667). Toleranz lässt sich unter anderem auch dadurch erklären, dass auf neuronaler Ebene die Wirkung der Droge direkt abgeschwächt wird, was z.B. zur Verminderung der Verstärkerwirkung führt (vgl. Gastpar et al. 1999: 34).

Auch eine serotonerge Funktionsstörung wird mit der Entwicklung und dem Verlauf der Alkoholabhängigkeit in Zusammenhang gebracht (vgl. Heinz et al. 2003: 81). Interessant dabei ist, dass eine serotonerge Funktionsstörung mit negativen Gefühlszuständen, wie Depressivität verbunden wird. Der Aktivität des serotonergen System kommt eine wesentliche Rolle bei Handlungsmustern wie Nahrungsaufnahme und Verdauung, Entspannung, Wachstum, Schlaf und passives Verhalten zu (vgl. ebd.). So kann es sein, dass bei erhöhter seretonerger Transmission die Situation subjektiv eher als positiv empfunden wird, bei verminderter Transmission eher als negativ, sodass sich depressive Verhaltensmuster bzw. erhöhter Alkoholkonsum erklären lassen können (vgl. Heinz et al. 2003: 82). In diesem Zusammenhang wird noch darauf hingewiesen, dass eine serotonerge Störung sowohl primär bestehen kann, als auch durch chronischen Alkoholkonsum hervorgerufen werden kann (vgl. ebd.). Dieses Transmittersystem hat also in neurobiologischen Erklärungsansätzen eine Bedeutung auch beim Zusammenhang zwischen Alkoholabhängigkeit und Depression.

Medizinisch-biologische Modelle haben mit der Entwicklung von Medikamenten, die komplexe Aktivitäten des Gehirns beeinflussen, zum Erfolg bei der Behandlung der Alkoholabhängigkeit oder auch von Depressionen beigetragen. Solche Modelle stehen aber im Verdacht durch eine reduktionistische Sichtweise psycho-soziale Faktoren auszublenden und das Heil vor allem in Medikamenten und in der Abstinenz zu sehen (vgl. Lempke 1990: 21f.; vgl. Clausen et al. 1997: 77f.).

1.2.3 Psychologische Erklärungsmodelle

Sucht als erlerntes Verhalten

Psychologische Erklärungsansätze verstehen exzessiven Alkoholkonsum mitunter auch als erlerntes Verhalten, das allgemeinen Lernprozessen unterliegt und von der Persönlichkeitsausgestaltung, den Lebensumständen und Sozialisationsbedingungen bestimmt wird. Betont wird hier vor allem die entspannende, entlastende und somit die belohnende Wirkung des Alkohols. Je häufiger also Alkohol getrunken wird und darauf eine Belohnung wie Entspannung folgt, umso mehr wird angenommen, dass Alkoholtrinken sich als Verhalten verfestigt (vgl. Kryspin-Exner 1998: 374). Alkoholabhängigkeit wird hier als eine Verhaltensstörung bezeichnet. Der Alkohol wurde aufgrund seiner mit ihm verbundenen positiven Erfahrungen zum klassisch konditionierten Verstärker, und mittels negativer Verstärker kann dieses Verhalten wieder umkonditioniert werden (vgl. Küfner/Bühringer 1997: 466).

Neuerdings verstehen sich die Verhaltenspsychologie oder der Behaviorismus als Teilbereiche der Sozialpsychologie. Diese Lerntheorien gehen davon aus, dass prinzipiell jeder Mensch alles erlernen, aber auch wieder verlernen kann, sofern die entsprechenden Umweltbedingungen hergestellt werden (vgl. Frey/Greif 1997: 40).

Behavioristen interessieren sich für die Regelhaftigkeiten, mit der Verhaltensweisen in bestimmten Reizsituationen auftreten, z.B. wann, unter welchen Umständen ein Mensch Alkohol trinkt. Auf welchen Reiz X folgt vorhersehbar die Reaktion Y. Hier wird daher auch von Reiz-Reaktionspsychologie gesprochen (vgl. Engelkamp et al. 2006: 2).

