Die 'Thanatopraxis' der modernen Gesellschaft


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Das Wissen um den Tod

3 Umgang der Gesellschaft und ihrer Mitglieder mit dem Tod
3.1 allgemeine Überlegungen
3.1.2 Der Tod einer Gesellschaft
3.1.3 Das Verhältnis von Tod und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen

4 Die Antwort der Moderne in Differenz zur Vormoderne
4.1 Wandel der sozialen Ordnung durch den Tod
4.2 Die fundamentalen Strukturveränderungen und ihre Folgen

5 Die Theorie der Verdrängung des Todes, auch der Tabuisierung des Todes
5.1 Pro-Argumente
5.2 Contra-Argumente

6 Zusammenfassung und Ausblick

7 Literatur

“Die Gewissheit des Todes wird durch die Ungewissheit seines Eintretens gemildert.“

Jean de la Buyere

1 Einführung

Der westlich zivilisierte Mensch wird heute in unzähligen Medienberichten permanent mit Tod und Gewalt konfrontiert, ohne wirkliche Erfahrungen damit zu haben, “wie man stinknormal stirbt“1.

In dieser Betrachtung soll die allgemein vertretene These, dass der Tod in der modernen Gesellschaft an den Rand gedrängt, tabuisiert wird näher untersucht werden. Zur Vertiefung eines Referats wird dabei der Frage nachgegangen, wie die moderne Gesellschaft mit dem Faktum der menschlichen Endlichkeit umgeht. Um Eigenarten, Probleme von Sterben und Tod für westliche Industriegesellschaften darzustellen, werden für die Moderne typische Strukturveränderungen hinsichtlich der Todesproblematik in Kontrast zur Vergangenheit dargestellt.

Die Problemgeschichte des Todes ist als differenziert und lang zu kennzeichnen. Die Sichtung der Literatur zeigt die Variationsbreite der menschlichen Auseinandersetzung mit dem strukturellen Problem der individuellen Endlichkeit und Sterblichkeit sowie die Fülle unterschiedlicher Sinn- gebungsmöglichkeiten. Über das Problem des Todes in der modernen Gesellschaft liegen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen Untersuchungen vor2. Alle Untersuchungen weisen auf eine grundlegende Neuartigkeit der modernen Sinngebung des Todes hin, hervorgerufen durch fundamentale Strukturveränderungen. Zur historischen Problematik des Wandels von Sinnstrukturen und des unmittelbaren Umgangs mit Tod und Sterben gibt es eine Reihe umfangreicher Arbeiten. So kommt der Historiker Philippe Ariés in seiner zwanzigjährigen Forschungsarbeit zur Geschichte des Todes zu dem Ergebnis, dass sich seit dem 19. Jahrhundert ein grundlegender Wandel der Grund-einstellung der Menschen zum Tod vollzogen hat3.

Obwohl die Soziologie erst in den 50er/60er Jahren Tod und Sterben explizit thematisierte4, haben sich doch die meisten der älteren Autoren darüber geäußert. Die Klassiker Durkheim, Weber, Parsons haben sich in ihren religionssoziologischen Schriften mit dem Tod auseinandergesetzt5. Es gibt unter- schiedliche Meinungen darüber, inwieweit Tod und Sterben als legitime Gegenstände der Soziologie anzusehen sind6. Insoweit der Tod als Bedrohung, Gewissheit in 'das Leben der Lebenden' hereinragt, ist er für Nassehi und Weber Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen7. Die Endlichkeit des menschlichen Lebens ist in viele institutionelle Arrangements des Sozialsystems eingebaut und somit stößt eine Soziologie des Todes bis zu Grundstrukturen jeglicher Sozialordnung vor. Der Tod sei nicht nur ein Gattungsmerkmal, sondern auch ein Merkmal des gesellschaftlichen Lebens8. Deshalb reicht die Thematik in die Teildisziplinen der Soziologie hinein und betrifft insbesondere das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Für Baumann ist die Soziologie des Todes mittlerweile ein voll entwickelter Zweig der Sozialwissenschaften, der mit allem versehen ist, was eine akademische Disziplin für ihren Fortbestand braucht. Allerdings steht der Fülle anstehender Forschungsaufgaben eine bescheidene empirische Basis gegenüber9.

