Zur Rolle der Kultur für die Entwicklung der Sprache


Essay, 2007

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Nature or nurture? – Kulturanthropologische Ansätze

2. Wygotski und Spracherwerb

3. Der entscheidende Schritt - Vom Grunzen zur Poesie

4. Ich ist ein anderer – Wie wir durch Imitation zu uns selbst fanden

5. Mimetik und Spiegelneuronen

6. Schneller, als es die Evolution erlaubt

7. Memetische Schlachtfelder

8. Ein Leben für die Meme?

Literatur

Zur Rolle der Kultur für die Entwicklung der Sprache

Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn.

Wilhelm von Humboldt

Neue Entdeckungen über die Zusammenhänge in der Welt, erschüttern die Burgmauern unserer gewiss geglaubten Erkenntnisse zunehmend heftiger. Wie auch jene über die Sonderstellung des Menschen in der Natur, für welche er sich bislang auf seine einzigartige Sprachfertigkeit berief. Dass Diktum Humboldts hebt die Paradoxie an dieser Sprachauffassung pointiert hervor: Wie kann sich etwas durch eine zirkuläre Definition erklären? Um solchen Rätseln auf den Grund zu gehen, betrachtet die Anthropologie die Stellung des Menschen in der Gesamtwirklichkeit. Sprachphilosophisch fragt sie daher nach dem Ursprung der Sprache des Menschen und den Kräften, die sie bewirkten.

Dieser Essay möchte den aktuellen Forschungsstand zu diesem Thema darstellen und unter kritischer Beleuchtung einen möglichen Lösungsvorschlag skizzieren. Darum wird nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Welt – sowie Sprecher und Gesellschaft gefragt werden.

Bekanntermaßen ist die Krux der Sprachursprungsgeschichte die Beweislast, mit der die Linguisten seit jeher zu kämpfen haben. Ohne “Fossilien“ oder Tonbandaufzeichnungen von Sprache, die bis zu ihrem Ursprung zurück reichen, lassen sich letztlich nur Vermutungen diesbezüglich aufstellen. Abhilfe schaffen könnte jedoch die Abwendung der Wissenschaften des 20. Jahrhunderts von vielen bis dato geltenden Vorurteilen. Die Entdeckung der Gebärdensprache, der Pragmatik sowie der Sprachentwicklung als Forschungsgebiete und neue Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung von Tieren seien dafür nur als markanteste Beispiele genannt.

1. Nature or nurture? – Kulturanthropologische Ansätze

Beeinflusst die Sprache das Denken? Einer der vehementesten Gegner dieser Möglichkeit ist wohl der Linguist Noam Chomsky. Aristoteles und Kant folgend, ist Sprache für ihn nur ein Mittel zur Kommunikation und hat nichts mit dem Denken zu tun.[1] Für ihn folgen alle menschlichen Sprachen gemeinsamen grammatischen Prinzipien, die allen Menschen in Form einer Universalgrammatik angeboren sind. Er argumentiert antibehavioristisch und gegen die kognitive Auffassung der Sprache, welche davon ausgeht, dass Kinder ohne den Umgang mit Menschen, Sprache nicht erlernen könnten. Deren Vertreter werfen ihm eine Vereinfachung der Realität vor und fragen, warum Kinder in der Regel bis zum fünften Lebensjahr brauchen, um die Grammatik korrekt zu beherrschen.[2] Chomsky kontert, dass das Erlernen einer Sprache eine so schwierige Aufgabe sei, dass sie ohne einiges angeborenes Wissen der grammatischen Strukturen unlösbar wäre.

Dank einer der vielleicht wichtigsten Strukturen, der Rekursion, können wir aus einer endlichen Anzahl von Wörtern unbegrenzt viele Sätze bilden. Hierin liegt nach allgemeiner Ansicht die Einzigartigkeit der menschlichen Sprache begründet. Nur wir Menschen sind fähig, einzelne Gedanken anderen unterzuordnen, was sich zuweilen in den verschachtelten Nebensatzkonstruktionen unserer Sprache niederschlägt.

