Lessings Auseinandersetzung mit dem Mitleidsbegriff


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

27 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.: Einleitung

2.: Vom Mitleidsbegriff
2.1.: Vom Mitleidsbegriff von Platon bis David Hume
2.2.: Vom Mitleidsbegriff bei Jean-Jacques Rousseau

3.: Vom Nutzen des Mitleids in der Tragödie
3.1.: Die Kontroverse zwischen Lessing und Mendelssohn über den Mitleidsbegriff Rousseaus
3.2.: Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel
3.3.: Lessings Positionierung zum Mitleidsbegriff in der Tragödientheorie von Aristoteles in der Hamburgischen Dramaturgie

4.: Fazit

Literaturverzeichnis

1.: Einleitung

Von den Verhaltensweisen, die in das Gebiet der Ethik gehören, dürfte Mitleid eine der gängigsten Münzen im mitmenschlichen Leben sein. […] Die französische und die englische (in beiden Fällen romanische) Entsprechung […] pitié und pity, unterscheiden sich von dem deutschen Wort Mitleid dadurch, daß sie keinen Anklang an ein dem Substantiv Leid oder dem Verb leiden entsprechendes Substantiv oder Verb haben. […] Aus diesem linguistischen Umstand ist jedoch nicht zu schließen, daß das Wort Mitleid einen stärkeren Gefühlsausdruck besitze. Es ist ebenso wie seine fremdsprachigen Entsprechungen ein abgegriffenes Wort, das im Sprachgebrauch seinen Wortsinn „mit (einem anderen) leiden“ keineswegs bewahrt hat. Dennoch hat, wie wir sehen werden, die etymologische Belastung des deutschen Wortes mancherorts in der deutschen Mitleidsethik zu Deutungen verführt, die dem mit Mitleid bezeichneten Phänomen keineswegs entsprechen.[1]

Das Mitleid spielt in Lessings Tragödientheorie eine auffallende Rolle. In der Hamburgischen Dramaturgie, veröffentlicht 1768, vertritt er die Meinung, die Aufgabe der Tragödie sei es, die Fähigkeit des Menschen zum Mitleid zu stärken. Betrachtet man hingegen Friedrich Nicolais und Moses Mendelssohns zeitgenössische Auffassung, die Tragödie sei da, um Leidenschaften zu wecken, oder die antike – und zu Lessings Zeit hoch geachtete - Trauerspieltheorie des Aristoteles, der ihre Aufgabe darin sah, gerade den Mensch von Leidenschaften zu reinigen, so fällt bei Lessing die Relevanz des Mitleids ins Auge.

Beobachtet man zudem den geschäftigen Schriftverkehr, den Lessing mit seinen geschätzten Gefährten Nicolai und Mendelssohn über das Trauerspiel führt, so kommt man nicht umhin, sich mit der Mitleidsethik des 18. Jahrhunderts auseinander zu setzen, um die einzelnen Positionen nachvollziehen zu können. Gerade die Haltung des Philosophen Rousseau wurde unter den Freunden heftig diskutiert, wobei Lessing offen seine Sympathie für das dort konstruierte Menschenbild bekundet. Betrachtet man den Mitleidsbegriff in seiner eigenen Tragödientheorie, fallen sofort gewisse Parallelen ins Auge.

Doch ist es wirklich so einfach, Lessing – wie es in vielen Sekundärwerken getan wurde - auf den Eindruck des damals umstrittenen Mitleidsbegriff nach Rousseaus Menschenbild im Discours sur l´origine et les fondements de l´inégalité parmi les hommes, mit dem der Schriftsteller sich eingehend beschäftigt, zu reduzieren? Welcher Einfluss kann überhaupt rekonstruiert werden? Diesen Fragen möchte ich in meiner Arbeit nachgehen. Auch die im Zitat vertretene These, Mitleid sei nur eine Worthülse, zudem im Deutschen noch leicht missverständlich, möchte ich in diese Untersuchung in Hinblick auf die Relevanz in Lessings Tragödientheorie einbeziehen, denn es geht ja gerade um die zu fördernde Fähigkeit zum Mitleid[en (?)].

