Die Entwicklung der Moral - Universell oder kulturspezifisch?


Examensarbeit, 2007

85 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Was ist Moral?

3 Die Internalisierung moralischer Werte

4 Die Entwicklung der Moral
4.1 Jean Piagets Stadien der Moralentwicklung
4.1.1 Zur Biographie Jean Piagets
4.1.2 Das Murmelspiel
4.1.3 Die Praxis der Regeln
4.1.4 Das Bewusstsein der Regeln
4.1.5 Kritische Würdigung des Modells
4.2 Lawrence Kohlbergs Stufenmodell
4.2.1 Zur Biographie Lawrence Kohlbergs
4.2.2 Das „Heinz-Dilemma“
4.2.3 Das präkonventionelle Niveau
4.2.3.1 Strafe und Gehorsam
4.2.3.2 Naiver instrumenteller Hedonismus
4.2.4 Das konventionelle Niveau
4.2.4.1 Interpersonal- und Gruppenperspektive
4.2.4.2 Gesellschaftsperspektive
4.2.5 Das postkonventionelle Niveau
4.2.5.1 Sozialer Kontrakt
4.2.5.2 Universelle ethische Prinzipien
4.2.6 Kritische Würdigung des Modells
4.3 Das Vier-Komponenten-Modell von James Rest
4.3.1 Zur Biographie James Rests
4.3.2 Der „Defining Issues Test”
4.3.2.1 Komponente 1
4.3.2.2 Komponente 2
4.3.2.3 Komponente 3
4.3.2.4 Komponente 4
4.3.3 Kritische Würdigung des Modells
4.4 Vergleich und Abschlussbetrachtung der Modelle

5 Verläuft die Entwicklung der Moral kulturspezifisch?
5.1 Die kulturvergleichende Psychologie - Ein Einblick
5.2 Begriffsklärung: Kultur
5.3 Der Prozess der Kulturaneignung
5.4 Piagets, Kohlbergs und Rests Modell in kulturvergleichenden Studien
5.4.1 Stichproben von Kulturen
5.4.2 Inhaltliche Schlussfolgerungen
5.4.3 Beeinflussungsfaktoren moralischer Urteile
5.4.4 Auswertungsprobleme
5.4.5 Schlussfolgerungen aus diesen Erkenntnissen
5.5 „Neuere“ Ansätze zur Erforschung der Moralentwicklung
5.5.1 Individualistische vs. kollektivistische Kulturen
5.5.2 Die Stufentheorie von Ma
5.5.3 Die Theorie von Hauser

6 Fazit und Ausblick

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang
8.1 Anhang A
8.2 Anhang B
8.3 Anhang C
8.4 Anhang D
8.5 Anhang E
8.6 Anhang F
8.7 Anhang G
8.8 Anhang H

1 Einleitung

Warum soll man sich im Rahmen einer Examensarbeit gerade mit dem Thema „Die Entwicklung der Moral: universell oder kulturspezifisch?“ beschäftigen? Warum ist es relevant, sich mit einem solchen Thema auseinanderzusetzen?

Eckensberger schreibt dazu:

„Zunächst darf ich mich bedanken, dass ich im Rahmen dieses Kongresses ein Thema behandeln darf, das ansonsten in der deutschen Entwicklungspsychologie ganz offensichtlich wenig attraktiv ist: Schlägt man in dem wohl am meisten benutzen Einführungswerk der Entwicklungspsychologie nach […] so kommt dort der explizite Kulturvergleich praktisch nicht vor und er wird schon gar nicht unter der zusätzlichen Zentrierung auf moralische Urteile erwähnt.“1

Dieses Zitat zeigt ganz eindeutig, dass sich in der Forschung wenig mit der Moralentwicklung unter kulturvergleichendem Schwerpunkt beschäftigt wurde. Der Aufsatz von Eckensberger ist im Jahre 1991 veröffentlicht worden und sicherlich müsste es seit dieser Zeit einige Fortschritte im Rahmen dieses spezifischen Forschungsaspektes geben. Leider ist dem tendenziell nicht so. Allerdings ist das Thema der interkulturellen Moralentwicklung keinesfalls aus den Augen gelassen worden und so wurde 2006 „Moral Minds“ von Marc Hauser herausgegeben. Das aktuelle Interesse an dem Thema zeigt sich darin, dass der Artikel „Mit Anstand auf die Welt“ im „Spiegel“ Platz gefunden hat. „Biologen sind einer Art Grammatik der Moral auf der Spur“2, jeder Mensch soll demnach mit einer Art Moralinstinkt geboren werden, so heißt es in diesem Artikel.

Laut Eckensberger ist die Beschäftigung mit interkulturellen Perspektiven seitens der Psychologie notwendig, wenn sie ihr eigentliches Ziel, für Menschen verallgemeinerbare Regeln oder Gesetze zu formulieren, erreichen will. Demnach brauche die Psychologie zum Erreichen dieses Zieles sowohl eine entwicklungspsychologoische Tiefendimension, als auch eine kulturvergleichende Breitendimension.3 In einer hochkomplexen, arbeitsteiligen Karrieregesellschaft stellt die Moralität eine wichtige Kategorie im menschlichen Leben dar. Hervorzuheben sind hierbei besonders die soziale Interaktion und der Selbstwert der Individuen, der ohne das moralische Bewusstsein sicherlich nicht gestärkt werden würde.

Bei der Wahl des Themas für diese Arbeit stand für mich das persönliche Interesse im Vordergrund. Mich interessieren Kulturen und deren Denkvorstellungen sehr. Folglich reise ich gerne, um mir noch nicht bekannte Kulturen näher kennen zu lernen. Den moralischen Aspekt im Vergleich der Kulturen finde ich besonders interessant. In Südafrika hatte ich beispielsweise das Gefühl, dass die dunkel- häutigen Afrikaner häufiger stehlen. Dieser Eindruck hat sich in dem Sinne verifiziert, als dass ein schwarzer Afrikaner auf meine Frage hin meinte: „Wir dürfen doch wohl stehlen, man hat uns jahrzehntelang in unserem eigenen Land unterdrückt. Die Engländer, niederländischen Buren und die Bantu haben uns doch erst unsere Freiheit genommen. Wir nehmen uns das zurück, was uns genommen wurde.“

Diese Äußerung hat für mich keinen Sinn gemacht, sie war mir nicht nachvollziehbar. Und vielleicht lassen sich gerade in dieser Aussage die kulturellen Differenzen bezüglich der Moralvorstellungen manifestieren. Die Antwort des Farbigen ist nicht repräsentativ. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage aufstellen, ob es wirklich kulturelle Unterschiede bei der Entwicklung der Moral gibt. Existiert eine universelle Moral, nach der alle Kulturen gestrickt sind?