2 Das Wissen um den Tod

Für Baumann ist es letztendlich eine Unmöglichkeit, den Tod zu definieren, da er sich durch Leere, Nicht-Existenz einer Kommunikation entzieht. Der Tod ist für ihn das ganz Andere des Seins, das Aufhören jedes 'handelnden Subjekts' und damit das Ende jeder Wahrnehmung10. Offenbar gibt es immer eine Zeit für das Leben und eine Zeit für den Tod, beide bestimmen den Grundrhythmus des Lebens11. Der Tod ist eine Realität im Leben in Form von Trennung und Abschiednehmen. Man kann dies bezeichnen als „abschiedlich existieren im Hinblick auf die Welt, auf uns selbst“12. Alle unterliegen also dem Geheimnis des Todes, ohne die Fähigkeit, die Grenze zu überschreiten. Der Mensch versucht durch Sinndeutungen, das relativ Unbestimmbare symbolisch sinnhaft zu deuten, das Ende sinnhaft in den Lebensprozess zu integrieren. Wenn der Tod als Vorgang, als eigener Tod, nicht erfahrbar ist13, woher nimmt dann der Mensch das Wissen um den Tod?

Nassehi und Weber haben sich die erkenntnistheoretische Frage gestellt: Aus welchen Quellen speist sich das menschliche Wissen und Bewusstsein vom Tode? Sie versuchen mit einer Phänomenologie der "Erkenntnistheorie des Todesbewusstseins" eine analytische Systematisierung und komplexitätsreduzierende Kategorisierung der Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität der menschlichen Todesgewissheit, um konkrete Phänomene der "Thanatopraxis" in modernen Gesellschaften besser verstehen und einordnen zu können14. Sie bieten eine Übersicht über die verschiedenen Entstehungszusammenhänge und Strukturen menschlichen Wissens vom Tode und zeigen anhand einer Tabelle die verschiedenen Ebenen des menschlichen Todesbewusstseins auf15.

Das Todesbewusstsein weist neben biologisch-organischen und existentialen 'Wurzeln' immer auch

sozial vermittelte Wissensegmente und -formen auf. Da das Lebewesen auch ein soziales Wesen, ein Mitglied einer Gemeinschaft ist, besteht eine Differenz zwischen physischem und sozialem Leben16. Definitionen von Tod und Leben sind demnach als Ergebnisse von Kommunikationsprozessen sozial vermittelt. Diese normativen Produkte sind abhängig von kulturellen, politischen, ökonomischen und technischen Bedingungen. „Sozio-kulturelle Orientierungen über den Tod oder Todesbilder sind all das, was unter dem Tod verstanden wird, wie er heißt und aussieht, was er bringt und wohin er bringt“17. Die Inhalte solcher Orientierungen variieren sehr stark zwischen verschiedenen Gesellschaften sowie innerhalb einer Gesellschaft. Das Todesfeld differenziert gemäß dem grundlegenden gesellschaftlichen Spannungsverhältnis der Verschränkung von Individuum und Kollektiv. Es ist dabei zu unterscheiden zwischen dem eigenen Tod, dem Tod des Anderen und dem allgemeinen Tod. Es bleibt festzuhalten, dass eine Annäherung an den Tod zwar von verschiedenen Standpunkten aus erfolgt, aber dass er immer als Endpunkt des menschlichen Lebens betrachtet wird. Der Tod ist als Faktum eine immer gleiche Tatsache, aber in seiner Gestalt wandelbar.

So gibt es für die Begegnung mit dem Tod auch verschiedene inhaltlich-semantische Beschreibungen. Der Tod erscheint nicht nur als Feind, er kann sich auch als Freund nähern. So empfinden wir den Tod strafend oder erlösend, falsch oder richtig. Reagieren mit Akzeptanz oder Kampfeswillen, sehen ein beendetes Leben als erfüllt oder abgebrochen an. Leben und Tod können als sinnvoll oder sinnlos empfunden werden. Abhängig von der Lebenssituation, in der wir uns befinden, wird die Art, wie der Tod sich bemächtigt, unterschiedlich wahrgenommen18.

Jede Gesellschaft dient in ihren für sie spezifischen Abläufen zur Lebenserhaltung der Menschen und bietet indirekt auch immer Schutz gegen das Sterben. Die Bedeutung einer Gesellschaft wird also auch danach eingeschätzt, inwieweit sie den Individuen Schutz bieten kann vor dem jeweils `schlechten´ Tod. Der Grad der Aufgehobenheit der Individuen hängt von der gesellschaftlichen Leistung ab.

