Räumliche Gestaltung des therapeutischen Milieus dementiell Erkrankter

Ökologische Gerontologie


Hausarbeit, 2006

47 Seiten, Note: bestanden


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Demenz, ein stetig wachsendes Problem
2.1 Studien zeigen Handlungsbedarf

3. Räumliche Gestaltung als Bestandteil einer Milieutherapie
3.1 Mögliche Anwendungsbereiche

4. Der Unterschied zwischen Demenz und dem normalen Alterungsprozess
4.1 Der funktionelle Aufbau des Gedächtnisses
4.2 Welche Gedächtnisfunktionsbereiche sind beim Demenzkranken beeinträchtigt und wie wirkt sich dies auf Erleben und Verhalten aus ?
4.3 Die klassischen Verlaufsstadien dementieller Erkrankungen
4.3.1 Früh- oder Vergessensstadium (1-3 Jahre)
4.3.2 Mittleres Verwirrtheitsstadum (2-10 Jahre):
4.3.3 Fortgeschrittenes Hilflosigkeits- oder Spätstadium (8-12 Jahre)

5. Theoretische Perspektiven und Modellansätze
5.1 Was sind wohnliche Grundbedürfnisse, sind Demenzkranke hierfür überhaupt empfänglich ?
5.1.1 Sicherheit und Schutz
5.1.2 Beständigkeit und Vertrautheit:
5.1.3 Privatheit
5.1.4 Kontakt, Kommunikation und Zugehörigkeit
5.1.5 Anerkennung, Repräsentation, Selbstgestaltung- und verwirklichung
5.2 Das Komplementaritäts- Ähnlichkeits- Modell (Carp & Carp, 1984)
5.2.1 Teil 1 (Carp & Carp, 1984)
5.2.2 Die Rolle der Autonomie
5.2.3 Teil 2 (Carp & Carp, 1994)
5.2.4 Die Rolle der subjektiven Wahrnehmung als Modell - Interpretation
5.2.5 Die Rolle der Modifiers
5.1 Das Belastungs- Bewältigungs- Paradigma zur Person- Umwelt- Interaktion älterer Menschen (Saup, 1987)
5.3.1 Das Erleben von objektiven Belastungsfaktoren
5.3.2 Der Umgang mit objektiven Belastungsfaktoren
5.4 Fazit

6. Konkrete Ansatzpunkte milieutherapeutisch räumlicher Gestaltung
6.1 Sicherheit, Übersichtlichkeit und Beständigkeit des Wohnbereichs
6.2 Blick auf Zonen mit zeitlicher Strukturiertheit
6.3 Zugehörigkeit
6.4 Selbstgestaltung und Repräsentation des Privaten Bereichs
6.5 Autonomieförderung durch Aufforderungscharakter und soziale Ressource
6.6 Freie Wandermöglichkeit als ästhetischer Erlebnisraum
6.7 Außenbereich
6.8 Abschließende Bemerkung

7. Empirische Befunde zu milieutherapeutisch räumlicher Gestaltung

8. Resümee

Anhang 1

Anhang 2 / Abb. 1

Anhang 3

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Syndrom Demenz ist eine psychische Störung, welche sich auszeichnet durch eine Abnahme des Gedächtnisses und mindestens einer weiteren kognitiven Fähigkeit, wie z.B. Urteilsfähigkeit, Denkvermögen oder Planen (Försterl & Calabrese, 2000). Der Mensch ist in seiner einst erworbenen Intellektualität (Fertigkeiten) beeinträchtigt (Peters,1984 zitiert nach Wetterling, 2001, S.52). Beispielsweise hat er Schwierigkeiten sich an neue Situationen und soziales Milieu anzupassen (Wetterling, 2001). Es kommt zu Störung von Affektkontrolle, Antrieb und Sozialverhalten, wobei emotionale Labilität, wie Reizbarkeit und Apathie auftreten können (Försterl & Calabrese, 2000).

Die Beeinträchtigungen oder Symptome werden demnach in kognitive und Verhaltensstörungen eingeteilt (Grond,2005) welche sich durch eine deutliche Beeinträchtigung der Alltagsbewältigung auszeichnen (Försterl, 2000).