Im Laufe der Zeit haben sich Bedeutung und Stellenwert des Mitleids stetig gewandelt, es gab Positionen für und wider das Mitleid. Ich möchte im ersten Kapitel einen kurzen Überblick über verschiedene Deutungsweisen geben, wobei ich in diesem Rahmen nur an der Oberfläche kratzen kann. Der Überblick soll dazu dienen, sich einfacher in die Denksituation Lessings und seiner Zeitgenossen hinein versetzen zu können. Eine eingehende Beschäftigung mit der Affekten- und Erkenntnislehre nach Wolff, Baumgarten oder Leibniz, die in diese Thematik sicherlich mit hineinspielt, muss in dem Rahmen einer Seminararbeit außen vor bleiben.

Ich habe mich für eine chronologische Darstellung entschieden, obwohl sich sicherlich auch eine systematische nach Kategorien wie „pro Affekt“ und „pro Vernunft“ oder ähnliches angeboten hätte. Da ich Lessings Mitleidstheorie und die Rolle in seiner Tragödientheorie als Teil einer Diskussion und Entwicklung verschiedener Standpunkte betrachten möchte, scheint mir die Veranschaulichung der chronologischen Abfolge eine bessere Wahl.

Von der aristotelischen Deutungsweise wird in einem späteren Abschnitt nochmals die Rede sein, wenn ich auf Lessings Auseinandersetzung mit der Trauerspieltheorie des Aristoteles eingehe. Im ersten Kapitel wird sie der Vollständigkeit halber schon angesprochen, aufgrund ihrer Relevanz für Lessing aber dann nochmals im Zusammenhang mit der Tragödientheorie ausführlicher aufgegriffen.

Aspekte wie die von Käte Hamburger in Das Mitleid problematisierte Menschen- und Nächstenliebe konnten im Rahmen einer Seminararbeit leider nicht mit aufgenommen werden.

Dem Mitleidsbegriff bei Rousseau werde ich ein eigenes Kapitel widmen, welches sich – historisch und thematisch – direkt an das vorherige anschließt. Es soll verdeutlicht werden, welches Menschenbild im Discours vorausgesetzt wird und welche Relevanz dem Mitleid in der Gesellschaft zugesprochen wird. So wird es mir möglich sein, den Einfluss auf Lessings Mitleidsbegriff und seine zugedachte Aufgabe in der Tragödie besser einzuschätzen.

In dem Absatz über den Briefwechsel über das Trauerspiel aus den Jahren 1756/1757 mit Mendelssohn und Nicolai wird Lessings neuartige Sicht auf die Theorie der Tragödie nachvollziehbar. Dem Schriftwechsel, in denen die Freunde ihre Tragödienauffassungen argumentieren, kritisieren und verteidigen, möchte ich Erläuterungen zu Mendelssohns eigenem Mitleidsbegriff aus dessen 1755 erschienen Abhandlung Über die Empfindungen und seinem Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig vom 21. Januar 1756, in welchem es sich explizit um Rousseau dreht, in einem eigenen Kapitel vorausschicken, da diese den späteren Disput zwischen Lessing und Mendelssohn begreiflicher machen. Die Position Nicolais spielt aufgrund seiner eher mäßigen Beteiligung an der Diskussion eine untergeordnete Rolle.

Zuletzt folgt ein Blick auf die Hamburgische Dramaturgie als das Ergebnis der vorherigen Auseinandersetzung Lessings mit der Thematik. Hier beschränke ich mich auf die Stücke 74 bis 78, in denen sich Lessing mit der aristotelischen Tragödientheorie auseinander setzt. Dabei soll mein Hauptaugenmerk wieder auf dem Mitleidsbegriff liegen.