Welche Rolle spielt bei dieser Fragestellung die Globalisierung? Mit der Erschließung maritimer Handelsrouten durch die Europäer vor ungefähr 500 Jahren begann der Prozess der Vereinheitlichung wichtiger Lebensbereiche und der Techniken ihrer Bewältigung.4 Dieser Entwicklungsgang hat von früher her noch zugenommen und wird jetzt mit dem Begriff Globalisierung gekennzeichnet.

Die zunehmende internationale Verflechtung in Bereichen, wie der Umwelt, Politik, Wirtschaft und Kommunikation fordert gleichsam eine zunehmende kulturelle Verständigung. Durch die Beschäftigung mit Kulturstandards kann die kultur- übergreifende Kommunikation vereinfacht werden. Diese Standards definieren sich durch fünf Merkmale, die sich auf die wesentlichen Charakteristika von Kulturen beziehen.5 Durch diese „Orientierungshilfen“ soll der internationale Umgang ver- einfacht werden. Es geht darum sein Gegenüber zu verstehen, ihm entgegenzu- kommen und auf diese Art und Weise Respekt und Toleranz zu der „anderen“ Kultur aufzubauen. Denn nur so kann ein internationales Miteinander erfolgreich sein. Der Aspekt der Moralentwicklung ist ebenfalls mit diesem Themenpunkt verknüpfbar.

Denn wenn wir wissen, wie man in anderen Kulturen moralisch denkt und wie sie sich moralisch entwickelt haben, kann dies internationale Verhandlungen erleichtern. Wo stehen in dieser Beziehung die Niederlande? Bekannt durch ihre Drogenpolitik, den unkomplizierten Schwangerschaftsabbruch, der Homoehe oder der aktiven Euthanasie werden die Niederlande als besonders tolerant und weltoffen angesehen. Aber kann man diese permissive, auf Toleranz beruhende Politik über moralische Wertvorstellungen stellen?

Und welche Bedeutung hat das Hitlerregime im Zusammenhang mit der Moral- entwicklung? Stellt das Dritte Reich ein Indiz dafür dar, dass moralische Werte und Normen sich in bestimmten Zeitphasen, bzw. unter bestimmten Diktatoren verändern können? Dies würde bedeuten, dass das moralische Bewusstsein von Menschen manipulierbar und ausschaltbar wäre. In Ländern, in denen ein geringerer morali- scher Wert anzutreffen ist, könnte dies mit der vorherrschenden Politik zusammen- hängen.

In dem Film „Catch a fire“ wird ein weiteres Beispiel im Zusammenhang von Geschichte und Moral gegeben. Im Jahr 2006 kam der Film von Phillip Noyce in den USA in die Kinos. Der zentrale Plot des Filmes, der auf einer wahren Begebenheit basiert, stellt den Freiheitskampf im weißen Apartheid-Regime dar. Der bisher unpolitische Raffineriearbeiter Patrick Chamusso wird nach einem Zwischenfall am seinem Arbeitsplatz in der Nähe von Johannesburg vom Regime ins Visier genommen, obwohl er sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Er und seine Familie werden von Colonel Nic Vos und seinen Helfern gefoltert und verhört. Nach dieser Zeit voller Qualen wird die Anklage aufgrund von Beweismangel fallengelassen. Patrick schließt sich der Untergrundorganisation "African National Congress" an und verübt in deren Namen Anschläge auf seine Peiniger. Die für mich berührendste Originalaussage von Patrick Chamusso ist die Folgende:

“As I was walking towards him [Colonel Nic Vos] I said “No oh no”, killing is not going to help me. Revenge is not good. It is going to keep on war for this generation and the next generation. Let him live and then I’ll be free, I am free and everyone is free.”

Patrick Chamusso befindet sich auf einer hohen moralischen Stufe. Er denkt nur kurz daran seinen Peiniger zu töten, lässt dann aber sein Handeln von übergeordneten universellen moralischen Wertvorstellungen leiten.

Um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, inwieweit sich die Moral einer Kultur universell oder kulturspezifisch verändert, muss zunächst der Begriff „Moral“ definiert werden. Anschließend soll auf die Internalisierung moralischer Werte eingegangen werden. Die Entwicklung der Moral soll im Folgenden anhand des Piaget´schen, Kohlberg´schen und Rest´schen Modells vorgestellt werden. Dabei werde ich ebenfalls auf die Untersuchungsmethoden und auf die drei Psychologen näher ein- gehen und abschließend einen Vergleich der Modelle machen. Von diesem Hintergrund aus soll die Überlegung erfolgen, ob die Moralentwicklung kultur- spezifisch verläuft. Um dieser Frage nachzugehen, wird zunächst ein Einblick in die kulturvergleichende Psycholgie gewährt. Der Begriff „Kultur“ wird danach erläutert. Daraufhin werde ich auf den Prozess der Kulturaneignung eingehen. Die vor- gestellten Modelle werden dann unter der Fragestellung der Universalisierbarkeit beleuchtet. Anschließend werden drei weitere Ansätze zur Erforschung der Moralentwicklung vorgestellt. Abgeschlossen werden soll die Arbeit mit einem Fazit, bzw. Ausblick, in dem ich auf die Ergebnisse der vorhergehenden Punkte eingehe und versuche diese zusammenzufassen. Auf zukünftig notwenige Forschungen, mögliche Entwicklungen und Fortschritte soll ein Ausblick gegeben werden.