Der Erkrankte wird spätestens im mittleren Verlaufsstadium sozial auffällig (Grond, 2005), kann sich nicht mehr selbst versorgen und ist unweigerlich durch mangelnde Orientierungs- und Anpassungsfähigkeit auf pflegende Unterstützung, wie die einer Heimeinrichtung angewiesen (Wedel- Parlow & Fitzner, Nehen, 2004).

Im Zentrum steht die Frage, wie der Lebensraum eines Pflegeheims räumlich gestaltet sein sollte, um das Wohlbefinden und eine optimale Lebens(abend)qualität des Demenzkranken zu fördern. Betrachtet werden jene psychischen Merkmale, die beim Demenzkranken durch kognitive Beeinträchtigungen hervorgerufen werden und ihre Wechselwirkung im räumlich, heimischen Lebensraum des Patienten. Dabei steht vor allem das subjektive Erleben dieser Wechselwirkung im Mittelpunkt, mit dem Bestreben, verbleibende kognitiv psychische Ressourcen des Patienten durch entsprechend räumliche Gestaltung zu unterstützen.

Die für eine Milieutherapie zentralen Begriffe, wie Sicherheit, Geborgenheit, Orientierung, Autonomie, Privatheit und soziale Teilhabe, werden mit Hilfe geeigneter Theorien und Methoden als angestrebte Ziele konfiguriert und innerhalb eines empirisch abgesicherten Rahmens mit räumlichen Gestaltungsansatzpunkten in Beziehung gesetzt.

In Teil zwei wird zunächst auf das gegenwärtig stetig wachsenden Problem der Demenzerkrankung und dem diesbezüglich stationären Versorgungsstand eingegangen.

In Teil drei werden der Begriff Milieutherapie für Demenzkranke, sowie mögliche Anwendungsbereiche vorgestellt. Anschließend wird im vierten Teil die Demenzerkrankung anhand des Vergleichs zu normaler kognitiver Alterung, konkreter funktionaler Gedächtnisrückbildungen, sowie ihren klassischen Verlaufsstadien erläutert, um den progredienten Abbau und damit einhergehende psychische Veränderungen zu verdeutlichen.

Der fünfte theoretische Teil bezieht sich zunächst auf die Wohnbedürfnisse in Anlehnung an Maslow (1954) und Adritzky und Wentz- Gahler (1979). Es wird die psychische Empfänglichkeit des Demenzkranken für diese Art Wohnbedürfnisse im Pflegeheim argumentativ geprüft.

Das anschließende Komplemetaritäts- Ähnlichkeits- Modell Carp und Carps (1984) dient der auf den dementiell sich veränderten Menschen bezogenen Betrachtungsweise der Person- Umwelt- Interaktion und ihrer kongruenten Ausrichtung auf die Bedarfsstruktur des Erkrankten im Lebensraum Pflegeheim.

Durch das Belastungs- Bewältigungs- Paradigma älterer Menschen (Saup, 1987) wird das jeweils subjektive Erleben und der Umgang mit belastenden Umweltfaktoren im Pflegeheim erläutert, u.a. anhand fiktiver Beispiele eines geistig gesunden Rollstuhlfahrers im Vergleich zu einem Demenzkranken.

Die aus den theoretischen Ansätzen gewonnenen Erkenntnisse dienen in Teil sechs der Orientierung zur Darstellung konkreter räumlicher Gestaltungsansätze für eine segregativ stationäre Unterbringungsform dementiell Erkrankter.

In Teil sieben werden konkrete Wirkungsformen anhand empirischer Befunde vorgestellt, welche eine räumlich milieutherapeutische Gestaltung zum Gegenstand haben.

2. Demenz, ein stetig wachsendes Problem

Demenz ist neben Depressivität die zweit häufigste psychische Erkrankung im Alter (Berliner Altersstudie, 1996, zitiert, nach Grond, 2005, S.17). Etwa 6-8 % der über 65 jährigen in der westlichen Welt leiden an schwerer bis mittelschwerer Demenz. In Deutschland sind es gegenwärtig etwa eine Million (Försterl & Calabrese, 2005), wobei der genaue Bevölkerungsanteil immer mit den hierfür verwendeten Diagnosekriterien zusammenhängt (Wetterling, 2001). Die Alzheimer Demenz (AD) ist die am häufigsten vorzufindende Demenz- Form (Försterl, 2005).

