Der Lese- und Schreiblernprozeß. Verlauf, Kritische Stellen und verschiedene Lese- und Schreiblehrgänge


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

47 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung

1 Der ‘Normalverlauf’ des Schriftspracherwerbs und 2 mögliche Schwierigkeiten
1.1 Entwicklungsmodell des Schriftspracherwerbs nach Günther
1.1.1 Die praeliteral-symbolische Phase
1.1.2 Die logographemische Phase
1.1.3 Die alphabetische Phase
1.1.4 Die orthographische Phase
1.1.5 Die integrativ-automatisierte Phase
1.2 Mögliche Schwierigkeiten bei den Phasenübergängen
1.2.1 Von der praeliteral-symbolischen zur logographemischen Phase
1.2.2 Von der logographemischen zur alphabetischen Phase
1.2.3 Von der alphabetischen zur orthographischen Phase
1.2.4 Von der orthographischen zur integrativ-automatisierten Phase

2 Kritische Stellen im Lese- Schreiblernprozeß 10 nach N. Sommer-Stumpenhorst und R. Urbanek

3 Lese- und Schreiblehrgänge
3.1 Die Tobi-Fibel
3.1.1 Die Tobi-Fibel 1
3.1.2 Das Arbeitsheft
3.1.3 Der Druckschriftlehrgang
3.1.4 Die Tafelwortkarten
3.1.5 Materialien zur Differenzierung
3.1.6 Die Tobi-Fibel 2
3.2 Lesen durch Schreiben nach Jürgen Reichen
3.2.1 Kurzbeschreibung des Lehrgangs
3.2.2 Das lesedidaktische Prinzip
3.3 Lesenlernen mit Hand und Fuß
3.3.1 Didaktisch-methodische Grundsätze
3.3.2 Die Unterrichtseinheiten
4 Gezielte Fördermöglichkeiten bei diesen Lese- und Schreiblehrgängen
4.1 Förderungsmöglichkeiten mit der Tobi-Fibel
4.2 Förderungsmöglichkeiten bei ‘Lesen durch Schreiben’
4.3 Fördermöglichkeiten bei ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’
4.4 Fazit

5 Verwendete Literatur

Anhang

0 Einleitung

In der vorliegenden Hausarbeit möchte ich den Lese- und Schreiblernprozeß und seine kritischen Stellen betrachten, um dann anschließend drei verschiedene Leselehrgänge vor- zustellen und daraufhin zu betrachten, ob und wie sie auf diese kritischen Stellen eingehen. Als ein Modell des regelgerechten Verlaufs des Schriftspracherwerbs habe ich das Ent- wicklungsmodell nach Günther ausgewählt. Es stellt den Schriftspracherwerb in fünf eng miteinander verbundenen Phasen dar und beschreibt auch die möglichen Schwierigkeiten bei den Phasenübergängen. Um konkrete kritische Stellen im Schriftspracherwerb aufzu- zeigen und die Lese- und Schreiblehrgänge daraufhin zu untersuchen, stelle ich anschlie- ßend die Kritischen Stellen im Lese-Schreiblernprozeß nach Norbert Sommer- Stumpenhorst und Rüdiger Urbanek vor, die auf dem Modell von Günther aufbauen. Der darauf gerichteten Betrachtung der Lese- und Schreiblehrgänge ‘Tobi-Fibel’, ‘Lesen durch Schreiben’ und ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’ ist eine Beschreibung der einzelnen Lehr- gänge mit ihrer Konzeption und den Materialien vorangestellt. Die drei gewählten Lehr- gänge sind von ihrer Konzeption her recht unterschiedlich, um verschiedene Ansätze aufzuzeigen. Das Fazit bezieht sich schließlich darauf, den Einsatz bei sprachbehinderten Schülern zu erörtern.

1 Der ‘Normalverlauf’ des Schriftspracherwerbs und mögliche Störungen

Zur Entwicklung des Schriftspracherwerbs gibt es verschiedene Modelle, u.a. von Spitta, Dehn und Günther. Sie haben jeweils Stufenmodelle entwickelt, die große Ähnlichkeiten miteinander aufweisen, sich aber in Ausdifferenzierung und den Bezeichnungen der einzelnen Stufen unterscheiden. Die Modelle gehen davon aus, daß sich das Kind die Schriftsprache aktiv über Hypothesenbildung und -überprüfung erarbeitet1. Im folgenden gehe ich näher auf das Entwicklungsmodell nach K. B. Günther ein, um zum einen die ungestörte Entwicklung des Schriftspracherwerbs darzustellen und zum anderen auch mögliche Schwierigkeiten anhand des Modells aufzuzeigen.