2 Was ist Moral?

„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß [sic] sie zwischen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden. Bis sie eine mäßige Entfernung voneinander gefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. - Und diese Entfernung nannten sie Höflichkeit und feine Sitte.“6 (nach A. Schopenhauer)

Jeder Mensch hat einen Anspruch auf Respekt und Achtung. Um diese sozusagen „unterschwelligen“ Gesetzmäßigkeiten zu gewährleisten, benötigt eine Gesellschaft bestimmte Solidaritätsansprüche: Sie braucht moralische Vorstellungen. Die Geschichte der Stachelschweine verdeutlicht, dass jeder Mensch ein bestimmtes Maß an Zuneigung, aber auch an Distanz benötigt, um friedvoll in einer Gesellschaft leben zu können. Dieses Verhalten wird in der Geschichte von Schopenhauer Sitte genannt, was mit der Gesamtheit moralischer Werte und Regeln (u. a. Höflichkeit, Anstand, Manieren) gleichzusetzen ist.

„Jede Moral ist ein System von Regeln, und das Wesen jeder Sittlichkeit besteht in der Achtung, welche das Individuum für diese Regeln empfindet.“7 Die Moral (lat. mores: Sitten, Gewohnheiten, Charakter) stellt einen normativen Rahmen dar, nach dem Menschen ihr Verhalten richten sollen, um vor allem ihre Mitmenschen zu achten und zu schützen. Normen können unter anderem Gebote, Verbote, Pflichten, Verantwortlichkeiten gegenüber anderen Personen, Institutionen, Gruppen oder Rechte und Pflichten sein. Entsprungen sind diese Normen religiösen oder kulturellen Traditionen, sie können aber auch von staatlicher Seite her neu geformt oder verändert worden sein. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die staatliche Norm- bzw. Moralvorstellung keineswegs mit allgemeinen universellen Überzeu- gungen übereinstimmen muss. Ge- und Verbote, die in einer Kultur gelten, können in einer anderen Kultur als sittenwidrig empfunden werden.8 So ist es auf Jamaika beispielsweise an der Tagesordnung, dass Homosexuelle verfolgt werden. Die Homophobie ist in Europa allerdings keineswegs mit der hiesigen Moralvorstellung vereinbar. Die staatlichen jamaikanischen Gesetze (z.B. Artikel 76, in dem Analverkehr mit Gefängnis und Zwangsarbeit geahndet wird)9 verstoßen hier gegen die Menschenrechte. Ebenfalls können sie die Natur- und Umweltrechte ignorieren.

Die Moralvorstellungen können auch zwischen Individualmoral und gesellschaftlicher Moral unterschieden werden. Die persönlichen Überzeugungen müssen nicht die des Staates widerspiegeln. Als historisches Beispiel wären hier die Widerstandskämpfer zur Zeit des Dritten Reiches zu nennen. Die persönlichen Moralvorstellungen der Kämpfer standen im Widerspruch zu den (un)moralischen Idealen des Hitlerregimes. Noch einmal zusammenfassend kann man konstatieren, dass die Moral ein Komplex von Verhaltensregeln, Grundsätzen, Wertmaßstäben und Vorstellungen bildet. Dieser Komplex soll das zwischenmenschliche Zusammenleben und Verhalten innerhalb einer Gesellschaft regulieren, vereinfachen und gewissermaßen struk- turieren. Sittliche Werte und Normen sollen das praktische Leben der Menschen steuern. Sie sollen anerkannt und verwirklicht werden. Die Moral soll Prinzipien, wie Toleranz, Achtung der Menschenwürde, Minderung von Unrechtmäßigkeiten ver- treten, um auf diese Art und Weise ein sittliches Empfinden aufzubauen.10

Die Moral soll nicht nur eine stillschweigende Übereinkunft, sondern für alle Menschen erreichbar und valide sein. Sie sollte für Veränderungen und Kritik offen sein, um sich den gesellschaftlichen Veränderungen anpassen zu können.

3 Die Internalisierung moralischer Werte

Der Begriff Internalisierung bedeutet, dass ein Mensch bestimmte vorgegebene Werte und Normen als seine eigenen annimmt und nach ihnen denkt und handelt. Er nimmt Werte von außen in sich auf. Eine Norm wird durch die Internalisierung Teil der Person und bildet zusammen mit anderen Wertvorstellungen die Identität der Person.

Werte und Normen, die ein Mensch internalisiert, stammen von Menschen seiner Umgebung, also durch soziale Systeme, wie etwa die Familie, Vereine, Gemeinden, Kirchen oder Peergruppen. Diese Menschen leben bestimmte Werte und Handlun- gen vor, welche das Individuum durch Anpassung in sein Selbstkonzept aufnimmt. Normen können auf unterschiedliche Art und Weise vermittelt werden. Zu unter- scheiden sind in diesem Zusammenhang die Konditionierung, die Vermittlung durch Beispiele und soziale Systeme.

Durch die klassische Konditionierung kann ein Individuum wünschenswerte Verhaltensweisen aufbauen. Belohnung und Lob durch Mitmenschen lösen beim Individuum positive Gefühle aus. Das Individuum ist nun dazu geneigt dieses normentsprechende Verhalten öfter zu zeigen, um wieder Freude durch das extrinsische (von außen kommende) Lob zu fühlen. Auch wenn das Individuum keine Belohnung mehr für das Verhalten bekommt, zeigt es dieses trotzdem, da das Verhalten zu einem konditionierten Reiz für positive Gefühle geworden ist. In diesem Moment ist das Verhalten intrinsisch (von innen heraus), da es lediglich für die Person selbst ausgeführt wird und nicht für die Belohnung.

Dementsprechend kann normwidriges Verhalten durch den Entzug extrinsischer Belohnung und durch Strafe reguliert werden. Prämisse für den Belohnungsentzug ist aber, dass die Person bereits die Belohnung kennt. Und bei der Verwendung von Strafe sollte man im Hinterkopf behalten, dass sie nicht konstruktiv ist und keine Einsicht in das Verständnis der Norm bietet.

