Berufliche Anamnese in der ambulanten Entwöhnungsbehandlung alkoholabhängiger Menschen


Hausarbeit, 2002

27 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

1. Einleitung und Ausgangssituation

2. Grundsätzliche Überlegungen zur ambulanten Rehabilitation

3. Grundsätzliche Überlegungen zur Anamnese

4. Berufliche Anamnese

5. Berufliche Anamnese im Rahmen der therapeutischen Arbeit in einer Fachambulanz für Abhängigkeitserkrankungen

6. Leitfaden zur beruflichen Anamnese

7. Folgerungen aus der beruflichen Anamnese für die weitere therapeutische Arbeit

8. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Vorbemerkung

Mein besonderes Interesse, die berufliche Biographie meiner Patienten[1] genauer in den Blick zu nehmen, hat neben den unten erwähnten fachlichen Aspekten auch Hintergründe in meiner eigenen beruflichen Biographie.

Ich habe in verschiedenen Tätigkeitsfeldern gearbeitet, wo der berufliche Bereich im Mittelpunkt stand, so z.B. als Leiterin einer Qualifizierungsmaßnahme im Rahmen des Projektes „Arbeit statt Sozialhilfe“ sowie in meiner Tätigkeit als Sozialarbeiterin in einer orthopädischen Klinik, wo die zentrale Frage häufig lautete: „Wie kann es beruflich weiter gehen?“. Hier war es mir immer ein wichtiges Anliegen, mit den Klienten eine ressourcenorientierte berufliche Bestandsaufnahme zu machen um darauf aufbauend weitere Perspektiven zu erarbeiten.

Mir ist deutlich geworden, dass der Bereich „berufliche Weiterentwicklung“ i.w.S. ein Arbeitsfeld ist, das mich sehr interessiert, wo ich umfangreiche Berufs- und Lebenserfahrung einbringen kann und das ich in meinen unterschiedlichsten Arbeitsfeldern immer auch in den Blick nehmen möchte.

In die folgenden Ausführungen zur beruflichen Anamnese in der ambulanten Therapie wird auch meine Denk- und Arbeitsweise als systemische (Familien-) Therapeutin einfließen, die ich in der täglichen Arbeit als sehr hilfreich erlebe.

1. Einleitung und Ausgangssituation

Im Rahmen meiner jetzt gut einjährigen Tätigkeit im Arbeitsfeld Suchthilfe wurde mir sehr schnell deutlich, dass eine Abhängigkeitserkrankung neben vielfältigen somatischen und psychischen Erkrankungen auch mannigfaltige soziale Folgen impliziert. Ein Bereich, der hier sehr häufig betroffen ist, ist der Beruf, die Arbeitsstelle.

In meiner bisherigen Arbeit habe ich die Patienten im Rahmen des diagnostischen Vorgespräches und ggf. bei der Sozialberichtserstellung bezüglich ihres beruflichen Werdeganges befragt und dabei meist recht knappe, zum Teil auch verworrene und lückenhafte Informationen erhalten. Häufig war ich darüber unzufrieden und hatte den Eindruck, dass es hilfreich wäre, hier weitere wichtige Informationen zu erhalten. Ich war zunächst der Auffassung, nach der Erhebung erster Informationen diesen Bereich aus zeitlichen Gründen nicht vertiefter ansprechen zu können, um die „eigentliche“ Problematik bearbeiten zu können. Ich sehe jedoch immer stärker die Verflechtung zwischen dem beruflichen Bereich und der Abhängigkeit und bin auch der Auffassung, dass sich in diesem Bereich sehr vieles abbildet und Muster erkennbar sind, die auch für andere Lebensbereiche gelten.

In meiner beruflichen Praxis als Therapeutin in einer Fachambulanz für Abhängigkeitserkrankungen habe ich die Erfahrung gemacht, dass der größte Teil der Patienten in irgendeiner Weise Probleme bezüglich des Arbeitsplatzes hat.