Letztendlich kann eine Vielzahl von Erkrankungen, wie u.a. HIV oder auch ein Unfall mit Schädel-Hirn-Trauma auch beim jüngeren Menschen zu einer Demenz führen, wobei nur einige therapierbar sind (sekundäre Demenzen) (Grond, 2005), jedoch nimmt die Häufigkeit der irreversibel progredienten Verläufe (primäre Demenzen) mit dem Alter exponentiell zu (Bickel,zitiert nach Försterl & Calabrese, 2005,S.5).

Seit Ende der siebziger Jahre ist die Langzeitpflege Demenzkranker in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern durch die Verlagerung in den Heimbereich abgelöst worden. Somit ist die Betreuung dementiell Erkrankter inzwischen zur Kern- und Hauptaufgabe von Pflegeheimen geworden (Lind, 2004 a). Eine hohe Verantwortung angesichts des Anstiegs der Lebenserwartung in der Bevölkerung. Denn laut Hochrechnungen wird es im Jahr 2050 zwei bis zweieinhalb Millionen Demenzkranke in der BRD geben (Försterl & Calabrese, 2005). Wie auch aus dem Pflegebericht 2007 hervorgeht (Deutsche Demenz Stiftung, 2007), ist es daher dringend an der Zeit, speziell auf diese Erkrankung abgestimmte Betreuungs- und Pflegekonzepte nach jüngstem Forschungsstand zu modernisieren (Lind, 2004), denn hier zeigen sich, bezogen auf das psychische Wohlergehen der Erkrankten noch gravierende Mängel (Lind, 2004 a).

2.1 Studien zeigen Handlungsbedarf

Becker, Kruse, Schröder, Seidl, (2005) fanden unter Anwendung des Heidelberger Instruments zur Erfassung von Lebensqualität bei Demenz (H.I.L.DE) bei drei Stichproben aus elf Pflegeheimen neben einem vorbildlichen Allgemein- und Ernährungszustand bei 89 % der dementiell Erkrankten psychopathologische Auffälligkeiten. Diese waren auf nicht kognitive Symptome zurück zuführen, welche eine Bewusstseinsstörung* oder ein delirantes Syndrom* als Ursache ausschließen konnten. Auch zeigte sich eine unzureichende Diagnostik und therapeutische Versorgung.

Ähnliche Befunde erbrachte eine Langzeituntersuchung (Vollerhebung) von 1998- 2001 der Universität Lüneburg, der psychiatrischen Klinik Häcklingen / Lüneburg, sowie der Medizinischen Hochschule Hannover im Landkreis Uelzen.

In der stationären Altenpflege zeigten sich bei 36 % von insgesamt 48 % der demenzkranken Bewohner psychische Störungen, die ebenfalls nicht auf die dementielle Symptomatik zurückzuführen waren. Diese beeinträchtigten

besonders das Sozialverhalten in Bezug auf Pflegekräfte und Mitbewohner im Pflegeheim (Hartwig, Heese, Waller, Machleidt, 2005). Die standardisierte Fragebogenerhebung ergab, dass keine Einrichtung im Landkreis Uelzen, derzeit über ausformulierte Konzepte zur Pflege und Betreuung dementiell erkrankter Bewohner verfügte (Hartwig et al., 2005).

Die Ursachen dieses negativen Zustandes bei beiden Untersuchungen werden von Becker et al. (2005) auf mangelnde gerontologisch geriatrischer Ausbildung der Betreuungskräfte und von Hartwig et al. (2005) zudem auf deren mangelnde Zusammenarbeit, sowie das mangelnde Bewusstsein dieser Problematik auf Seiten der Heimleitung zurückgeführt.

Hartwig et al. (2005) verweisen auf eine Entsprechung dieses Bildes für das Land Brandenburg. Darüber hinaus erheben sie den Anspruch einer Generalisierung der Ergebnisse auf das gesamte Bundesgebiet, mit Ausnahme einiger derzeitiger Modellprojekte für Demenzkranke.