Auch mithilfe der Beobachtung und Identifikation sollen moralische Normen vermittelt werden. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Vorbilder, die einen Status ausstrahlen, der mit Sicherheit, Liebe oder sachlicher Kompetenz in Verbindung gebracht werden kann. Aus einer Beobachtung kann eine Person moralische Informationen ziehen, z.B. wie Normen in bestimmten Situationen bewertet werden oder welche Normen in welchen Situationen für wen gelten. Mit zunehmendem Alter werden allerdings Beobachtungen nicht mehr unreflektiert aufgenommen. Zunehmend werden beobachtete Verhaltensweisen hinterfragt und es wird abgewogen, ob das Verhalten zum eigenen Selbstbild passt. So lehnt die junge Generation immer häufiger Gebote und Verbote der älteren Generation ab und stellt auf diese Weise gewisse Traditionen in Frage.11

Auch innerhalb der Familie werden durch die familiäre Sozialisation moralische Nor- men vermittelt. Dabei ist wichtig zu beachten, dass verschiedene Erziehungsstile unterschiedliche Auswirkungen auf die moralische Entwicklung des Kindes haben. Im Gegensatz zum Macht ausübenden Erziehungsstil gilt der induktive Erziehungsstil als Ideal zur erfolgreichen Moralaneignung beim Kind. Durch Zwang, Kontrolle, Feindseligkeit und Härte kann ein Kind kaum moralische Werte in sein Selbstkonzept aufnehmen. Beim induktiven Erziehungsstil gelangt das Kind zu moralischen Nor- men, indem die Eltern das Kind mit Verständnis, Geduld, Erklärungen und Argumentationen an diese Normen heranführen. Dem Kind wird Spielraum für eigene Entscheidungen gegeben und es gelangt so zu Selbstständigkeit. Erst durch Abwägen, Hinterfragen und Anwenden kann das Kind schließlich zu einer Wertung der Norm kommen. „Die Beachtung der Norm wird auf diese Weise zu einem Teil ihres Selbst, ihrer Identität.“12 Und gerade das ist der Kern der Moralerziehung, denn das Individuum soll nicht Ge- und Verbote einhalten, um Strafe zu entgehen, sondern es soll zu der Überzeugung gelangen, dass diese Ge- und Verbote richtig sind.

Neben der Familie spielen ebenfalls Peergruppen, Idole und andere Erwachsene eine Rolle bei der moralischen Normvermittlung. Mirade konnte den Einfluss von Peergruppen auf die sexuelle Norm nachweisen. Auch sollen Peergruppen die Einstellung zu Alkohol und Drogen beeinflussen. Die Moral von Peergruppen kann mit der Moralvorstellung der Familie in Konflikt geraten. Besonders im jugendlichen Alter kann man diese Kontroverse häufig dann beobachten, wenn sich Jugendliche zu viel von „drogenbejahenden-negativen“ Peergruppen vereinnehmen lassen und nicht mehr auf die Ratschläge und Hilfestellungen der Eltern hören.

Den moralischen Werdegang von Menschen kann man nie auf einen Nenner bringen. Äußere Verhältnisse, das Umfeld, die Herkunftsfamilie, Freunde, Peergruppen, die Erziehung und viele andere Umstände bilden letztendlich die individuelle moralische Normvorstellung von Menschen.

4 Die Entwicklung der Moral

Nach der allgemeingültigen Definition des Moralbegriffs und der Erläuterung der Internalisierung der moralischen Werte möchte ich im Folgenden die Entwicklung der Moral mithilfe des Piaget´schen Modells, des Kohlberg´schen Stufenmodells sowie der Theorie von Rest vorstellen. Bevor auf das jeweilige Modell und die Untersuchungsmethode eingegangen wird, soll die Biograhie des jeweiligen Psychologen vorgestellt werden. Die Modelle werden anschließend kritisch gewürdigt. Danach erfolgt ein Vergleich und eine Abschlussbetrachtung der Theorien.

Piaget untersuchte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die moralische Entwicklung beim Menschen. Seine Forschungsergebnisse publizierte er 1932. Er ist somit als „Vorreiter“ der Moralforschung anzusehen.

Anschließend veröffentlichte Kohlberg 1958 sein Stufenmodell, bevor Rests Theorie 1979 Anwendung gefunden hat. Piagets Ideen zur strukturellen Entwicklung des moralischen Urteils wurden von Kohlberg übernommen. Allerdings wurden sie von ihm systematisiert und differenziert, wodurch eine große Forschungswelle ausgelöst wurde.13

Alle drei Forschungsansätze unterscheiden sich grundsätzlich, da sie auf verschiedenen Schwerpunkten beruhen. Allerdings basieren alle Forschungsstränge laut Reese und Overton (1970) auf einem gemeinsamen „organismischen Entwicklungsmodell“.14 Die ausgewählten Modelle haben alle einen bedeutsamen Wert für die Psychologie und ihre Forschungen.

4.1 Jean Piagets Stadien der Moralentwicklung

Im Jahre 1932 machte sich Jean Piaget an die Aufgabe das moralische Urteil von Kindern zu untersuchen. Dabei ging er von der vorgefassten Meinung aus, dass Vorschulschulkinder grundsätzlich Normen und Regeln als feststehende, berechtigte Maßstäbe annehmen. Sie richten und orientieren sich in ihrem Handeln nach dem, was ihnen ihre Eltern und andere Autoritätspersonen vorgeben.15 Im Grundschulalter ändert sich diese Einstellung der Kinder und sie fangen an bestehende Regeln zu hinterfragen, sie beginnen zu zweifeln, zu zaudern und zu widersprechen. So stellt das Kind immer häufiger (ungerechte) Entscheidungen von Autoritäten in Frage. Durch diese Entwicklung kommt es zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der moralischen Regeln, da nicht mehr das Einhalten oder Nichteinhalten der Regeln im Mittelpunkt steht, sondern der Sinn und die Rechtfertigung dieser. Beeinflusst von den Arbeiten Baldwins (1906), Fauconnets (1920), Durkenheims (1925) und Bovets (1928) stellte Piaget folgende Liste mit den Schwerpunkten seiner theoretischen Analysen, praktischen Untersuchungen und empirischen Befragungen zusammen:

“1. Der Einfluß [sic] von Zwang durch die Erwachsenen auf das Kind.
2. Die Auswirkung der sozialen Kooperation auf das moralische Urteil.
3. Der Einfluß [sic] der intellektuellen Entwicklung auf die Prozesse des moralischen Denkens.
4. Die Wechselwirkung dieser drei Faktoren.“16

Piaget differenziert in seiner Theorie zwischen dem Bewusstsein und der Praxis der Regeln. Die Praxis der Regeln wird in drei Unterpunkte und das Bewusstsein der Regeln in vier Stadien gegliedert.

