Ein gespaltenes Land?

Cleavagestruktur und Parteiensystem des Irak


Seminararbeit, 2006

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Cleavages im Irak
2.1. Aufbau der Untersuchung
2.2. Zentrum-Peripherie Cleavage
2.2.1. Entstehung des irakischen Nationalstaats
2.2.2. Ethnische Fragmentierung
2.2.3. Konfessionelle Fragmentierung
2.3. Staat-Kirche Cleavage
2.4. Klassen Cleavage
2.5. Stadt-Land Cleavage

Einfluss der Cleavages auf das Parteiensystem im Irak
3.1. Cleavages und Parteienlager
3.2. Schiitisches Parteienlager
3.3. Sunnitisches Parteienlager
3.4. Kurdisches Parteienlager
3.5. Überkonfessionelles Parteienlager

Fazit

Anhang

Literaturverzeichnis:

Einleitung

Etwas mehr als drei Jahre sind mittlerweile seit Sturz dem Saddam Husseins und seines Regimes durch US-Truppen und dem Beginn des Demokratisierungsprozesses im Irak vergangen. Seither ist das Land nicht zur Ruhe gekommen. Blutige Auseinandersetzungen verschiedener politischer Gruppierungen und bürgerkriegsähnliche Zustände bestimmen den Alltag. Trotzdem sind gewisse Erfolge beim Wiederaufbau und der Stabilisierung des Landes nicht von der Hand zu weisen. Eine Verfassung ist erarbeitet und am 15.10.2005 in einem Referendum von weiten Teilen der Bevölkerung angenommen worden. Auch die letzten Parlamentswahl, bei der eine beachtliche Wahlbeteiligung von über 70 Prozent zu verzeichnen war, zeugt von der großen Unterstützung, die das neue demokratische System bei den Irakern genießt. Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, welche Konfliktlinien das Land so tief spalten und wie sich diese in dem neu entstandenen Parteiensystem niederschlagen.

Diese Fragestellung zu beleuchten soll Ziel des folgenden Aufsatzes sein. Im ersten Teil werden ausgehend von der Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan[1] die im Irak relevanten sozioökonomischen Konfliktlinien herausgestellt. Dieses Modell ist anhand der historischen Entwicklung der Parteiensysteme Westeuropas erarbeitet worden. Daher lässt es sich natürlich nicht ohne weiteres auf den dem arabischen Kulturkreis zugehörigen Irak mit seinem völlig unterschiedlichen geschichtlichen Hintergrund anwenden. Eine ausführliche Analyse der Entwicklung der arabischen und irakischen Gesellschaft wäre nötig, um die Cleavage-Theorie adäquat auf den Irak übertragen zu können und die für diese Region spezifischen Cleavages zu ermitteln. Dies würde aber den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen. Deshalb wird hier lediglich anhand eines kurzen historischen Abrisses überprüft, inwiefern die vier von Lipset und Rokkan in ihren Modell für Westeuropa beschriebenen Cleavages auch im Irak von Bedeutung sind.

Im zweiten Teil des Aufsatzes wird dann anhand der Ergebnisse der beiden Parlamentswahlen vom 30.01.2005 und 15.12.2005 untersucht, aus welchen Parteien sich das irakische Parteiensystem zusammensetzt und an welchen der im ersten Abschnitt ermittelten Cleavages sich diese ausrichten.[2] Des weiteren soll überprüft werden, ob sich bestimmte Trends oder Tendenzen in der Entwicklung des Parteiensystems abzeichnen.

Cleavages im Irak

2.1. Aufbau der Untersuchung

Lipset und Rokkan haben in ihrer Analyse der politischen Entwicklung Westeuropas herausgestellt, dass vier zentrale Cleavages das politische Alignment bestimmen. Die ersten beiden Cleavages sind während der Bildung der modernen Nationalstaaten entstanden. Zum einen ist hier das Zentrum-Peripherie Cleavage zwischen der dominanten Kultur und verschieden Gruppen von Minderheiten innerhalb eines Staates zu nennen. Zum anderen ist das Kirche-Staat Cleavage zwischen Kirchenanhängern, die sich für einen religiös beeinflussten Staat aussprechen und Befürwortern eines säkularen Staates von Bedeutung. Die letzten beiden Cleavages haben sich im Zuge der industriellen Revolution entwickelt. Das Klassen Cleavage ging aus den Auseinandersetzungen zwischen den Kapitaleignern und den etablierten Eliten auf der einen Seite und der neuen Arbeiterschicht auf der anderen Seite hervor. Der Interessenkonflikt zwischen den ländlich geprägten Regionen und den industrialisierten Städten bildete das Stadt-Land Cleavage.[3] In diesem Kapitel soll untersucht werden, ob diese vier Cleavages auch im Irak existieren.