Welche Rolle spielt die räumliche Gestaltung in diesen Modellprojekten ?

3. Räumliche Gestaltung als Bestandteil einer Milieutherapie

Gerontologen, Psychologen und Architekten haben sich in den letzten Jahren zunehmend mit räumlicher Gestaltung befasst, welche explizit auf die subjektiven Wahrnehmungsveränderungen Demenzkranker, sowie deren Auswirkungen auf das Zusammenleben eingehen soll (vgl. z.B. Heeg, 1993; Lind, 2000). Evaluiert werden derartige Wohnkonzepte durch Forschungsbefunde, welche aus den USA und Schweden bereits seit Mitte der 70-ger Jahre bekannt sind (vgl. Heeg, 1993; Lind, 2001). Aber auch in Deutschland sind bauliche Gestaltungsprojekte zum Gegenstand der Forschung geworden (vgl. Heeg, 2004; Regentin, 2005). Diese Bemühungen sind enge Bestandteile einer Milieutherapie, eines Betreuungskonzeptes, welches darauf ausgerichtet ist, Bewohnern einer Heimeinrichtung eine Lebensgestaltung zu ermöglichen, die so alltagsnah oder familiär wie möglich ist (Grond, 2005).

Eine Milieutherapie für dementiell Erkrankte kennzeichnen folgende Punkte:

1.Soziales Milieu (konstante Betreuungspersonen /Angehörige/ Mitbewohner
2.Betreuungsprogramm (Aktivitäten / Validation* /Musiktherapie u.a.
3.Tagesstrukturierung
4.räumliche Anordnung /Ausstattung, / Farbgebung ect. (vgl. Grond, 2005)

In der Gerontologie ist der aus der Psychiatrie stammende Begriff „Milieutherapie“ bisher nicht ganz eindeutig definiert (Graber- Dünow, 2003). Entscheidendes Hauptmerkmal aber ist die Aufmachung des räumlichen und sozialen Lebensraums, welche jedem Bewohner eine persönliche und heimisch, vertraute Identifizierungsmöglichkeit verschaffen soll (vgl. Grond, 2005). Denn Forschungen belegen einen dadurch positiveren Einfluss auf kognitive Fähigkeiten, psychiatrische Auffälligkeiten, sowie soziale Kompetenz, der dementiell Erkrankten als in konventionellen Heimeinrichtungen mit institutionell, unpersönlichem Charakter (Wetterling, 2001).

3.1 Mögliche Anwendungsbereiche

Milieutherapie kann Anwendung in Alten- und Pflegeheimen finden, aber auch in Einrichtungen zum betreuten Seniorenwohnen* (vgl. Saup, Eberhard, Huber, Koch, 2004). Die Meinungen aus fachlicher Sicht hierüber sind jedoch geteilt, da der progrediente Verlauf einer Demenzerkrankung unweigerlich schwere Belastungen für alle Beteiligten (nicht- demente ältere Mitbewohner, Betreuungspersonen, Demenzkranke, Angehörige) mit sich bringt (Lind, 2004 b). So werden die konzeptuellen Überlegungen Saups et al. (2004) die eine möglichst lange Verweildauer dementiell Erkrankter in Einrichtungen zum betreuten Seniorenwohnen trotz fortschreitender Krankheit antizipieren, von Lind (2004 b) als „ realitätsferne Empfehlungen “ bezeichnet (S.1). Er spricht sich für eine stationär- segregativ milieutherapeutische Unterbringungsform mobiler bis teilmobiler Demenzkranker aus, da Untersuchungen zeigen, dass integrativ stationäre milieutherapeutische Ansätze (Demente und nicht -Demente zusammen) von Rückzug, Depressivität und Stresssymptomen der Bewohner geprägt sind.(Lind, 2005).