Auf Grundlage dieser Kernpunkte ergab sich für Piaget die Erkenntnis, dass Kinder im Laufe ihrer Entwicklung durch zunehmendes Hinterfragen von dem Stadium der Heteronomie in das der Autonomie gelangen. Piagets Theorie der moralischen und kognitiven Entwicklung basiert auf der Idee, dass sich Kinder durch ein gegenseitiges Miteinander und einem zunehmendem Verstehen von Erfahrungen weiterentwickeln. Die Kombination von vererblichen und umweltbedingten Ursachen treibt die Ent- wicklung des Kindes voran.17

Besonders hervorzuheben ist Piagets Erkenntnis, dass die Stufen nur in dieser einen Reihenfolge durchlaufen werden können und deshalb irreversibel sind. Im Laufe der kindlichen Entwicklung ist es nicht möglich, eine Stufe zu überspringen oder gar auf eine niedrigere Stufe zurückzufallen.

Der Frage, wie Piaget zu seiner Schlussfolgerung gelangte, dass es zwei Moralitäts- typen, (die heteronome und die autonome Moral) gibt, möchte ich im Folgenden nachgehen.

4.1.1 Zur Biographie Jean Piagets

Jean Piaget18 erblickte am 9. August 1896 in Neuchâtel in der Schweiz das Licht der Welt. Als Sohn eines Wissenschaftlers interessierte sich Piaget schon früh für systematische Fragestellungen. Enthusiastisch beobachtete und sammelte Piaget Vögel, Muscheln und Versteinerungen von seinen ersten Schuljahren an. Bereits einige Jahre später schrieb und publizierte Piaget Aufsätze und Artikel zu naturwis- senschaftlichen Themen. Durch die Mittelschuljahre hindurch beschäftigte sich Pia- get immer wieder mit der erkenntnistheoretischen Grundlage seiner Sammeltätigkeit. „So kam Piaget auf das Problem des Ganzen und seiner Elemente.“19

Da sich Piaget auch nach der Beendigung seines Studiums an der Universität Neuchâtel mit dem Problem der Ganzheit beschäftigte, wechselte er zunächst an die Universität Zürich, da sie ein experimentalpsychologisches Labor besaß. Bereits nach einem Semester allerdings verließ Piaget die Universität wieder. Nachdem er ein halbes Jahr Forschungen im Wallis nachgegangen war, führte ihn sein Weg nun an die Sorbonne - Universität nach Paris, „wo ihm nach kurzer Zeit die Aufgabe übertragen wurde, einen amerikanischen Intelligenztest (über die verbale Urteilskraft) an Kindern aus Paris zu überprüfen und zu standardisieren.“20 Durch diese neue Aufgabe hat Piaget seinen empirischen Weg gefunden. Die Grundzüge seiner Methode, bzw. seiner Theorie manifestierten sich durch seine Fragen und die teilweise überraschenden Aussagen der Kinder. Mit dem Hintergrund dieser Forschungen schrieb Piaget einen naturwissenschaftlichen Artikel über die Genese des Erkennens und der Denktätigkeit. Durch seine Publikationen wird er nun auch unter den Psychologen bekannt. So wurde 1921 auch Edouard Claparede auf Piaget aufmerksam und holte ihn für vier Jahre als Chef de travaux (Oberassistent) an das J. J. Rousseau-Institut nach Genf. In dieser Zeit fertigte er die Grundlagen seiner „fünf ersten Bücher über die Psychologie des Kindes“21 an. Im Jahre 1925 wechselte Piaget als Philosophie-, Psychologie-, und Soziologie- dozent an die Universität Neuchâtel. Im selben Jahr wurde Piaget zum ersten Mal Vater. Seine zwei Töchter stellten für Piaget wichtige Versuchs- und Beobachtungs- personen dar, durch die er zu neuen Erkenntnissen innerhalb der Entwicklungs- psychologie gelangte.

Als Professor der Geschichte des naturwissenschaftlichen Denkens kehrte Piaget 1929 an die Universität Genf zurück. 1936 lehrte er auch als Psychologe an der Universität Lausanne und beschäftigte sich von nun an vor allem mit der Psychologie des Kindes und seiner logischen Entwicklung. Außerdem war Piaget 1929 als Direktor des internationalen Erziehungsrates, dann als Schweizerischer Delegierter der UNESCO tätig und klärte dort internationale Entwicklung- und Erziehungsfragen. Piaget ging 1952 an die Sorbonne als Professor für genetische Psychologie. 1956 gründete er in Genf das Internationale Zentrum für Genetische Epistemologie (Erkenntnistheorie) und musste somit zwischen beiden Standorten pendeln.

Jean Piaget verstarb am 16. September 1980, im Alter von 84 Jahren in Genf.

„Die Konstanten in seinem Alltag blieben die wöchentlichen Kolloquien mit seinen Assistentinnen, Assistenten und Freunden, sein Fahrrad als Transportmittel, das Schreiben als Denkmittel, der jahrzehntelange Gedankenaustausch beim Experimentieren wie beim Publi- zieren mit seiner Assistentin Bärbel Inhelder, der tägliche Wechsel von Lektüre, Spaziergang und Schreiben, der semesterliche Wechsel zwischen dem mondänen Genf und seinen abgelegenen Walliser Tal.“22

Als einen der „Großen der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts“23, als „Großmeister der kognitiven Psychologie“24, als „monumentale Gestalt“25 oder als der wahrscheinlich „einflussreichste Autor im Bereich der Entwicklungspsychologie überhaupt“26 wird Jean Piaget betitelt. Manifestieren lassen sich diese „Titel“ unter anderem anhand seiner zahlreichen Preise, seinen über 35 Ehrendoktorwürden, der Veröffentlichung von etwa 50 Büchern und einigen hundert Aufsätzen.