Dazu muss zunächst der Begriff „Cleavage“ genauer umrissen werden. Lipset und Rokkan beschreiben ein Cleavage als einen politischen Konflikt, der drei Kriterien erfüllt. Erstens muss der Konflikt sozialstrukturell verankert sein und von sozial klar identifizier- und abgrenzbaren Gruppen geführt werden. Ein Streit um einzelne politische Themen, beispielsweise den Atomausstieg, mit Befürworter und Gegner in allen sozialen Gruppen ist deshalb nicht als Cleavages anzusehen. Zweitens müssen sich die sozialen Gruppen ihrer Gruppenzugehörigkeit bewusst sein und es muss der Wille vorhanden sein auf der Basis dieser kollektiven Identität gemeinsame Interessen zu artikulieren. Es müssen sich zum Beispiel Arbeiter als Arbeiter fühlen und bereit sein zusammen als Arbeiter zu handeln, um von einem Cleavage sprechen zu können. Obwohl Männer und Frauen klar als unterschiedliche soziale Gruppen zu identifizieren sind, gibt es hingegen kein Männer-Frauen Cleavage. Denn eine kollektive Geschlechteridentität ist höchstens in rudimentären Ansätzen vorhanden und keinesfalls ausgeprägt genug, um eine gemeinsame Handlungsgrundlage zu bilden. Das dritte Kriterium ist schließlich die organisatorische und politische Repräsentation des Konflikts in Form von Parteien, Verbänden oder ähnlichen Institutionen. Ohne eine solch permanente Institution, die den politischen Interessen einer sozialen Gruppe Ausdruck verleiht, handelt es sich lediglich um ein „schlafendes“ Cleavage, dass keine akute politische Relevanz besitzt.[4]

Mit Hilfe dieser Begriffsdefinition soll nun untersucht werden, inwiefern die vier von Lipset und Rokkan herausgestellten Cleavages im Irak vorhanden sind und wie sie sich historisch entwickelt haben. Des weiteren soll geklärt werden, wie sich die Cleavages zueinander verhalten, da dies ebenfalls einen entscheidender Einfluss auf das entstehende Parteiensystem hat. Es lassen sich dabei drei unterschiedliche Formen der Interaktion von Cleavages unterscheiden. Zum einen können sich Cleavages überlappen, wenn sie sich an der selben sozialen Trennlinie ausrichten. Zum Beispiel können in einem Staat alle wohlhabenden Bürger gläubige Christen und alle Arbeiter säkular eingestellt sein. „Cross-cutting Cleavages“ sind eine weitere Variante. Hier liegen zwei wichtige Cleavages „senkrecht“ zueinander, d.h. es gibt sowohl unter den Bürgern als auch unter den Arbeitern christlich und säkular eingestellte Menschen. Dies führt meist zu einem sehr stark fragmentierten Parteiensystem. Eine dritte denkbare Möglichkeit wäre schließlich ein einzelnes dominantes Cleavage, das sämtliche anderen Cleavages verdrängt. Das würde wiederum ein Zweiparteiensystem begünstigen.[5]

2.2. Zentrum-Peripherie Cleavage

2.2.1. Entstehung des irakischen Nationalstaats

Lipset und Rokkan sehen das Zentrum-Peripherie Cleavage als eine direkte Folge der Bildung von Nationalstaaten. Im Zentrum dieser Staaten stand eine dominante Kultur, die die Regierungsgewalt über das gesamte Staatsterritorium beanspruchte. Um ihre Machtposition zu festigen, versuchten diese Zentralgewalten innerhalb des Landes wichtige Bereiche wie Gesetze, Verwaltung oder die Sprache zu standardisierte. Oftmals setzten sich verschiedene ethnische, sprachlich und religiöse Minderheiten innerhalb des Staates gegen die Standardisierungsversuche des Zentrums zur Wehr. Wurden diese Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie zu stark, hatte dies eine Abspaltung der umstrittenen Region vom Zentralstaat zur Folge.[6] Das Ergebnis dieser Entwicklung in Westeuropa waren kulturell weitgehend homogene und stabile Staaten. Das Zentrum-Peripherie Cleavage ist deshalb in den meisten westeuropäischen Ländern von eher untergeordneter Bedeutung.[7]

Die Situation im Irak stellt sich hingegen völlig anders dar. Das Land ist ethnisch und konfessionell tief gespalten und bis jetzt konnte sich jede Regierung nur mittels militärischer Macht und mehr oder weniger starker Unterdrückung der Bevölkerung behaupten. Das bedeutendste Cleavage im Irak ist folgerichtig das Zentrum-Peripherie Cleavage. Die Ursache für diese völlig konträre Entwicklung und der bis heute bestehenden Instabilität ist in der Entstehungsgeschichte des irakischen Nationalstaats zu finden.

