Dem Despoten ausgeliefert

Darstellung fremder Herrscher bei Goethe (Thoas), Lessing (Saladin), Mozart (Selim)


Term Paper, 2007

24 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhalt:

I. Einleitung
1. Entführungsmotiv
2. Aufklärung

II. Goethe: Iphigenie auf Tauris
1. Exposition
2. Finale

III. Lessing: Nathan der Weise
1. Figurenkonstellation
1. Sultan Saladin
2. Der Patriarch von Jerusalem

IV. Mozart: Die Entführung aus dem Serail (KV 384)
1. Konstanze und Selim?
2. Das Finale

V. Wie aufgeklärt sind die Herrscher am Schluss?

VI. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit drei Werken des 18. Jahrhunderts: Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘, Lessings ‚Nathan der Weise‘ und Mozarts ‚Die Entführung aus dem Serail‘. Gegenstand der Betrachtungen ist dabei die Darstellung der Herrscher-Figuren.

Unter diesem Blickwinkel stellt man schnell fest, dass große motivische Ähnlichkeiten zwischen den Stücken bestehen. Nach Einzeldarstellungen soll unter Beachtung des geistesgeschichtlichen Kontextes der Aufklärung dann versucht werden, Antworten auf die Frage ‚Wie soll ein Herrscher (nach Auffassung der Autoren) sein?‘ zu finden. Es wird sich herausstellen, dass die Autoren diese Frage nicht einfach mit einer Forderung beantworten, wohl wissend, dass auch aufgeklärte absolutistische Herrscher stets im Spannungsfeld von ‚Wollen‘ und ‚Können‘, von ‚Freiheit‘ und ‚Verantwortung‘ stehen.

1. Entführungsmotiv

Gemeinsam ist den Werken das sog. ‚Entführungsmotiv‘: Eine junge europäische Frau ist in einem kulturell vermeintlich niederen Land gefangen und dem dortigen Herrscher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ein junger, ebenfalls europäischer Held erreicht dieses Land und verwickelt sich in ein Abenteuer, um die Schöne zu retten.

Es gibt zahlreiche Werke mit diesem Motiv. Dabei hat sich für die Gestalt des Herrschers ein Stereotyp des ‚Barbaren‘ entwickelt. Nach der Belagerung Wiens 1683 wurden ‚die Türken‘ zwar als faszinierend, aber doch kulturell unterlegen und primitiv angesehen. Dieses Vorurteil vermischte sich langsam mit nach wie vor herrschenden Kreuzzugsideologien, welche die kulturelle Überlegenheit Europas gegenüber allem Fremden behaupteten. Mit der Zeit wurden türkische Herrscher, als ‚Moslems‘ allgemein als Gegensatz zum christlichen Europa stehend, generell mit zwei grundlegenden Charaktereigenschaften, die allein auf Angst und Vorurteilen gegenüber dem Islam beruhten, versehen:

Die wichtigsten Aspekte von Mohammeds Charakter für die Christen waren sexuelle Zügellosigkeit … und die Anwendung von Gewalt in der Verbreitung seines Glaubens. … (Diese) etablieren sich in der Folge als die Hauptmerkmale im westlichen Bild des Moslems überhaupt.[1]

Andererseits herrscht eine gewisse Faszination am Fremden, mit dem man nun stärker als zuvor in Kontakt trat und das doch so ganz anders war als das bekannte Europa und das noch voller Wunder und ‚Natürlichkeit‘ zu sein schien.

(Thus the) leading writers of the Enlightenment turned specifically to the cultures of the East to create heroes directly counter to this popular image.[2]

Zusammengefasst herrschte in dieser Zeit eine

Spannung zwischen Angst vor dem Fremden und Annäherung daran, von Xenophobie und Humanität in der Weltanschauung der Aufklärung.[3]

2. Aufklärung

Die Aufklärung als geistesgeschichtlicher Kontext der Werke soll hier nur kurz in Erinnerung gerufen werden.

Die Aufklärung wird ihrem Inhalte nach allgemein definiert als eine Kultur- u. Geistesbewegung, die zum Ziel hat, auf religiöser oder politischer Autorität beruhende Anschauungen zu ersetzen durch solche, die sich aus der menschlichen Vernunft ergeben.[4]

Oder mit Kant gesprochen das „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen (H.i.O.) Verstandes zu bedienen!“[5] Kant erkennt aber auch die Notwendigkeit der Unterordnung im ‚privaten‘ (d.h. für ihn in Amtsausübung) Gebrauch der Vernunft unter eine höhere Autorität, um die Sicherheit des Gemeinwesens zu gewährleisten, das sonst in seinem Bestand gefährdet wäre.[6] Freiheit ordnet sich somit unter gewissen Umständen dem notwendigen Gehorsam unter, um eine größere Gefahr abzuwenden.