Die klassische Konditionierung wird als eine grundlegende Form des Lernens betrachtet, bei der ein Reiz oder ein Ereignis das Auftreten eines anderen Reizes oder Ereignisses vorhersagen kann (vgl. Zimbardo/Gerrig 1999: 209). Das klassische Konditionierungsmodell besagt, dass neutrale Stimuli wegen ihrer Koppelung mit der Alkoholzufuhr selbst zu Auslösern für das Trinken werden können (vgl. Kryspin-Exner 1998: 374). Eine Geburtstagsfeier oder ein Gasthaus als neutraler Stimulus, verbunden mit Alkoholkonsum kann also dazu führen, dass eine Geburtstagsfeier oder ein Gasthaus immer mit Alkoholkonsum in Verbindung gebracht werden und somit als Auslöser für das Trinken fungieren. Wie beim Pawlowschen Hund wird also ein vormals neutraler Stimulus für einen Menschen zum Auslöser für ein bestimmtes Verhalten. Hier wird bekräftigt, dass die Kopplung eines Verhaltens mit einem positiven Verstärker die Auftretenswahrscheinlichkeit dieses Verhaltens erhöht.

Dieses allmächtige Verstärkerprinzip wird aber durch verschiedene Befunde in Frage gestellt. So wurde beispielsweise nachgewiesen, dass Kinder einen Teil ihres Interesses verlieren, wenn ihnen Belohnungen von außen für die Ausführungen versprochen werden. Hier tritt also der Fall ein, dass die positive Wirkung sich umkehrt (vgl. Rudolph 2000: 254). Problematisch ist auch das Menschenbild, das durch behavioristische oder ähnliche Ansichten vermittelt wird. Der Mensch gilt als ein von außen, durch gewisse Umweltreize in seinen Reaktionen gesteuertes Wesen. Nach Ansicht von Lazarus hat der radikale behavioristische Standpunkt, die Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten definierte, die psychologische Forschung und Theoriebildung über 50 Jahre dominiert und ernsthaft behindert (vgl. Lazarus 2005: 231).

Für die Entwicklung und Aufrechtrechterhaltung der „Verhaltensstörung“ Alkoholabhängigkeit wird dem Belohnungssystem eine wesentliche Rolle zugesprochen (vgl. Scholz/Steinberger 2004: 121). Das Belohnungssystem wird als ein Funktionssystem verstanden, das für spezielle Verhaltens- und Konsummuster verantwortlich ist und dementsprechend eine hohe Bedeutung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Suchtprozessen hat (vgl. ebd.). Die Betroffenen entwickeln demnach ein meist lebenslang andauerndes Suchtmittelverlangen, das selbst nach jahrelanger Abstinenz durch verschiedene biopsychosoziale „Turbulenzen“ wieder einsetzen kann (vgl. Scholz/Steinberger 2004: 121/129f.). Durch solche Überlegungen liegen Meinungen begründet, die eine lebenslange Abstinenz fordern und etwa kontrolliertes Trinken als zu risikoreich einschätzen (vgl. Küfner/Bühringer 1997: 476f.). „Krankheitseinsicht“ wird so zum Ziel und/oder Vorraussetzung einer erfolgreichen Therapie und lässt sich folgendermaßen definieren: Die betroffene Person muss ein erstes Problembewusstsein entwickeln und die Vorstellung eines kontrollierten Trinkens aufgeben (vgl. Küfner/Bühringer 1997: 477).

In der Neurowissenschaft wird heute statt vom Belohnungssystem mehr vom so genannten SUCH-System gesprochen, das mit Neugierde, Interesse und Erwartung zusammenhängt (vgl. Solms/Turnbull 2007: 130). Dieses System wird bei sexueller Erregung und anderen Appetenzzuständen, wenn es jemanden beispielsweise nach einem Glas Rotwein gelüstet, aktiviert. Gewisse Bedürfnisse werden von hypothalamischen Systemen erzeugt und diese Bedürfnisse aktivieren das SUCH-System (vgl. Solms/Turnbull 2007: 130ff.). Wenn also, um es anders auszudrücken, „die Systeme, die als Bedürfnisdetektoren fungieren, registrieren, dass einer der von ihnen überwachten homöostatischen Mechanismen nicht mehr im „Normbereich“ ist, aktiviert sie Such- oder Appetenzverhalten, um ihn zu korrigieren“ (Solms/Turnbull 2007: 132). Da das SUCH-System sehr beliebig und unkoordiniert nach „irgendetwas da draußen“ sucht, muss es mit anderen Systemen interagieren:

Das SUCH-System ist mit dem Gedächtnissystem aufs engste verbunden; eine solche Erweiterung wird in der Neurowissenschaft als LUST-System bezeichnet, das früher als Belohnungs- oder Verstärkungssystem definiert wurde (vgl. Solms/Turnbull 2007: 133). Die Funktion dieses Systems hat mit der Befriedigung der Bedürfnisse, die das SUCH-System aktivieren zu tun und die Stimulierung wird durch das Endorphin gesteuert (vgl. Solms/Turnbull 2007: 133f.).