Um eine milieutherapeutisch segregative Unterbringungsform anhand geeigneter Theorien und Modelle zu erklären, ist zunächst von Interesse, worin

eigentlich der Unterschied zwischen einer Demenzerkrankung und dem normal altersgemäßen kognitivem Abbau besteht, und warum Demenzkranke deshalb eine „normgerecht“ institutionell gestaltete Heimumgebung (noch) defizitärer erleben, als ihre nicht- dementen Mitbewohner (Heeg, 1993).

4. Der Unterschied zwischen Demenz und dem normalen Alterungsprozess

Hier steht laut Wetterling (2001) zunächst einmal das Problem der Definition für „Altersnormal“ im Zentrum, welche aber für gewöhnlich eine physiologische Veränderung von Körper- und Hirnfunktionen beschreibt (Abnahme von Seh- und Hörfähigkeit, Abnahme der Muskelmasse, hormonelle Veränderungen u.a.) Bemerkbar als eine Verringerung umweltrelevanter Kompetenz* (Saup, 1989). Doch diese interindividuell sehr unterschiedlichen nicht pathologischen Einbußen sind in der Regel durch individuelle Ausgleichsleistungen* zu kompensieren (Saup, 1989) und führen daher nicht zu großen psychischen Beeinträchtigungen, wie Angststörungen oder intellektueller Einschränkung im Sozialverhalten (Oesterreich et al. 1985, zitiert nach Wetterling, 2001, S.29). Derartige Symptome einer Demenz müssen zur diagnostischen Abgrenzung zudem mindestens 6 Monate andauern (Grond, 2005).

Der Übergang zwischen „altersnormal“ und „eindeutig dement“ ist jedoch fließend (Försterl,2000). Wegen des langsamen Fortschreitens, bleibt die Krankheit lange unentdeckt (Grond, 2005). Bereits eine leichte kognitive Beeinträchtigung (LKB) im Alter, stellt ein hohes Risiko für eine Demenzerkrankung dar und kann bei 30- 50% der Betroffenen als Übergangsstadium (innerhalb von 3- 4 Jahren) zu einer Demenzerkrankung angesehen werden (Zaudig, 1999). Die LKB, von der ca 10-15 % aller über 65-jährigen betroffen sind, ist genauso wie Demenz zu unterscheiden von anderen psychischen Störungen, wie Depression oder spezifisch organischen Ursachen. Sie äußert sich durch besondere Probleme im Kurzzeitgedächtnis, Auffassung- und Aufmerksamkeitsvermögen (Zaudig, 1999). Diese Erscheinungen, welche zwar deutlich unter der altersnormalen Gedächtnisleistung liegen, können jedoch im Alltag kompensiert, auf einem hierfür typischen Niveau verbleiben und müssen nicht zwangsläufig eine Progredienz zu Demenz- Symptomen aufweisen. Denn letztere kennzeichnen immer sehr schwerwiegende im normalen Alltag nicht zu kompensierende psychosoziale Kompetenzeinbußen, sowie räumliche Orientierungsschwierigkeiten. (Försterl, 2000).

Kennzeichen einer Demenz als Abgrenzung zum normalen Alterungsprozess:

-nicht mehr planen und organisieren können, statt nur verlangsamt
-nicht länger als 10 Min. Konzentration aufbringen können
-sehr wichtige Dinge an ungewöhnliche Orte verlegen, anstatt mal gelegend-

lich etwas unwichtiges zu vergessen

-nichts mehr neues lernen, statt nur unter Zeitdruck schwer zu lernen
- kaum urteilen oder Gefahren einschätzen können (Grond,2005)

Wie genau lassen sich derartige hirnpathologische Veränderungen des dementiell Erkrankten und ihre Auswirkungen auf das Umweltverhalten in räumlicher und sozialer Umgebung erklären ?

Dazu ein Überblick über Aufbau und Funktionen des Gedächtnisses.