Doch was wäre, wenn es Menschen gäbe, die keine Nebensätze kennen? Ein kleines Amazonas-Völkchen – die Pirahã –, bei denen sich mittlerweile die Sprachforscher auf die Füße treten, erfüllt nicht nur diese Bedingung, sie kennen auch weder Zahlwörter, noch Vergangenheitsformen oder Farbwörter. Versuche, ihnen das Rechnen beizubringen, scheiterten kläglich an ihren völlig andersartigen Denkweisen.[3] Das liegt laut Psycholinguist Daniel Everett, nicht an einer geringeren Intelligenz, sondern vielmehr an ihrer Kultur. Sie leben im Hier und Jetzt: „Alle Ereignisse sind verankert im Moment des Sprechens.“[4] Somit wäre der Beweis für eine Sprache ohne Rekursion erbracht. Sprache käme durch die Kultur in die Welt.[5] Chomskys Trutzburg der Universalen Grammatik wäre ernsthaft gefährdet.[6]

Das käme Verfechtern der kognitiven Sprachauffassung, wie den Ethnolinguisten Benjamin Lee Whorf und Edward Sapir, sehr gelegen. Beide Wissenschaftler waren, in der Tradition Wilhelm von Humboldts, fest davon überzeugt, dass die Sprache unser Denken fundamental beeinflusst: „Die Grammatik formt den Gedanken.“[7] Verteidiger der Position Chomskys parieren gerne mit dem Verweis auf Aphasiker, deren Geisteskraft von ihren Sprachbeeinträchtigungen weitgehend unangetastet bleibt.[8] Da solche Sprachstörungen aber in der Regel erst nach dem Erlernen einer Sprache auftreten, könnte sich ihr Denkvermögen bereits vorher voll entwickelt haben. Es ist also nötig früher anzusetzen.

2. Wygotski und Spracherwerb

Für den Psychologen Lew S. Wygotski beeinflusste die Sprache das Denken erst innerhalb der Praxis gesellschaftlicher Vorgänge.[9] In seinem Buch “Denken und Sprechen “ beschäftigte er sich, mit der Frage der Entstehung einer “inneren Sprache“ in der kindlichen Entwicklung.

Im Gegensatz zu Piaget – für den das kindliche Denken erst aus einem quasi autistischen Zustand sozialisiert werden musste, wobei frühere Entwicklungsstufen von neueren abgelöst würden – erkannte Wygotski, dass frühere Stufen erhalten bleiben und eher als Unterbau dienen. Er konstatierte zudem, dass diese Stufen von einer genuin sozialen, über eine egozentrische, hin zu einer inneren Sprache verlaufen und nicht umgekehrt.[10]

In der egozentrischen Sprache erkannte er die Übergangsform von der äußeren zur inneren Rede. Sie äußert sich in einer sehr ich-bezogenen Kommunikation, wie etwa im Rollenspiel, in dem das Kind sich selbst und anderen verschiedene Rollen zuweist (z.B. Kaufmannsladen). Zugleich wird durch die Interaktion mit anderen, die psychische Aktivität der Kinder angeregt. So ist ihre kognitive Entwicklung eine “gemeinsame Konstruktion“ der Kinder und ihrer sozialen Umwelt.[11] Erst später sprechen sie zu sich selbst, um Probleme zu lösen, oder benutzen die Finger zum Zählen.[12] Wygotski kam zu dem Schluss, dass Kinder lernen, äußere Dialoge zu internalisieren, also die Rollen anderer Menschen in sich selbst zu verkörpern.

Doch davon abgesehen, gelangen diese psychologischen Erkenntnisse über den Spracherwerb erst Jahrzehnte nach dem Tod Wygotskis in das allgemeine Wissenschaftsbewusstsein. Stattdessen mussten noch viele Bollwerke der Voreingenommenheit fallen, bevor schließlich die Sprache stärker im sozialen Zusammenhang betrachtet wurde.[13]

3. Der entscheidende Schritt - Vom Grunzen zur Poesie

Für Forscher ist die Sprachentwicklung bei Kindern heute vielleicht so interessant, weil bei jedem von ihnen die Evolution gewissermaßen noch einmal im Zeitraffer abläuft.[14] Als Beweis dafür könnte die Erkenntnis dienen, dass die menschliche Kindheit erst nach dem Homo erectus entstand.[15] Nach dem Linguisten Derek Bickerton wurde die längere Kindheit erst mit einem zunehmenden Gehirnwachstum nötig. Die damit einhergehende größere Anzahl verfügbarer Neuronen war notwendig, um innere Zeichen bilden zu können. Darum vergrößerte sich das Hirnvolumen auf das Dreifache der übrigen Primaten, bevor der Mensch den ersten Satz formulieren konnte.[16]