Für unseren Kontext von besonderer Bedeutung ist das „Aufkommen des Toleranzgedankens … Menschlichkeit und Menschenliebe (humanité)“[7]: Man begegnet dem Fremden nun nicht mehr grundsätzlich mit Vorurteilen, sondern versucht im Anderen sogar das Bessere zu finden. So wird die Fremde zum Gegenstand der Sehnsucht.

Die betrachteten Werke lassen alle einen aufklärerischen Ton erkennen, sie haben neben dem kulturellen einen ‚didaktischen‘ Zweck, wollen eben ‚aufklären‘. Dazu bedienen sie sich bewusst der als stereotyp bekannten Herrscherfiguren, nutzen diese aber gerade nicht zur Verurteilung des Fremden, sondern als ausgesuchtes Idealbild für die Herrscher des absolutistischen Europas. Denn wenn ein so, nach herrschender Meinung, primitiver König aufklärerisch handelt, wie sollte ein moderner westlicher Monarch da anders handeln?

II. Goethe: Iphigenie auf Tauris

J. W. Goethes „Iphigenie auf Tauris“, Erstausgabe 1787, nutzt als Grundlage den gleichnamigen Mythos, der uns von Euripides (4. Jh. v. Chr.) überliefert ist. Dieser bildet einen Teil der Tantaliden-Sage. Goethe konnte zum einen auf eine französische Werkausgabe Euripides‘ von Pierre Brumoys 1730 und für den größeren Zusammenhang auf das „Gründliche mythologische Lexicon“ von Benjamin Hederich (1770, 1. Aufl. 1724) zurückgreifen.[8]

Dieser Mythos dient gleichsam als Container für die intendierten Aussagen des Autors, der über eine bloße Nachdichtung hinausgeht. Auf Unterschiede zwischen Goethes und Euripides‘ Werk soll hier aber nicht näher eingegangen werden.[9]

1. Exposition

Die Ausgangssituation scheint prototypisch dem Entführungsdrama zu entsprechen. Iphigenie, Griechin und damit aus der überlegenen Kultur kommend, befindet sich auf Tauris in einem von König Thoas totalitär geführten ‚Barbaren-Staat‘ und scheint dem Herrscher vollkommen ausgeliefert. Auch wurde sie gegen ihren Willen von der Göttin Diane dorthin verbracht. Das Stück beginnt mit Iphigenies Monolog, der ihre Sehnsucht nach der Heimat ausdrückt:

Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten (V. 10)[10]
Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern / Ein einsam Leben führt! (V. 15f)

Befremdlich scheint hingegen die Art, in der Thoas von ihr beschrieben wird, er sei „ein edler Mann“ (V. 33) und halte sie in „heil’gen Sklavenbanden fest.“ (V. 34) Als moderner Leser wird man vielleicht an das ‚Stockholm-Syndrom‘ denken (was Stoff für eine weitere Untersuchung bereit hielte), doch hier soll etwas anderes daraus geschlussfolgert werden: Thoas wird aus dem Stereotyp des Despoten herausgehoben, ausgerechnet von seinem Opfer. So wird die zu erwartende simple Ausgangssituation gleich zu Beginn in Frage gestellt.

In seinem ersten Auftritt (I,3) trägt Thoas Iphigenie seine Brautwerbung an, „Zum Segen meines Volkes und mir zum Segen“ (V. 249). Schon die Formulierung dieser Werbung ist befremdlich, ist doch sein erstes Argument das Wohl seines Volkes, er hat keinen Thronerben (V. 232f), und erst das zweite Argument seine Liebe. So ist Thoas‘ „Werbung um Iphigenie eine staatspolitische Pflicht, die sich freilich mit der Neigung und dem Wunsch des Mannes deckt.“[11] Diese Motivation zeigt deutlich, dass Thoas ein verantwortungsbewusster Herrscher ist, der sich um die Zukunft seines Staates sorgt.

Wichtiger für den Charakter Thoas‘ ist aber die Tatsache, dass er Iphigenie überhaupt bittet. Schließlich ist sie seine Gefangene und er als absolutistischer Herrscher könnte sie sich einfach nehmen, niemand könnte ihn daran hindern. Die realen absolutistischen Herrscher des 18. Jahrhunderts haben das so getan, man würde es von ihm ebenso erwarten.