4.1 Der funktionelle Aufbau des Gedächtnisses

Das Gedächtnis birgt eine Vielzahl inhaltlich- und zeitlich voneinander differenzierbarer Lern- und Abrufleistungen (Tulving,1995, zitiert nach Försterl & Calabrese, 2000, S.7). Sie zählen zu den wichtigsten kognitiven Funktionen der ontogenetischen* und phylogenetischen* Lebensgrundlage .Erst durch das Gedächtnis und das Lernen (als gedächtnisabhängiger Erwerb und dauerhafte Verfügbarkeit über selbst- und umweltbezogene Reize und Reizzusammenhänge) ist es möglich, ein zeitlich geordnetes und inhaltlich kohärentes Bild von unserer Umwelt und von uns selbst zu erstellen “ (Försterl & Calabrese, 2000 S.7). Deshalb sind Gedächtnisstörungen für unvollständige, fehlerhafte oder fehlgeleitete Assoziationen verantwortlich, die sich als Merkfähigkeitsstörungen, Erinnerungslücken, agnostische Störungen*, bis zu Verkennungszuständen auswirken können.

Förstel (2000) unterscheidet in der Speicherform zwischen:

1. Ultrakurzzeitgedächtnis(UKZG),Millisekunden
2. Kurzeitgedächtnis (KZG), Sekunden bis Minuten
3. Langzeitgedächtnis (LZG), Stunden bis Wochen
4. Altgedächtnis (Alt-G), Monate bis Jahre.

Das UKZG als früheste Stufe der sensorischen Reizaufnahme (akustisch/ ikonisch/ taktil/ gustatorisch/ olfaktorisch) selektiert die unbegrenzte Zahl an Reizmerkmalen aus der Umwelt für eine anschließende Verarbeitung im KZG. (Försterl & Calabrese, 2005). Das KZG besteht aus mehreren Speichersystemen, die durch eine übergeordnete Instanz, dem Arbeitsgedächtnis koordiniert und kontrolliert werden (Pritzel, Brand, Markowitsch, 2003). Hier wird das Reizmerkmal weiter in räumlich und/ oder zeitliche und /oder semantische Relationen (Bedeutungseinheiten) eingebettet, also entsprechend enkodiert (Försterl & Calabrese, 2005). Dies erfordert Beziehungen zwischen bereits verfestigten Gedächtnisspeicherungen und neuen Reizen herzustellen, assoziativ Sinnzusammenhänge zu selektieren und zu übertragen, zu kombinieren und zu vergleichen (Förstel & Calabrese, 2000). Erst durch diese „ Arbeit “ erhält der Mensch eine „ mentale Repräsentation der Außenwelt “ (Försterl & Calabrese, 2000, S. 14), einen Kontext sowohl für das Verstehen, als auch für neue Wahrnehmungen. Z.B. die Orientierung während eines Spazierganges oder die Verfolgung eines Themas während eines Gesprächs (Pritzel et al. 2003).

Das Arbeitsgedächtnis dient der Aufmerksamkeit, dem kurzfristigen Halten und Manipulieren von Information und stellt allgemein die Schnittstelle zwischen reinen Speicherfunktionen und komplexen kognitiven Prozessen dar (Pritzel et al. 2003).

Im LZG, sowie Alt-G werden Informationen aus dem KZG meist bildhaft oder nach inhaltlich oder auch emotionaler Bedeutung enkodiert zu einem festen Wissensgefüge des Menschen über sich und die Umwelt (Erfahrungen, Regeln, Wörter, Symbole usw.) (Pritzel et al. 2003). Hieraus kann sich das Arbeitsgedächtnis z.B. auch bei der Planung zukünftiger Handlungen, welche das Einbeziehen erfahrenen Wissens oder das Abrufen kognitiver Karten u.a. erfordern bedienen (vgl. Goldman-Rekic et al. 2000, zitiert nach Försterl & Calabrese, 2000, S.10).

Zudem lassen sich Gedächtnisleistungen domänspezifisch (also nach Inhalt) differenzieren, wobei zwischen deklarativen (expliziten) und nicht deklarativen (impliziten) Gedächtnisleistungen unterschieden wird (Försterl & Calabrese, 2000). Erstere beschreiben den bewußt, willentlichen Abruf von räumlich- zeitlich eingebundener Information (Episodengedächtnis des Lebenslaufs) oder kontextunabhängiger Wissensinhalte (semantisches Gedächtnis oder Wissenssystem / z.B. Abrufen mathematischer Formeln). Nicht deklarative Gedächtnisleistungen dagegen beschreiben Lernleistungen, des unbewussten Wiedererkennens wiederholt präsentierter Merkmale, Konditionierungsvorgänge (Priming) oder den nicht bewusst willentlichen Abruf von Fertigkeiten (z.B. Fahradfahren / Klavier spielen) (vgl. Försterl, & Calabrese 2000)

4.2 Welche Gedächtnisfunktionsbereiche sind beim Demenzkranken beeinträchtigt und wie wirkt sich dies auf Erleben und Verhalten aus ?