Viele Patienten sind arbeitslos, haben massive Konflikte am Arbeitsplatz, treten die Therapie auf dem Hintergrund drohender Kündigung an, sind irritiert von massiven Diskrepanzen zwischen ihrer eigenen Wahrnehmung und der ihres Arbeitgebers, usw.

Zusammenfassend ist zu sehen, dass die aktuelle berufliche Situation vielen Patienten großen Leidensdruck verursacht. Ein weiterer Aspekt, dem die Therapie auch Rechnung zu tragen hat, ist die Sichtweise vieler Patienten, die sich neben vielen anderen Lebensbereichen insbesondere im beruflichen Bereich als Versager betrachten.

2. Grundsätzliche Überlegungen zur ambulanten Rehabilitation

Seit 1991 können neben stationären Entwöhnungsbehandlungen bei Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit auch ambulante Therapien gemäß den „Empfehlungsvereinbarungen Ambulante Rehabilitation Sucht“ finanziert werden. (vgl. Kruse, Körkel, Schmalz 2001, S. 214) Die Zielsetzung medizinischer Rehabilitation – ambulant wie stationär – besteht neben der Abstinenz und dem Ausgleichen bzw. Beheben psychischer und somatischer Störungen in einer möglichst dauerhaften Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft. (vgl. BfA 2000, S. 4 und Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 04.05.2001, S. 2)

Im Rahmen des Indikationsgespräches gilt es neben einer ersten diagnostischen Abklärung, festzustellen, ob für den jeweiligen Patienten eine ambulante oder eine stationäre Entwöhnungsbehandlung zum Erreichen der o.a. Ziele angezeigt ist.

Kriterien, die in diesem Zusammenhang bedeutsam sind, sind neben den eher strukturellen Faktoren Niedrigschwelligkeit und geringere Kosten u.a. folgende: Der Patient sollte über ein soziales Umfeld verfügen, das möglichst stützend ist. Belastungen des Umfeldes sollten im Rahmen der ambulanten Therapie bzw. durch Vermittlung an entsprechende andere Institutionen behandelbar sein. In Einzelfällen ist aufgrund der familiären Situation nur eine ambulante Behandlung möglich, z.B. wegen der Betreuung von Angehörigen durch die abhängige Person. Weiter soll möglichst eine stabile Wohnsituation sowie ein Arbeitsplatz vorhanden sein. (Letzteres ist als Empfehlung zu sehen, die nicht ausschließt, dass beispielsweise arbeitslose oder nicht erwerbsfähige Patienten ambulant behandelt werden können.)

Neben der Fähigkeit, abstinent zu leben und suchtmittelfrei zur Behandlung zu erscheinen, ist eine ausreichende Mobilität zum Erreichen der Behandlungsstätte erforderlich.

Die oben aufgeführten Kriterien dienen als Leitlinien für eine Entscheidung bezüglich ambulanter oder stationärer Therapie; letztlich ist immer die Situation des Einzelnen maßgeblich. In diesem Zusammenhang sind u.a. auch vorhandene Störungen im körperlichen, seelischen und sozialen Bereich zu berücksichtigen und es ist zu klären, ob diese im Rahmen ambulanter Therapie behandelbar sind.

Vorteile ambulanter Rehabilitation bestehen u.a. darin, dass in der Therapie erzielte Einsichten und Fortschritte umgehend im Alltag umgesetzt werden können. Zudem können Rückfallgefahren im Alltag sehr zeitnah bearbeitet werden und es kann eine kontinuierliche Begleitung diesbezüglich erfolgen. Auch bei sonstigen Problemen kann Unterstützung vor Ort erfolgen, z.B. bei Überschuldung durch Vermittlung an eine Schuldnerberatungsstelle. (vgl. Kruse u.a., S. 214; Lindenmeyer 1999, S. 44; Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 04.05.2001, Anlage 3)