Die Literaturbriefe und der Laokoon hätten sicherlich zu diesem Thema Aufschlussreiches einbringen können, wie auch andere theoretische Schriften Lessings, schließlich arbeitet er an seiner Theorie des Tragischen über ein Jahrzehnt. Aber wie immer steht der Student beim Verfassen einer Seminararbeit vor der Aufgabe, sich an einen begrenzenden Rahmen zu halten. So habe ich mich hier auf die genannte Literatur beschränkt.

Meine Arbeit endet in einem Fazit, in dem die verschiedenen Ansätze zusammen geführt werden. Welcher Einfluss ist zu spüren? Wie kann er belegt werden?

2.: Vom Mitleidsbegriff

2.1.: Vom Mitleidsbegriff von Platon bis David Hume

Wie in der Einleitung beschrieben, widmet sich dieser Abschnitt verschiedenen Auffassungen des Mitleidsbegriffs bis zur Zeit Lessings.

Der Begriff Mitleid lässt sich unter unterschiedlichen Komponenten betrachten. Zum einen ist für meine Untersuchung der rhetorische und dramaturgische Aspekt von Bedeutung, zum anderen spielt natürlich die ethische Auslegung eine große Rolle. Ich werde versuchen, beiden Seiten gerecht zu werden.

In der antiken Philosophie wurde die Empfindung Mitleid nicht als uneingeschränkt positiv gewertet. Einerseits wird sie in der Rhetorik des Aristoteles (*384 v. Chr. Stageira/Makedonien, † 322 v. Chr. Chalkis/Euböa) „zu den wesentlichen Bestandteilen der Rede- und der Schauspielkunst“[2] gerechnet. Er deutet Mitleid „nach landläufiger Definition [als] ein gewisses Schmerzgefühl über ein in die Augen fallendes, vernichtendes oder schmerzbringendes Übel, das jemanden trifft, der nicht verdient, es zu erleiden, das man auch für sich selbst oder einen der unsrigen zu erleiden erwarten muß […]“[3]. Das beinhaltet, dass dem Mitleid eine „elementare menschliche Erfahrung“[4] zugrunde liegen muss, um nachvollziehbar zu sein, und darüber hinaus auch die Möglichkeit gegeben sein muss, dass das Übel jedem selbst auch widerfahren kann. Ulrich Kronauer spricht in seinen Ausführungen Vom Mitleid. Die heilende Kraft von der „Nähe des Leids“[5]. Aristoteles behauptet: „Da aber Leiden, die uns nahe erscheinen, Mitleid erregend sind, [...] so folgt daraus notwendig, daß die, die durch Mimik, Stimme und Sinneseindruck und überhaupt durch die Kunst der Darstellung den Eindruck verstärken, in größerem Maße mitleiderregend sind – denn indem sie das Übel uns vor Augen führen, bewirken sie, daß es uns nahe erscheint“[6]. Diese Nähe wird den Zuschauern im Trauerspiel suggeriert: sie „stehen im Bann eines Geschehens, bei dem nicht nur durch die Handlung, sondern auch durch die Gestik, Mimik und Sprache der Schauspieler Mitleid erzeugt wird“[7].

Andererseits wird das Mitleid aber insofern skeptisch betrachtet, als dass es eine den Menschen in seinem Handeln und Denken bestimmende, irrationale Regung sein kann.[8] Daher werden Mitleid – und auch Furcht – in Aristoteles´ Poetik zur Überwindung gerade dieser Gefühle gebraucht. Selbstbeherrschung ist der erstrebte Zustand.

Das hat auch schon vor ihm Platon (*428/427 v. Chr. Athen, † 348/347 v. Chr. Athen) in seiner Politeia dargestellt. Die Dichtkunst, die Mitleid erregt, verdirbt die nach Tugend Strebenden[9], wird allerdings im Titel eines Abschnittes behauptet. Er kritisiert, dass der Zuschauer das Trauerspiel als Unterhaltung genießt, während es Aufgabe in einer Situation im echten Leben wäre, „ruhig zu sein und auszuharren“[10]. In der Betrachtung des gespielten Leidens eines Schauspielers „wird, so glaubt Platon, die Bereitschaft, zukünftiges Leid zu ertragen, untergraben“[11].