Die höchst würdige und besonnene, menschlich ansprechende Art, mit der König Thoas seine Werbung vorbringt und motiviert, widerspricht klar dem Bilde eines gewalttätig-wilden Despoten.[12]

Die Zurückweisung durch Iphigenie (V. 251), wenngleich sie nicht freundlicher und bescheidener ausgedrückt werden kann, bedeutet für Thoas gleich zwei Rückschläge: Er scheitert als Mann und auch als Herrscher.[13]

Als Begründung ihrer Unwürdigkeit erzählt Iphigenie die Geschichte ihrer Familie, die Tantalidensage. Es ist eine Geschichte, durchtränkt von der Grausamkeit der Götter und steht damit im krassen Gegensatz zu der Theologie Iphigenies, die das milde Wesen der Götter predigt (V. 523ff), weswegen sie sich auch weigert, als Priesterin die Opfer durchzuführen.

Durch ihre eigene Geschichte beweist Iphigenie also gerade das Gegenteil von dem, was sie den Tauriern über das milde Wesen der Götter beigebracht hat. Wie kann Iphigenie noch glaubwürdig wirken?[14]

Thoas besteht darauf den alten Brauch wieder einzuführen, nachdem jeder Fremde, der Tauris erreicht, geopfert werden muss (V. 509f). Damit nimmt der dramatische Handlungsbogen seinen Lauf, in dessen Zenit Iphigenie ihren Bruder töten soll. Thoas‘ Forderung nach Opfern scheint grausam und dann eben doch mit dem Stereotyp des brutalen Barbaren übereinzustimmen.

Doch wie oben geschildert, ist es Iphigenie selbst, die Attribute wie 'heilig' und 'edel' zur Charakterisierung Thoas‘ heranzog, sodass man vermuten kann, dass er durchaus ein frommer Herrscher ist. So geschieht die Wiedereinführung der Opfer aus „der geheimen Angst des Königs, die Götter herauszufordern, deren Beistands er nun, da die Aussicht auf eine baldige Lösung der Erbfolgefrage und damit der Staatskrise endgültig schwand, erst recht dringend bedarf.“[15] Dazu kommt, dass „für Thoas die Menschenopfer durchaus nicht als Mord gelten, ... sondern als Erfüllung eines Wunsches der Göttin, die sein Volk schützt.“[16] Und Thoas selbst sagt, dass er Diane die alten Opfer mit Unrecht vorenthalten habe (V. 507f).

[...]


[1] Wilson, W. Daniel: Humanität und Kreuzzugsideologie um 1780. Die „Türkenoper“ im 18. Jahrhundert und das Rettungsmotiv in Wielands ‚Oberon‘, Lessings ‚Nathan‘ und Goethes ‚Iphigenie‘, New York u.a.: Peter Lang Publishing 1984 (Kanadische Studien zur deutschen Literatur und Sprache, 30), S. 17; mit ausdrücklichem Bezug auf Daniel, Norman: Islam and the West. The making of an Image, Edinburgh 1960; Said, Edward: Covering Islam. New York 1981; Solbrig o.O.u.J

[2] Baumann, Thomas: W.A. Mozart, Die Entführung aus dem Serail. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 1987, S. 27

[3] Wilson S. 37

[4] Zeyer, Kirstin: Jean Jaques Rousseau (1712-1778), geistiges Umfeld. In: http://www.kirstin-zeyer.de/rousseau1.htm 27. Oktober 2007 11:16

[5] Kant, Imanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. In: Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft 1784 S. 481-494, zit. nach: http://www.uni-potsdam.de/u/philosophie/ texte/kant/aufklaer.htm 27. Oktober 2007 11:02, S. 481

[6] Vgl. Kant S. 485

[7] Zeyer ebd.

[8] Vgl. Jeßing, Benedikt: Johann Wolfgang Goethe ‚Iphigenie auf Tauris‘. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2002, S. 39ff

[9] Dass die Handlung nicht in einem türkischen/islamischen Umfeld spielt, ist nicht weiter von Bedeutung, „Die Skythen sind die ‚Türken‘ der antiken Welt.“ (Wilson S. 90)

[10] Zit. nach: Goethe, Johann Wolfgang: Iphigenie auf Tauris. Stuttgart 2005

[11] Müller, Joachim: Neue Goethe-Studien. Halle (Saale) 1969, S. 13

[12] Rasch, Wolfdietrich: Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘ als Drama der Autonomie. München 1979, S. 99

[13] Vgl. Müller ebd.

[14] Wilson S. 95

[15] Müller S. 14

[16] Rasch S. 109

Excerpt out of 24 pages

Details

Title
Dem Despoten ausgeliefert
Subtitle
Darstellung fremder Herrscher bei Goethe (Thoas), Lessing (Saladin), Mozart (Selim)
College
University of Potsdam
Grade
1,3
Author
Year
2007
Pages
24
Catalog Number
V89892
ISBN (eBook)
9783638041379
File size
544 KB
Language
German
Keywords
Despoten
Quote paper
Ulf Thomassen (Author), 2007, Dem Despoten ausgeliefert, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89892

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