4.1.2 Das Murmelspiel

Anhand der Untersuchungsmethode der Beobachtung des Spielens von Kindern mit Murmeln wollte Piaget zu moralischen Erkenntnissen gelangen. Wie auf Seite fünf beschrieben, ist Moral für Piaget ein System von Regeln. Sittlichkeit ist seiner Meinung nach die Achtung dieser Regeln. Piaget verknüpft diese Definition mit der von ihm ausgewählten Untersuchungsmethode des Murmelspiels. Das Murmelspiel ist seiner Meinung nach ideal, um das moralische Bewusstsein der Kinder zu untersuchen, da die Kinder beim Spielen viele Spielregeln beachten müssen. Da sie noch einen begrenzten Horizont besitzen, scheinen diese Regeln für die Kinder elementar zu sein. Regeln und Normen, die das Gesellschaftsleben angehen, sind für die Kinder noch nicht wichtig. Piaget sagt dazu, dass man sich als Psychologe auf den Standpunkt der kindlichen Moral und nicht auf den des Bewusstseins der Erwachsenen stellen muss.

Ein anderer Grund für die Auswahl des Murmelspiels ist, dass bei diesem Gesellschaftsspiel das Regelsystem von den Kindern selbst ausgearbeitet und aufgestellt wurde. Bei der Übertragung der Erwachsenenmoral auf Kinder wird die Analyse der moralischen Urteilsfähigkeit behindert. Man kann nicht direkt unterschei- den, ob das Kind die Regeln befolgt, da sie für es nachvollziehbar und verständlich sind oder ob das Kind die Regeln lediglich aufgrund der Fügung an die Autorität befolgt. Der Einfluss der Erwachsenen bei der Analyse der kindlichen Moral ist beim Murmelspiel sehr gering.27

Piaget untersuchte das Verhalten beim Murmelspiel der Kinder, indem er ihr Wissen über die Regeln überprüfte. Außerdem fragte er, „wer die Regeln erfunden habe, ob es sie immer schon gegeben habe, ob man sie ändern könne, ob das Kind selbst eine neue Regel erfinden könne und ob diese von anderen und eventuell allgemein akzeptiert werden würde.“28

4.1.3 Die Praxis der Regeln

Nachdem Piaget die Praxis des Murmelspiels von etwa 100 schweizer Vor- und Grundschulkindern analysiert hatte, unterschied er die folgenden vier Stadien der Regelanwendungen:

1. Motorisches Stadium

Von der Geburt an bis zum dritten Lebensjahr richtet sich das Kind beim Spiel mit den Murmeln nach seinen motorischen Fähigkeiten und individuellen Wünschen. Da es allein spielt, kann man nicht von kollektiven Regeln des Zusammenspiels, sondern eher von motorischen Regeln sprechen.

2. Egozentrisches Stadium

Vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr spielt das Kind immer noch allein, obwohl es in dieser Phase bereits versucht Spielregeln nachzuahmen. Beim Spiel mit anderen können z. B. alle das Spiel gewinnen und jeder kann nach seiner Interpretation der Regeln spielen.

3. Beginnende Zusammenarbeit

Vom siebten bis zum zehnten Lebensjahr steht das Besiegen der Mitspieler im Vordergrund. Daher müssen die Spielregeln vereinheitlicht werden und die Mitspieler müssen sich gegenseitig kontrollieren. Die Kinder sind sich über die Spielregeln einig, doch bei den Einzelbefragungen tauchen teilweise unterschiedliche und widersprüchliche Meinungen zu den Regeln auf.

4. Kodifizierung der Regeln

Ab dem elften Lebensjahr treten demgegenüber kaum noch widersprüchliche Aussagen bezüglich der Regeln auf. Den Kindern sind alle Spielregeln bekannt und einzelne Spielpartien sind mit „peinlicher Genauigkeit“29 geregelt. Festzustellen ist, dass die Kinder sich mit zunehmendem Alter beim Murmelspiel stärker nach allgemeingültigen Regeln richten. Der Egozentrismus wird dabei von einer Dezentrierung und Weltoffenheit abgelöst. Moralität ist im vierten Stadium aufgrund des wirklichen Miteinanders der Kinder vorhanden. Sie handeln gemeinsam, um Regeln zu finden, festzulegen und zu verteidigen.30

4.1.4 Das Bewusstsein der Regeln

Piaget hat ebenfalls eine Auflistung der Stadien des Regelbewusstseins aufgestellt. Diese kollidieren bei der Betrachtung des Alters der Kinder in den verschiedenen Stadien nur in zeitlicher Verzögerung mit den Stadien der Regelpraxis:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung A: Die Praxis und das Bewusstsein der Regeln im Vergleich31

1. Motorische Schemata

In diesem Stadium werden die Regeln als nicht zwingend angesehen. Unbewusst übernimmt das Kind Regeln und fasst sie dabei als nicht verpflichtende Norm auf. Das Kind wird quasi in eine Welt mit Regeln hineingeboren ohne die Regeln bewusst wahrnehmen zu können. Mit der individuellen Ritualisierung von Verhaltensweisen wird eine Art von begrenzter eigener Regelbildung hergestellt.

2. Heteronomie

In dem Stadium der Heteronomie werden Regeln durch Autoritäten gesetzt, die berechtigt sind Abweichungen von den Regeln zu bestrafen. Regeln werden demzufolge als heilig, unveränderbar und unantastbar angesehen. Das Kind fängt an die Regeln nachzuahmen, ohne sie zu hinterfragen. Es unterwirft sich dem für ihn heiligen, autoritären und gottgegebenen Regelwerk. Die Achtung vor der Regel ist in diesem Stadium einseitig, da sie durch den Gehorsam gegenüber Autoritäten ge- kennzeichnet ist. Man kann hierbei auch von einer Moralität des Zwanges sprechen.

3. Autonomie

In dem Stadium der Autonomie entscheiden die Kinder mit, was richtig und gut ist. Sie stellen selbst Ge- und Verbote auf und vereinbaren adäquate Strafen, indem sie die Gerechtigkeit als Maßstab heranziehen. Regeln werden als Übereinkunft und gegenseitige Vereinbarung betrachtet. Wenn die Gemeinschaft damit einverstanden ist, können Regeln verändert werden. „Tradition und Autorität als Begründung der Regel werden abgelöst durch Selbstverpflichtung in einem sozialen Vertrag.“32

In diesem Stadium ist die Achtung vor der Regel gegenseitig, da hier die Vereinba- rungen respektiert werden. Man kann auch von einer Moralität der Kooperation sprechen.