Seneca (*ca. 4 v. Chr. Cordoba, † 65 n. Chr. Cordoba) betont in De clementia: „[…] so werden alle guten Männer Güte und Sanftheit zeigen, Mitleid aber vermeiden; es ist nämlich der Mangel eines kleinen Geistes, der beim Anblick fremder Leiden zusammenbricht”[12]. Mitleid ist also eine Schwäche. Vor allem der Mangel an Verstand wird beklagt: „Mitleid sieht nicht den Sachzusammenhang, sondern das Los an“[13]. Er plädiert für das Leben des Stoikers, der als Weiser „vorausschaut und seine Geisteskraft bereit hält“[14], obwohl Seneca „weiß, daß bei den Unkundigen die Schule der Stoiker verschrien ist als allzu hart“[15].

Laktanz (*250 Nordafrika, † 317 Nordafrika) vertritt in seinen Institutiones eine gegensätzliche Position. Er sieht gerade in der Befähigung zum Mitleid die Bestätigung der Menschlichkeit im Gegensatz zum Tier und die Voraussetzung zu sozialem Zusammenleben: „Denn wenn der Mensch beim Anblick eines anderen Menschen böse würde, was wir bei Lebewesen mit einzelgängerischer Natur beobachten, gäbe es keine menschliche Gesellschaft […]“[16].

Kronauer bezieht auch die christliche Lehre in seine Überlegungen mit ein. Er nennt als Beispiel ein „geistliche[s] Gerichtsspiel des ausgehenden Mittelalters mit dem Titel »Ain Recht das Christus stirbt«“[17]. Darin wird eindrucksvoll das Leiden Marias dargestellt, die ihren Sohn nicht retten kann. Es wird hierdurch verdeutlicht, dass „die Pläne Gottes auf die elementare Regung des Mitleids keine Rücksicht nehmen können“[18] und der Mensch, dessen Urteilvermögen durch das Mitleid getrübt ist, „den Heilsplan Gottes nicht erkennen“[19] kann und deshalb zu angemessener Reaktion gar nicht fähig ist. „Der Zuschauer darf […] nicht bei dieser Empfindung [des Mitleids] stehen bleiben; er muß einsehen, daß menschliche Gefühle keine Kriterien liefern für die Beurteilung des Heilsgeschehen“[20]. Dennoch bleibt die von Laktanz betonte Relevanz in zwischenmenschlichen Beziehungen bestehen, es findet nur eine Relativierung in der Beziehung zu göttlichem Handeln statt.

[...]


[1] Hamburger (1985): Das Mitleid, S.7

[2] Kronauer (1999): Vom Mitleid, S.12

[3] zitiert nach Kronauer (1999): S.46

[4] a.a.O., S.12

[5] ebd.

[6] zitiert nach Martinec (2003): Lessings Theorie der Tragödienwirkung, S.27

[7] Kronauer (1999): S.12f.

[8] vgl. a.a.O., S.11

[9] zitiert nach Kronauer (1999): S.44

[10] zitiert nach Kronauer (1999): ebd.

[11] a.a.O., S.15

[12] zitiert nach Kronauer (1999): S.50

[13] zitiert nach Kronauer (1999): S.51

[14] zitiert nach Kronauer (1999): S.52

[15] zitiert nach Kronauer (1999): S.51

[16] zitiert nach Kronauer (1999): S.54

[17] a.a.O., S.11

[18] ebd.

[19] a.a.O., S.12

[20] a.a.O., S.13

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Lessings Auseinandersetzung mit dem Mitleidsbegriff
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Lessing über Fabel, Epigramm Sinngedicht und andere literarische Gattungen
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
27
Katalognummer
V87550
ISBN (eBook)
9783638022620
Dateigröße
487 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lessings, Auseinandersetzung, Mitleidsbegriff, Lessing, Fabel, Epigramm, Sinngedicht, Gattungen
Arbeit zitieren
Silke Wellnitz (Autor:in), 2005, Lessings Auseinandersetzung mit dem Mitleidsbegriff, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87550

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