Die Grenzen der westeuropäischen Staaten haben sich in jahrhundertelangen Prozessen geformt und ihre Bevölkerung besitzt meist ein ausgeprägtes und historisch begründetes Nationalbewusstsein. Die irakische Nation ist hingegen ein „am Reißbrett“ entworfenen Gebilde. Innerhalb der willkürlich gezogenen Landesgrenzen fanden sich plötzlich Menschen unterschiedlichster Ethnien vereint, die nie zuvor eine gemeinsame nationale Identität entwickelt hatten. Das Territorium des heutigen Irak war bis 1917 Bestandteil des Osmanischen Reiches und umfasste die drei Verwaltungsbezirke Basra, Bagdad und Mossul. Es war damals ein unbedeutendes und in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung zurückgebliebenes Randgebiet des riesigen Reiches. Die Macht der osmanischen Herrscher war in dieser Region dementsprechend schwach und die Stammesfürsten genossen ein hohes Maß an Autonomie. Deshalb blieben die Menschen dort traditionellen Normen und Identitäten wie die Stammeszugehörigkeit, ethnische Herkunft und Religion besonders stark verbunden.[8] Eben diese ausgeprägten Gruppenidentitäten erschwerten später die Entwicklung einer nationalen Identität im Irak.

Nach dem Ende des ersten Weltkriegs zerschlugen die Entente-Staaten das Osmanischen Reich, dass auf der Seite der Mittelmächte gekämpft hatte. Im Sykes-Picot-Abkommen teilten Großbritannien und Frankreich das Territorium zwischen dem persischen Golf und dem Mittelmeer unter sich auf. Mehr oder weniger beliebig wurden Grenzen durch die Region gezogen und der bereits während des Krieges von britischen Truppen besetzte Irak den Briten zugeschlagen, die dort ein Protektorat nach indischem Vorbild errichten wollten. Mit diesem Vorhaben stießen sie aber auf den erbitterten Widerstand der Bevölkerung. Überall im Land kam es zu Protesten und Aufständen. Dieser Widerstand gegen die britische Militärverwaltung kann als Ursprung des irakischen Nationalbewusstseins bezeichnet werden.[9] Es formte sich ein Zentrum-Peripherie Cleavage mit den britischen Besatzern auf der einen Seite und dem irakischen Volk auf der anderen Seite. In ihrem Kampf gegen die Besatzung und für einen unabhängigen Irak zusammengeschweißt, entwickelten die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zum ersten mal eine kollektive nationale Identität. Überall im Land entstand organisierter Widerstand, der in der sogenannten „Revolution von 1920“ gipfelte. Auch wenn es den Briten gelang die Revolte nach monatelangen schweren Kämpfen niederzuschlagen, der Kampf der Iraker war nicht vergebens. Durch diesen Zwischenfall geschockt entschied London sich gegen eine weitere Besatzung des Landes und für eine irakische Selbstverwaltung. Daraufhin wurde 1921 das Königreich Irak gegründet und Emir Faisal von den Briten als Herrscher eingesetzt, die aber weiterhin die bestimmende Macht im Irak blieben.[10]

[...]


[1] Siehe hierzu Seymour Martin Lipset et al., 1967: Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments: An Introduction. New York.

[2] Die Ergebnisse der beiden Wahlen sind ausführlich in Tabelle 1 und Tabelle 2 im Anhang aufgeführt

[3] Vgl. Michael Gallagher, 1995: Representative Government in Modern Europe, 2. Auflage. New York, S. 211ff.

[4] Vgl. ebd. S. 210f.

[5] Vgl. Michael Gallagher, 1995: a.a.O., S. 214f.

[6] Vgl. ebd. S.211f.

[7] Vgl. ebd. S. 216.

[8] Vgl. Peter Heine, 2002: Schauplatz Irak. Hintergründe eines Weltkonflikts. Freiburg, S.41.

[9] Vgl. Hans J. Nissen et al., 2003: Von Mesopotamien zum Irak. Kleine Geschichte eines alten Landes. Berlin, S. 176.

[10] Vgl. Peter Heine, 2002: a.a.O., S. 42ff.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Ein gespaltenes Land?
Untertitel
Cleavagestruktur und Parteiensystem des Irak
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Veranstaltung
Parteiensysteme im Vergleich
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
22
Katalognummer
V88193
ISBN (eBook)
9783638017435
ISBN (Buch)
9783638919555
Dateigröße
463 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Land, Parteiensysteme, Vergleich
Arbeit zitieren
stud. rer. pol. Stephan Richter (Autor:in), 2006, Ein gespaltenes Land?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88193

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