4.1.5 Kritische Würdigung des Modells

Piaget ist der Meinung, dass zwischen moralischem Urteil und der Handlung eine Beziehung besteht. Aus diesem Grunde hat Piaget bei den Untersuchungen sowohl die Befragung, als auch die Beobachtung als Methode angewendet. Aus seinen Ergebnissen stellt er unter anderem die Vermutung auf, dass „das sprachliche Den- ken dem konkreten Denken in einem bestimmten Abstand folgt.“33 Die Handlung wird dem Kind demzufolge erst bei der Reflexion der Situation bewusst. Das moralische Handeln wird vom moralischen Urteil sozusagen erst mit einer Verzögerung erreicht. In den frühen Phasen der moralischen Entwicklung sehen Kinder die Regeln nicht nur als obligatorisch, sondern als unantastbar und starr an. Die Kinder wachsen in eine „gegebene“ Lebensordnung hinein und nehmen in dieser Phase der Hetero- nomie die elterliche Autorität und die Regeln gehorchend an.

Von der Phase der Heteronomie gelangen die Kinder in die der Autonomie. Sie erkennen durch soziale Interaktionen und Kooperationen, dass Regeln nicht absolut zu setzen sind. Die Regeln werden von der Gesellschaft formuliert.34 Kohlberg sagt dazu, dass Piaget die Revolutionierung der Entwicklungspsychologie in Gang gesetzt hat, indem er die zusammenhängenden Erkenntnisse veröffentlicht hat, dass jedes Kind ein Philosoph sei und dass seine Philosophie unterschiedliche Stufen durchlaufe. Philosoph sein heißt in diesem Sinne die Beschäftigung mit Fra- gen, beispielsweise der Zeit, des Raumes oder des Problems von Gut und Böse. Die Weltauffassung oder Philosophie erfährt in dem Durchlaufen verschiedener Entwick- lungsstufen qualitative Veränderungen.35

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Kinder vom ersten bis zum dreizehnten Lebensjahr eine grundlegende Entwicklung vom moralischen Zwang zur moralischen Kooperation durchschreiten.

Kritische Aspekte des Piaget´schen Modells sind u. a. die Folgenden:

Besonders Isaacs kritisierte Piagets Modell stark, indem sie seine teilweise verwirrende Terminologie in Frage stellte. Außerdem unterschätze Piaget ihrer Mei- nung nach das Kind, da es bereits in jungem Alter ein weit reichendes emotionales Leben und persönliches Bewusstsein habe. Kritikpunkte waren des Weiteren der grundlegende Zweifel, dass die moralische qualitative Entwicklung in Stadien ver- läuft. Isaacs bezweifelte, dass sich die Moral in einem engen und starren Korsett von Stufen entwickelt. Vielmehr hat Isaacs durch eigene Beobachtungen in einer Versuchsschule in Cambridge herausgefunden, dass „jeder Fortschritt im begriff- lichen Verstehen nicht durch sequentiale Phasen gekennzeichnet ist, sondern durch eine zunehmende Komplexität.“36 Demnach sei der Prozess der Moralentwicklung ein vitaler und lebendiger und kein statischer.

Kohlberg schreibt zum Piaget´schen Modell, dass seine Interpretation der kindlichen Moral falsch sei, da nicht bestätigt werden konnte, dass die Moralität aus der Vorstellung des „Kindes von der Unverletzlichkeit der Regeln und der Autorität der Erwachsenen“37 entsteht.

Wichtig für den kulturellen Aspekt des Modells ist, dass Piaget nie die Universalität moralischer Urteile postuliert hat. Wohl aber hat er festgestellt, dass sich die Bildung logischer Strukturen universell vollziehe. Diese Behauptung stieß zu Piagets Zeit auf grundsätzliche Kritik.38

Trotz einiger weiterer Kritiken können zwei grundsätzliche Punkte zur Bestätigung des Piaget´schen Modells manifestiert werden. Erstens: Das moralische Urteil entwickelt sich in Abhängigkeit vom Alter, der Umgebung und der Erfahrung. Als zweiten Punkt kann man sagen, dass in weiteren Untersuchungen zur moralischen Entwicklung ähnliche Entwicklungsschemata erarbeitet wurden. Eines ist das von Kohlberg, welches ich unter dem nächsten Punkt vorstellen möchte.

4.2 Lawrence Kohlbergs Stufenmodell

Kohlberg hat nach seiner Schulzeit einige Zeit in Europa verbracht, wo er jüdische Flüchtlinge durch die britische Blockade illegal nach Palästina brachte. Diese Zeit hat ihm zu denken gegeben, und zwar in dem Sinne, als dass er über moralische Werte nachdachte. „Ich hatte keine moralischen Skrupel, ein britisches Gesetz zu brechen, das gegenüber jüdischen Überlebenden des Holocaust ungerecht war.“39 Kohlberg machte sich viele Gedanken über die Gerechtigkeit in unterschiedlichen Systemen. So sah er einen Widerspruch der gesellschaftlichen Ansprüche aufseiten Israels und dem seines Heimatlandes Amerika. Fasziniert war Kohlberg von dem israelischen Kibbuz, welches seiner Meinung nach ein Ideal sozialer Gerechtigkeit repräsentiert. Letzten Endes standen für Kohlberg Fragen der ethischen Relevanz im Vordergrund, ergo der Frage, ob es eine universelle Moral gibt oder ob alle moralischen Entschei- dungen von der Kultur oder eigenen persönlichen Neigungen abhängen und deshalb als relativ anzusehen sind.

Diese Erfahrungen waren Anlässe dafür, weshalb sich Kohlberg mit der Entwicklung der Moral beschäftigte. Nach einer Vielzahl von Forschungen hat Kohlberg ein Stufenmodell aufgestellt. Mit Hilfe von moralischen Urteilen, also Urteilen über das Gute und Rechte einer Handlung, können Probanden einer bestimmten Stufe zuge- ordnet werden.40

Kohlberg orientierte sich bei seinen Überlegungen der analytischen, sowie empirischen Arbeit an den jüdisch-christlichen Gerechtigkeitsbegriff.