Das SUCH- und das LUST-System sind so beschaffen, dass sie Lernen fördern bzw. motivieren, die Fähigkeiten zu erwerben, die zur Befriedigung innerer Bedürfnisse in der Außenwelt notwendig sind. Die belohnende Eigenschaft motiviert auch, die Arbeit zu leisten, die zur Realisierung der biologischen Bedürfnisse notwendig sind (vgl. Solms/Turnbull 2007: 135f.). Die Lust um der Lust willen erfüllt jedoch keinen biologischen Zweck und Drogen regen das SUCH-System an und wecken dadurch künstliche Erwartungen oder stimulieren direkt die Lustzentren. Alkohol und andere Drogen erzeugen laut Solms und Turnbull „pseudobefriedigende Verhaltensweisen (und entsprechende lustvolle Sensationen), die keinen biologischen Zweck erfüllen“ (Solms/Turnbull 2007: 136). Die Gefahr liegt nun darin, dass die Präokkupiertheit mit der Droge alles andere, auch alle übrigen biologisch nützlichen Verhaltensweisen ausschalten kann. Das SUCH- und das LUST-System können sich an Alkohol gewöhnen und immer mehr Mengen werden erforderlich, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Alkohol kann unter anderem das Gehirn und das Körpergewebe auch auf andere, direktere Weise schädigen (z.B. Vergiftungserscheinungen) (vgl. Solms/Turnbull 2007: 328f.).

Die Coping Theorie

Die Coping Theorie stammt ursprünglich aus der Stressforschung und ist eine wesentliche Grundlage für das Konzept der (Lebens-)Bewältigung in der Sozialen Arbeit (vgl. Böhnisch 2001b: 31). Die Coping Theorie geht laut Böhnisch „von dem Befund aus, das die Bewältigung von Stresszuständen und kritischen Lebensereignissen so strukturiert ist, dass der Mensch aus somatisch aktivierten Antrieben heraus nach der Wiedererlangung eines Gleichgewichtszustandes um jeden Preis strebt“ (ebd.). Das sozialpädagogische Konzept der Lebensbewältigung ging also ursprünglich aus der Coping Forschung hervor, wurde aber von Böhnisch von Beginn an in den Kontext des Strukturwandels des Sozialstaats gestellt (vgl. Lenz/Schefold/Schröer 2004: 11). Die Einschätzung von Böhnisch über die Coping Theorie ist etwas verkürzt und meines Erachtens ungenau. Auch deshalb werde ich diese Grundlage des Konzepts der (Lebens-)Bewältigung etwas näher beleuchten.

Bewältigung oder Coping umfasst nach Lazarus und Launier (1978/1981) die Anstrengungen einer Person, mit stressrelevanten Situationen fertig zu werden (vgl. Jerusalem 1990: 14). Diese Anstrengungen können grundsätzlich zwei unterschiedliche Funktionen erfüllen (vgl. ebd.):

- eine positive Veränderung der Problemlage oder
- eine Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit.
Diese Funktionen können wiederum durch vier unterschiedliche Arten von Bewältigung angestrebt werden (ebd.):
- Informationssuche,
- direkte Handlung,
- Unterdrückung von Handlungen und
- intrapsychische Prozesse.

Weiters werden Aspekte der zeitlichen und thematischen Orientierung differenziert (Bewältigung vergangener Ereignisse/Verlust - Bewältigung zukünftiger Ereignisse/Herausforderung oder Bedrohung), sowie unterschieden, ob die Veränderungen eher die Umwelt oder die eigene Person betreffen (vgl. Jerusalem 1990: 14). Weitere Ausdifferenzierungen dieses Modells schlagen acht empirisch ermittelte Arten von Bewältigungsversuchen vor (vgl. Jerusalem 1990: 15):

- konfrontative Bewältigung,
- kognitive Distanzierung,
- Selbstkontrolle,
- Suche nach sozialer Unterstützung,
- Übernahme von Verantwortung,
- Fluchtvermeidung,
- problembezogene Lösungsversuche und
- positive Neueinschätzungen.