3. Grundsätzliche Überlegungen zur Anamnese

Das Wort Anamnese ist griechischer Herkunft und bedeutet „Rück-Erinnerung“ bzw. „Wiedererinnerung der Seele“ (vgl. Vent 1997, S. 38 und Osten 1995, S. 17). Bei der Anamnese handelt es sich um die „Gesamtheit der Informationen, die durch Befragung der Person oder auf andere Weise über ihren Lebenslauf gesammelt werden“ (Meili 1980, Sp. 88)

Ziel dieser Informationssammlung ist, die aktuelle Situation bzw. Problematik auf dem Hintergrund der Vorgeschichte besser verstehen, einordnen und deuten zu können, damit so eine möglichst sachgerechte Diagnose und Prognose gestellt werden kann. Auch zum Erkennen von Ressourcen und Kompetenzen sowie zum Verstehen der spezifischen Störung ist die Anamnese wichtig. Da der Schwerpunkt der Anamnese in der Regel im Erstgespräch bzw. im Rahmen der ersten Kontakte liegt, ist Aufbau und Gestaltung der therapeutischen Beziehung ebenfalls ein Zielaspekt der Anamnese (vgl. Schneider, B. 2002a). Insbesondere in dieser ersten Therapiephase sind die wesentlichen therapeutischen Grundhaltungen - positive Wertschätzung und emotionale Wärme, Echtheit und einfühlendes Verstehen (vgl. Kriz 1991, S. 204f) - von großer Bedeutung.

Sowohl aus verhaltenstherapeutischer als auch aus systemischer Perspektive ist die Anamnese nie abgeschlossen, sondern wird (in reduzierterem Rahmen) während der gesamten Therapie fortgeführt: immer wieder erfolgen neue Informationen, die sich wie Mosaiksteine in ein Gesamtbild, welches somit immer mehr Konturen erhält, einfügen lassen. Dabei ist die Anamnese nicht nur unter der Perspektive der Informationssammlung und Deutung zu sehen, sondern auch als Intervention, da mit der Art der Fragestellung oder Kommentierung für den Patienten Akzente gesetzt werden, die möglicherweise neue Perspektiven in seine bisherige Bewertung bringen (vgl. Kanfer, Reinecker, Schmelzer 2000, S. 113f und Kossow 2000, S. 262)

Zu Beginn einer Entwöhnungsbehandlung kann es leicht vorkommen, dass sich die Therapeutin einer solchen Fülle von Informationen gegenüber sieht, dass die Gefahr besteht, den Überblick zu verlieren. Hier kann es hilfreich sein, für die Anamnese eine gewisse Struktur zu haben. Die „Übersicht über das diagnostische Vorgehen“ von Müller (vgl. Müller 2001, S. 261) kann beispielsweise eine Strukturierungshilfe darstellen:

1. Aktuelle Situation der Störung
2. Suchtanamnese
3. medizinische Beurteilung mit Untersuchung und Anamnese
4. psychiatrische Beurteilung mit Untersuchung und Anamnese
5. aktuelle soziale Situation
6. allgemeine Biographie
7. Familienanamnese.“ (Müller, S. 261)

Aufgrund der vielfältigen Folgen der Alkoholabhängigkeit tauchen im Rahmen der anamnestischen Erhebung viele Aspekte auf, die für den Patienten möglicherweise unangenehm, peinlich oder mit Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen verbunden sind. In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, neben den oben bereits erwähnten therapeutischen Grundhaltungen Ressourcenorientierung, Reframing und Perspektivenerweiterung einzubringen, um so den Patienten zu unterstützen, sich selbst mehr Verständnis entgegen zu bringen und sich auch von der häufig vorhandenen, zumeist destruktiven Sichtweise „Ich bin das alles schuld“ zu distanzieren.