In Bezug auf die psychologische Theoriebildung tritt Kohlberg in die Fußstapfen von Piaget, indem er dessen Ansatz „differenziert, teilweise revidiert und vor allem besser begründet.“41 Kohlberg betont auch, dass die Theoretiker Dewey, Baldwin, Mead und Loevinger Einfluss auf seine Konzeption genommen haben. Ganz im Sinne Piagets beinhaltet das Modell von Kohlberg drei Hauptstufen:

Autoritätsorientierung

Konventionsorientierung Prinzipienorientierung42

Kohlberg hat eine Theorie der moralischen Urteilsfähigkeit aufgestellt, die er auch als eine kognitive Entwicklungstheorie bezeichnete. Es geht ihm in seinem Modell also um die Regeln der Verarbeitung von Informationen und Erfahrungen und nicht um konkrete Erlebnisse.

[...]


1 Eckensberger, L. (1991): Moralische Urteile im Kulturvergleich. Saarbrücken: Arbeiten der Fachrichtung Psychologie. Universität des Saarlandes, S. 1.

2 Der Spiegel: Nr. 51, 2006-12-18, S.136 - 137.

3 vgl. Eckensberger, L. (1991): Moralische Urteile im Kulturvergleich. Saarbrücken: Arbeiten der Fachrichtung Psychologie. Universität des Saarlandes, S. 1.

4 vgl. Wimmer, F. (2004): Interkulturelle Philosophie. Wien: Facultas Verlags- und Buchhandels AG, S. 13.

5 vgl. Thomas, A. (2003): Kultur und Kulturstandards. In: Thomas, A. (Hrsg): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 25.

6 Schopenhauer zit. nach Götz, P. / Langenbucher, W.R. (1965): Versäumte Lektionen. Gütersloh: Bertelsmann,

S. 249.

7 Piaget, J. (1973): Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 7.

8 vgl. Montada, L. (2002): Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation. In: Oerter, R. (Hrsg): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 619.

9 Seiten von Deepworld (2007-04-21) = Webseite. Im Internet: http://www.beepworld. de/members89/upolfen/jamaica.htm (Aufruf 2007-04-21).

10 vgl. Moral (2005) = Artikel „Moral“. In: Microsoft Encarta Enzyklopädie. Redmond: Microsoft Corporation.

11 vgl. Montada, L. (2002): Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation. In: Oerter, R. (Hrsg): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 619.

12 Montada, L. (2002): Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation. In: Oerter, R. (Hrsg): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 626.

13 vgl. Flammer, A. (1996): Entwicklungstheorien. Bern: Huber, S. 139.

14 Eckensberger, L. (1991): Moralische Urteile im Kulturvergleich. Saarbrücken: Arbeiten der Fachrichtung Psychologie. Universität des Saarlandes, S. 2.

15 vgl. Montada, L. (2002): Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation. In: Oerter, R. (Hrsg): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 629.

16 Kay, W. (1975): Die moralische Entwicklung des Kindes. Düsseldorf: Schwann, S. 35.

17 vgl. Turiel, E. (2002): The culture of morality: social development, context and conflict. Cambridge: Cambridge University Press, S. 97.

18 siehe Anhang A.

19 Flammer, A. (1996): Entwicklungstheorien. Bern: Huber, S. 114.

20 Garz, D. (1989): Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 75.

21 Piaget, J. (1976): Jean Piaget- Werk und Wirkung. München: Kindler, S. 29.

22 Flammer, A. (1996): Entwicklungstheorien. Bern: Huber, S. 116.

23 Garz, D. (1989): Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 73.

24 Garz, D. (1984): Strukturgenese und Moral. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 20.

25 Montada, L. (2002): Geistige Entwicklung aus der Sicht Jean Piagets. In: Oerter, R. (Hrsg): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 418.

26 Flammer, A. (1996): Entwicklungstheorien. Bern: Huber, S. 113.

27 vgl. Heidbrink, H. (1991): Stufen der Moral. München: Quintessenz, S. 12.

28 Montada, L. (2002): Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation. In: Oerter, R. (Hrsg): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 629.

29 Piaget, J. (1973): Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 23.

30 vgl. Garz, D. (1989): Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 94 ff.

31 Heidbrink, H. (1991): Stufen der Moral. München: Quintessenz, S. 15.

32 vgl. Montada, L. (2002): Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation. In: Oerter, R. (Hrsg): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 629.

33 Heidbrink, H. (1991): Stufen der Moral. München: Quintessenz, S. 17.

34 vgl. Kay, W. (1975): Die moralische Entwicklung des Kindes. Düsseldorf: Schwann, S. 36.

35 vgl. Kohlberg, L. (1996): Meine persönliche Suche nach universeller Moral. In: Kuhmerker, L. (Hrsg): Lawrence Kohlberg. München: Kindt, S. 26.

36 Kay, W. (1975): Die moralische Entwicklung des Kindes. Düsseldorf: Schwann, S. 42.

37 Kohlberg, L. (1995): Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 24.

38 Eckensberger, L. (2003): Kultur und Moral. In: Thomas, A. (Hrsg): Kulturvergleichende Psychologie. Göttingen: Hogrefe, S. 311.

39 Kohlberg, L. (1996): Meine persönliche Suche nach universeller Moral. In: Kuhmerker, L. (Hrsg): Lawrence Kohlberg. München: Kindt, S. 22.

40 vgl. Kohlberg, L. (1995): Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 28.

41 Heidbrink, H. (1991): Stufen der Moral. München: Quintessenz, S. 22.

42 vgl. Flammer, A. (1996): Entwicklungstheorien. Bern: Huber, S. 141.

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung der Moral - Universell oder kulturspezifisch?
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)
Note
1,5
Autor
Jahr
2007
Seiten
85
Katalognummer
V87862
ISBN (eBook)
9783638023184
ISBN (Buch)
9783638923903
Dateigröße
3529 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"Eine sehr gelungene Arbeit! Der unkonventionelle Einstieg hat mir besonders gut gefallen. Sie haben das beste aus den derzeit veröffentlichten Studien herausgezogen und dabei wissenschaftlich einwandfrei gearbeitet. Abgerundet wurde die Arbeit mit einem sehr ausführlichen und schönen Schlusswort." (Dozentin)
Schlagworte
Entwicklung, Moral, Universell
Arbeit zitieren
Isabel Deters (Autor:in), 2007, Die Entwicklung der Moral - Universell oder kulturspezifisch?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87862

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