In Analysen von vorsprachlichem Babygebrabbel konnte Jürgen Weissenborn, Sprachforscher an der HU-Berlin, bereits muttersprachliche Prosodie herausfiltern. Ähnlich könnten so aus den Grunzlauten unserer Vorfahren immer verfeinertere Laute und schließlich erste Wörter mit gleich klingender Melodie entstanden sein.[17]

[...]


[1] Vgl.: Noam Chomsky: Regeln und Repräsentationen: Sprache und unbewusste Kenntnis. In: Ludger Hoffmann (Hrsg.): Sprachwissenschaft. Ein Reader. Berlin 2000, S.81-97, hier: S.85.

[2] Vgl.: Annette Leßmöllmann: Raus mit der Sprache! Zeit Wissen 01 (2006).

[3] Vgl.: Rafaela von Bredow: Leben ohne Zahl und Zeit. Der Spiegel 17 (2006), S.150-152, hier: S.152.

[4] Siehe: Ebd.

[5] Vgl.: Ebd.

[6] Zwar stießen Forscher die Patienten mit Sprachstörungen untersuchten, im Jahr 2001 auf das Sprachgen FOXP2, welches offenbar grundlegend für die Sprachentwicklung ist, was Chomskys These unterstützen würde. Jedoch steckt dieser Forschungszweig noch in den Kinderschuhen und so bleibt seine Rolle bei der Sprachentwicklung vorerst ungewiss; zumal FOXP2 inzwischen auch bei Schnecken gefunden wurde. Vgl.: Leßmöllmann: [wie in Anmerkung 2].

[7] Siehe: Benjamin Lee Whorf: Sprache Denken Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Hrsg. u. übers. v. Peter Krausser. Hamburg 1963, S.11ff.

[8] Einige interessante Fälle von Aphasien finden sich in: Oliver Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Übers. v. Dirk van Gunsteren. Hamburg 2006, besonders Kapitel 9.

[9] Vgl.: Lew S. Wygotski: Denken und Sprechen. Frankfurt am Main 1969, S.42.

[10] Vgl.: Ebd., S.44f.

[11] Vgl.: Ebd., S.63.

[12] Vgl.: Frithjof Hager, H. Haberland u. R. Paris: Soziologie+Linguistik. Die schlechte Aufhebung sozialer Un-gleichheit durch Sprache. Stuttgart 1973, S.41ff.

[13] Vgl.: Emily Sue Savage-Rumbaugh u. R. Lewin: Kanzi - der sprechende Schimpanse. Was den tierischen vom menschlichen Verstand unterscheidet. Übers. v. Sebastian Vogel. München 1995, S.148.

[14] Vgl.: Gerald Traufetter: Der Anfang war das Wort. Spiegel Special 4 (2003), S.80-85, hier: S.81.

[15] Vgl.: Hélène Coqueugniot, J.-J. Hublin, F. Veillon u.a.: Early brain growth in Homo erectus and implications for cognitive ability. Nature 431 (2004), S.299-302.

[16] Vgl.: Rafaela von Bredow u. J. Grolle: „Was ist ein ,Was‘?“ Spiegel Special 4 (2003), S.86-89, hier: S.89.

[17] Vgl.: Traufetter: [wie in Anmerkung 14], S.82.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Zur Rolle der Kultur für die Entwicklung der Sprache
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Anthropologie der Sprache
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
14
Katalognummer
V87845
ISBN (eBook)
9783638033930
ISBN (Buch)
9783638930727
Dateigröße
469 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Zitat des Prüfers: "Die Arbeit ist sehr innovativ. Sie trägt vielfältigstes, intelligent recherchiertes Material zusammen und fast daraus eine ausgezeichnete Konstruktion. Das Ergebnis ist vorzüglich."
Schlagworte
Kultur, Entwicklung, Sprache, Anthropologie, Sprache, Meme, Evolution
Arbeit zitieren
Marcel Nakoinz (Autor:in), 2007, Zur Rolle der Kultur für die Entwicklung der Sprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87845

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