„Die fehlende Fokussierung auf Ressourcen, Potentiale und Lösungen bewirkt eine auf Negatives eingeschränkte Wahrnehmung, die zu einer Reduzierung und Entmutigung der KlientInnen beiträgt. Dieser Prozess wird begünstigt durch die ... Grundannahme, wonach psychische Phänomene als innerhalb von Menschen angesiedelt begriffen werden.“ (Schmidt-Keller 1996, S. 32) Diese intrapersonelle Perspektive sollte unbedingt um die interpersonelle, familiäre, berufliche und kulturelle Dimension ergänzt werden, um so verschiedene Verhaltens- und Erlebensweisen ganzheitlicher einordnen zu können. (vgl. Schmidt-Keller, S. 33)

Neben diesen Funktionen kann die Anamnese im Suchtbereich die Patienten zu einer realitätsnäheren Einschätzung ihrer Gesamtsituation führen; denn es fällt auf, dass die Mehrzahl der Patienten zu eher destruktiven Extremen wie „Sich-nieder-Machen“, Bagatellisierung oder Selbstüberschätzung neigt.

4. Berufliche Anamnese

Der Bereich Arbeit und Beruf ist für die meisten Menschen in irgendeiner Weise von Bedeutung, ganz gleich, ob er in Form einer Arbeitsstelle vorhanden ist oder aufgrund von Arbeitslosigkeit, Erkrankung, Familienphase o.ä. nicht vorhanden ist.

Ist ein Arbeitsplatz vorhanden, beinhaltet dies, dass ein Großteil der aktuellen Lebenszeit und Energie hier eingebracht wird und mittels der Erwerbsarbeit der Lebensunterhalt gesichert ist und somit die Erfüllung vieler Bedürfnisse erfolgen kann (und anderer aufgrund der Minimierung des Zeitkontingents vielleicht auch nicht). Neben diesen Faktoren sind mit der beruflichen Tätigkeit auch die Aspekte Zufriedenheit, Selbstwertgefühl, Status und Kontakte (mehr oder weniger positiv) verknüpft.

Viele Menschen, die aktuell keiner Erwerbsarbeit nachgehen, betrachten diesen Zustand als defizitär und streben (wieder) eine berufliche Tätigkeit an.

Nach Petzold gehört der Bereich Arbeit / Leistung neben Leiblichkeit, sozialem Netzwerk, materiellen Sicherheiten und Werten zu den fünf Säulen der Identität des Menschen (vgl. Petzold 1998, S. 227). „Berufswahl und Arbeit sind eine der bedeutendsten Identitätsbereiche in unserer Kultur. Die Zufriedenheit in diesem Bereich bestimmt weitgehend ein gutes Selbstwertgefühl.“ (Osten, S. 209)

Mit Blick auf diese Bedeutsamkeit des beruflichen Bereiches wird deutlich, warum eine gründliche berufliche Anamnese für eine gute und ganzheitliche therapeutische Arbeit sinnvoll ist, besonders dann, wenn davon auszugehen ist, dass es einen Zusammenhang zwischen dem beruflichen Bereich und der Beeinträchtigung / dem Problem gibt.

Die berufliche Anamnese dient neben der Informationsgewinnung bzw. auf diese aufbauend, dem Herausarbeiten von Mustern, die speziell im beruflichen Bereich vorhanden sind oder aber in vielen Lebensbereichen zu finden sind. Diese können, falls positiv und für den Patienten hilfreich, auf andere Lebensbereiche übertragen werden bzw. es kann bei negativen Mustern mit dem Patienten erarbeitet werden, wie diese unterbrochen werden können.

[...]


[1] Zur besseren Lesbarkeit und unter Berücksichtigung des überwiegenden Anteils männlicher Patienten verwende ich die männliche Form „Patient“, es sind jedoch immer beide Geschlechter gemeint.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Berufliche Anamnese in der ambulanten Entwöhnungsbehandlung alkoholabhängiger Menschen
Hochschule
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen  (Masterstudiengang Suchthilfe)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
27
Katalognummer
V9144
ISBN (eBook)
9783638159234
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Berufliche Anamnese, Sucht
Arbeit zitieren
Alice Crames (Autor:in), 2002, Berufliche Anamnese in der ambulanten Entwöhnungsbehandlung alkoholabhängiger Menschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9144

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