Die Entstehung von stressrelevanten Ereignissen hängt dabei stark mit den subjektiven Bedeutungen bestimmter Situationen zusammen, die sich aus Bewertungsprozessen von Menschen in ihrer Beziehung zur Umwelt ergeben (vgl. Lazarus 2005: 233 ff.).

Bewertungen werden dabei im Wesentlichen auf zwei Weisen vorgenommen: Es kann sich dabei um einen überlegten und weitgehend bewussten Prozess handeln oder aber um einen intuitiven, automatischen und unbewussten (vgl. Lazarus 2005: 246). Von somatisch aktiviertem Antrieb, wie Böhnisch zu sprechen, halte ich in diesem Zusammenhang als nicht passend, obgleich es verwundern mag, dass viele Bewertungsprozesse mit einer großen Geschwindigkeit zustande kommen (vgl. ebd.).

Nicht die Situation an sich ist für Stress ausschlaggebend, sondern die Art und Weise wie Menschen bestimmte Situationen bewerten. Menschen beurteilen ihre Beziehung zur Umwelt ständig im Hinblick auf die Implikationen, die sich daraus für ihr Wohlbefinden ergeben (vgl. Lazarus 2005: 235).

In der Lazarusschen Sichtweise von Bewertung handelt es sich um einen modifizierten Subjektivismus. Menschen stehen dabei in Auseinandersetzung mit zwei komplementären Bezugssystemen: Das Geschehen soll so realistisch wie möglich gesehen werden, um es bewältigen zu können - und das Geschehen soll im bestmöglichen Licht gesehen werden, um nicht Hoffnung und Zuversicht zu verlieren; Bewertung ist ein Kompromiss zwischen dem Leben, wie es ist und wie Menschen es gern hätten. Eine erfolgreiche Bewältigung hängt von beiden Aspekten ab (vgl. Lazarus 2005: 235).

Lazarus hebt beim Akt des Bewertens zwei Formen hervor: primäres und sekundäres Bewerten (vgl. Lazarus 2005: 236). Der Begriff primäre Bewertung wird für die anfängliche Einschätzung der Ernsthaftigkeit einer Situation verwendet (vgl. Zimbardo/Gerrig 1999: 376). Es zeigt also einen Prozess auf, in dem es darum geht, ob ein Geschehen für die Wertvorstellungen, Zielverpflichtungen und Überzeugungen einer Person bezüglich sich selbst und der Welt, sowie für ihre situationsbedingten Absichten relevant ist – und wenn ja, in welcher Weise (vgl. Lazarus 2005: 236). Die wesentliche Frage, die sich ein Mensch hier stellt ist die, ob etwas auf dem Spiel steht, und falls ja, was hat der Mensch dann zu erwarten. Steht aber nichts auf dem Spiel bzw. ist die Transaktion für das Wohlbefinden nicht von Belang, hat sich die Angelegenheit erledigt (vgl. Lazarus 2005: 238).

Wird nun eine stressrelevante Situation als herausfordernd, bedrohlich oder schädigend bewertet, kommt es in aktiver Wechselbeziehung zu dieser primären Bewertung, in der sekundären Bewertung zur Frage, was gegen eine gestörte Person-Umwelt Beziehung getan werden kann (vgl. Lazarus 2005: 238 f.). Hier überprüft die Person anhand verfügbarer Bewältigungsmöglichkeiten, welche körperlichen, psychologischen, sozialen oder materiellen Ressourcen sie besitzt, die zur Bewältigung eingesetzt werden können (vgl. Jerusalem 1990: 11). Dabei können beispielsweise soziale Unterstützungssysteme, körperliche Gesundheit, eigene Fähigkeiten, Vertrauen, Geld oder Selbstwirksamkeit Aspekte sein, die bei der Bewältigung hilfreich sind (vgl. ebd.).