Der kognitive Abbau des Demenzkranken erfolgt stufenweise, spezifisch nach Person (Saup, et al.2004) und Krankheitsform (Wetterling, 2001).

Beeinträchtigt wird besonders das KZG und Arbeitsgedächtnis, sowie das LZG. Ein Merksatz lautet: Was zuletzt erlebt wurde, wird als erstes wieder vergessen (Grond, 2005). Besonders explizite Funktionen sind vom Abbau betroffen (Försterl, 2005). Der Abbau des Alt-G erfolgt erst im sehr weit fortgeschrittenem Stadium der Erkrankung (Grond, 2005).

4.3 Die klassischen Verlaufsstadien dementieller Erkrankungen

4.3.1 Früh- oder Vergessensstadium (1-3 Jahre)

Försterl und Calabrese (2000) beschreiben ein beginnendes Demenzsyndrom als gekennzeichnet durch 1.Beeinträchtigungen im Bereich komplexer Aufmerksamkeitsleistungen (Selektionen des Informationsflusses), z.B. wurde hier beim AD- Patienten bereits eine hohe Fehlerrate beim Orientierungswechsel der visuell räumlichen Aufmerksamkeit nachgewiesen (Parasuraman et al. 1992, zitiert nach Försterl, 2005, S.20). 2. Beeinträchtigungen im Bereich mnestischer Informationsverarbeitung. Mittel- und längerfristige Behaltensleistungen, sind z. B. bei AD deutlich beeinträchtigt. 3. Beeinträchtigung im Bereich kognitiver Flexibilität: Das Arbeitsgedächtnis des z.B. AD- Patienten ist nur bedingt in der Lage, neu einströmende Informationen festzuhalten und mit alten Speicherungen in Beziehung zusetzen (Assoziationsdefizit). Dies liegt vor allem an einer Kapazitätsreduktion, welche bereits bei Informationsaufnahme vorherrscht, sowie defizitären Abrufleistungen und somit unlogischen Abrufstrategien.

Es kommt zu Wortfindungsstörungen und eingeschränkter Mobilität aufgrund von Orientierungsschwierigkeiten auch in gut bekannten Umgebungen (Grond, 2005), ein Verlust an Autonomie und sozialem Kontakt sind die Folge (Krauss, 1989, zitiert nach Wedel- Parlow et al. 2004, S.39).

Da der Erkrankte seine psychische Veränderung durchaus wahrnimmt, lösen diese Defizite ein Gefühl großer Unsicherheit und Deprimierung beim ihm aus mit gravierenden Folgen für sein Selbstwertgefühl (Wedel-Parlow et al. 2004).

Reaktionen auf diese Empfindungen können unterschiedlich sein, z.B. Vertuschungsversuche eigener Inkompetenz, Verdrängen dieser aus dem Bewusstsein, aggressive Verstimmtheit. Es kann zur Abschottung gegenüber Interaktionspartnern aber auch zu ängstlichem Klammern kommen (Grond, 2005).

[...]

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Details

Titel
Räumliche Gestaltung des therapeutischen Milieus dementiell Erkrankter
Untertitel
Ökologische Gerontologie
Hochschule
University of Sheffield  (Universität)
Note
bestanden
Autor
Jahr
2006
Seiten
47
Katalognummer
V89705
ISBN (eBook)
9783638038041
ISBN (Buch)
9783638935036
Dateigröße
1213 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Räumliche, Gestaltung, Milieus, Erkrankter
Arbeit zitieren
Henrike Marie Stock (Autor:in), 2006, Räumliche Gestaltung des therapeutischen Milieus dementiell Erkrankter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89705

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