3 Umgang der Gesellschaft und ihrer Mitglieder mit dem Tod

3.1 allgemeine Überlegungen

Für Nassehi und Weber ist es eine Tatsache, dass jedes menschliche Gemeinwesen die strukturelle Endlichkeit des individuellen menschlichen Lebens in seine symbolische Sinnstruktur integrieren muss19. Die Notwendigkeit, stets mit dem Wissen um das Faktum der menschlichen Sterblichkeit zu leben, kann zur Erklärung vieler wesentlicher Aspekte der sozialen und kulturellen Organisation aller bekannten Gesellschaften beitragen20.

So haben alle bekannten Gesellschaften Vorgaben zur Lösung der Nachfolgeproblematik in sozialen

[...]


Barley, Nigel, 1998: Tanz ums Grab. Stuttgart, S. 29.

1 Zum Beispiel: Eine Sammlung philosophischer Todeskonzepte der Moderne in: Ebeling, Hans (Hg.), 1984: Der Tod in der Moderne. Frankfurt am Main. / Eine Charakteristika modernen Sterbens in: Schmied, Gerhard, 1985: Sterben und Trauern in modernen Gesellschaften. Opladen. / Strategien der Moderne/Postmoderne in: Baumann, Zygmunt, 1992: Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien. Frankfurt am Main / Ein medizinischer Beitrag von Ferber, Christian von, 1970: Der Tod: Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen. S. 237 – 250 in: Köln. Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.

2 Vgl. A riés, Philippe, 1999: Geschichte des Todes. 9. Auflage, München. (Orig. 1977, 1982).

3 Vgl. Dazu genauer Nassehi, Armin / Weber, Georg, 1989: Tod, Mortalität und Gesellschaft. Opladen, S. 12.

4 Zu nennen wäre hier zum Beispiel die Schrift von Durkheim, Emile, Orig. 1897: Der Selbstmord.

5 Eine Erörterung der Hinsichten, in denen Tod und Sterben legitime Gegenstände der Soziologie sind in: Feldmann, Klaus / Fuchs-Heinritz, Werner (Hg.), 1995: Der Tod ist ein Problem der Lebenden, S. 7 - 18.

6 Vgl. Nassehi / Weber, 1989, Anm. 4, S. 11.

7 Vgl. Feldmann / Fuchs-Heinritz (Hg.), 1995: Anm. 6, S. 18.

8 Vgl. Baumann,1992: Anm. 2, S. 7.

9 Vgl. Baumann,1992: Anm. 2, S. 8.

10 „Ein jegliches hat seine Zeit, (...). Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist, (...).“Prediger 3.1 / 3.2 in: Die heilige Schrift, o. J. . Stuttgart, S. 647.

11 Bahr, Hans Eckehard / Kast, Verena, 1992: Lieben: Loslassen und sich verbinden, 7. Auflage. Stuttgart, S 58.

12 Vgl. Waller, Friederike (Hg.), 1991: Alles ist nur Übergang: Gedichte und Texte über das Sterben. Frankfurt am Main, S. 20.

13 Vgl. Nassehi / Weber, 1989: Anm. 4, S. 14 / 15.

14 Vgl. Tabelle in: Nassehi / Weber, 1989: Anm. 4, S. 50.

15 So unterscheidet man auch drei Sterbensformen: Physisches Sterben: der Verlust körperlicher Funktionen.

Psychisches Sterben: der Verlust des Bewußtseins, aber auch verschiedener Teile des Ichs, des Selbstbewusstseins; Soziales Sterben: der Verlust der Anerkennung durch andere, von Rollen und sozialen Teilhabechancen. Vgl. Feldmann, Klaus, 1997: Sozialwissenschaftliche Theorien und Forschungsergebnisse. Opladen, S. 12.

16 Fuchs, Werner, 1969: Todesbilder in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main, S. 21.

17 Vgl. Waller (Hg.), 1991: Anm. 13, S. 15.

18 Vgl. Nassehi / Weber, 1989: Anm. 4, S. 11.

19 Vgl. Baumann,1992: Anm. 2, S. 20.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die 'Thanatopraxis' der modernen Gesellschaft
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
HS: Die Moderne im Spiegelbild soziologischer Theorien
Note
2,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
21
Katalognummer
V8595
ISBN (eBook)
9783638155281
ISBN (Buch)
9783656058830
Dateigröße
555 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thanatopraxis, Gesellschaft, Moderne, Spiegelbild, Theorien
Arbeit zitieren
M.A. Saskia Gerber (Autor:in), 2000, Die 'Thanatopraxis' der modernen Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8595

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