Schädigungsbewertungen beziehen sich dabei auf einen Schaden, der bereits entstanden ist, können aber auch Bedrohungskomponenten für die Zukunft beinhalten, wobei Bedrohungsbewertungen sich auf die Möglichkeit beziehen, dass ein Schaden in der Zukunft eintritt (vgl. Lazarus 2005: 238 f.). Eine Situation wird dann als herausfordernd bewertet, wenn sich die Person aufgefordert und in der Lage fühlt, erfolgreich gegen Hindernisse anzugehen und sich dem Kampf vielleicht sogar freudig zu stellen (vgl. Lazarus 2005: 239). Ob eine Person eher zur Bedrohungsbewertung oder zur Herausforderungsbewertung neigt, hängt eng mit Selbstvertrauen oder Selbstwirksamkeit zusammen (vgl. ebd.).

Selbstwirksamkeit wird beschrieben, als die subjektive Überzeugung eines Individuums, ein bestimmtes Verhalten ausüben zu können (vgl. Jonas/Brömer 2002: 278). Von der wahrgenommenen Selbstwirksamkeit hängt es ab, für welche Verhaltensweisen sich Individuen entscheiden, wie viel Energie sie in die betreffende Verhaltensweise investieren, ob verhaltensförderliche oder -hinderliche Kognitionen ablaufen, welches Ausmaß an Stress erlebt wird und wie sie mit Rückschlägen fertig werden (vgl. ebd.). Je mehr also eine Person, sich die Überwindung von Gefahren und Hindernissen zutraut, desto eher wird sie sich herausgefordert anstatt bedroht fühlen; Gefühle der Unzulänglichkeit führen eher zur Bedrohungsbewertung (vgl. Lazarus 2005: 239). Solche Beurteilungen und die persönliche Bedeutung, die eine Person einer gestörten Person-Umwelt Beziehung beimisst, stellen den zentralen kognitiven Unterbau des Bewältigungshandelns dar (vgl. Lazarus 2005: 238).

Bewältigung wird als fortwährend sich wandelnde kognitive und verhaltensbezogene Anstrengung beschrieben, um bestimmte externer und/oder interner Anforderungen zu handhaben, die von den betroffenen Menschen als Ressourcen belastend oder überlastend bewertet werden (vgl. Lazarus 2005: 239 f.). Laut Lazarus gibt es keine Bewältigungsstrategie, die unter allen Umständen effektiv oder ineffektiv wäre. Die Effektivität jeder Bewältigungsstrategie ist kontextbezogen und hängt von der Person selbst, vom Belastungsgrad, von der Art der Bedrohung ab. Sie hängt weiters von der Form des angestrebten Resultats ab, also davon, ob es sich um subjektives Wohlbefinden, soziale Funktionsfähigkeit oder körperliche Gesundheit handelt (vgl. Lazarus 2005: 240).

Es gibt zwei Hauptfunktionen der Bewältigung, die Lazarus als problemfokussiert und emotionsfokussiert bezeichnet (vgl. Lazarus 2005: 242). Beide Funktionen sollten aber nicht einfach als eigenständige Typen des Bewältigungshandelns verstanden werden, denn diese können sich durchaus wechselseitig bedingen (vgl. Lazarus 2005: 243). Außerdem macht es keinen Sinn, die eine Funktion als nützlicher zu bezeichnen als die andere, sondern es ist das „Zusammenwirken von Denken, Wollen, Gefühlen, Handeln und den Realitäten der Umwelt, das darüber entscheidet, ob die Bewältigung zum Erfolg führt oder nicht“ (Lazarus 2005: 244).

[...]

Ende der Leseprobe aus 139 Seiten

Details

Titel
"Komplexe Dynamiken" - Nicht gelingender Alkoholgebrauch und depressive Bewältigungsstrategien im Spiegel unterschiedlicher Disziplinen
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
139
Katalognummer
V85819
ISBN (eBook)
9783638900737
ISBN (Buch)
9783638903769
Dateigröße
919 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Komplexe, Dynamiken, Nicht, Alkoholgebrauch, Bewältigungsstrategien, Spiegel, Disziplinen
Arbeit zitieren
Mag. (FH) Wolfgang Grabler (Autor:in), 2007, "Komplexe Dynamiken" - Nicht gelingender Alkoholgebrauch und depressive Bewältigungsstrategien im Spiegel unterschiedlicher Disziplinen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85819

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