1.1 Entwicklungsmodell des Schriftspracherwerbs nach Günther

Günther hat in den 80er Jahren ein entwicklungspsychologisches Stufenmodell zum Schriftspracherwerb entwickelt. Auffallend ist, daß er den Beginn des Schriftspracher- werbs schon sehr früh ansetzt. Der Schriftspracherwerb beginnt seiner Ansicht nach nicht erst mit der ersten konkreten Auseinandersetzung mit Buchstaben, wozu es bei manchen Kindern erst in der Schule kommt, sondern schon sehr früh mit Bildbetrachtungen, Ent- wicklung eines Symbolverständnisses und ersten Kritzeleien. Außerdem geht Günther da- von aus, daß das Erlernen von Lesen und Schreiben in engem Zusammenhang zueinander steht und sich laufend gegenseitig beeinflußt. Sowohl bei der Rezeption (Lesen) als auch bei der Produktion (Schreiben) sind in unterschiedlichen Phasen verschiedene Strategien erkennbar, die jeweils eine Zeitlang dominieren. Er hat fünf dieser qualitativ unterschiedli- chen, aufeinander aufbauenden Strategien erkannt und danach fünf Phasen benannt, die beim Prozeß des Lesen- bzw. Schreibenlernens jeweils noch mal in unterschiedliche, sich weiter ausdifferenzierende Stufen unterteilt sind. Sowohl der Prozeß des Lesenlernens als auch der des Schreibenlernens folgt diesen fünf Phasen, die aber bei den beiden Modalitä- ten unterschiedlich in jeweils zehn Stufen unterteilt sind. Dabei werden keine Alterszuwei- sungen gegeben, da jedes Kind abhängig vom individuellen Entwicklungsstand und seiner (Lern-) Umwelt in einem anderen Alter in die erste Phase des Schriftspracherwerbs eintritt und auch die Verweildauer in den Stufen und Phasen sehr individuell ist. Im allgemeinen kommt ein Kind etwa im 2. Lebensjahr in die erste Phase des Schriftspracherwerbs nach Günther und erreicht die letzte Phase gegen Ende der Grundschulzeit2.

Als Überblick soll die folgende schematische Darstellung des Stufenmodells dienen:

aus: Günther, 1989, S. 15; zi. n.: Sassenroth, M., 1998, S. 46

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.1.1 Die praeliteral-symbolische Phase

Wie schon gesagt, beginnt der Schriftspracherwerb nicht erst mit der konkreten Beschäfti- gung mit Buchstaben. Wenn etwa im zweiten Lebensjahr das Kind beginnt Bilder zu be- trachten kommt es zu einem ersten Abstraktionsprozeß. Es beschäftigt sich nicht mehr nur mit Gegenständlichem, sondern auch mit zweidimensionalen Repräsentationen von Rea- lem durch Bilder. Noch sind es anschauliche Ab-Bilder, keine abstrakten Symbole wie Buchstaben. Diese erste Abstraktionsfähigkeit im Bereich der Rezeption wird auch in Pro- duktionen des Kindes sichtbar. Im Spiel ist der kleine Stoffhund ein echter Hund, das Kind baut mit Bauklötzen und beginnt zu ‘malen’. Durch die noch ungeübte Feinmotorik sind diese Bilder noch unvollkommen. „Das kindliche Zeichnen ist eher symbolisch als realis- tisch zu sehen. Es kommt dem Kind nur auf einige Merkmale an, die es für wichtig hält.“3 Trotzdem ist es nicht nur in motorischer Hinsicht eine wichtige Vorbereitung auf das

Schreiben: „Wichtig ist, daß das Kind so tut, als ob es schreibt, ohne daß es sich hier um tatsächliches Schreiben mit kommunikativer oder gedächtnisstützender Funktion handelt. Das Kind orientiert sich noch lediglich an der Oberflächenstruktur der Tätigkeit des Schreibens.“4 Das ‘Geschriebene’ hat noch keine Ähnlichkeiten mit Buchstaben, aber im Laufe der Zeit zeigen sich wesentliche Merkmale unserer Schrift:

„- lineare Anordnung
- horizontale Schreibrichtung
- Schreibrichtung von links nach rechts § regelmäßige Wellenlinien
- Wiederholung und Variation von Grundformen
- Kriterien der einzelnen Schriftzeichen: offen / geschlossen, gerade / gekrümmt, verbunden / unverbunden“5.

1.1.2 Die logographemische Phase

Beim Übergang von der praeliteral-symbolischen Phase zur logographemischen Phase fin- det ein qualitativer Sprung statt, der vor allem durch die nun vollzogene Unterscheidung von „schriftsprachlichem Material“ und „anderen graphischen Formen“6 gekennzeichnet ist. Das Kind erkennt, daß Buchstaben und Sprache zusammenhängen. Jetzt dominiert die logographemische Strategie, eine rein visuelle Operationsweise. Bekannte Wörter, wie der eigene Name, Markennamen, Namen von häufig gesehen Bilderbuchfiguren usw., werden durch für das Kind hervorstechende, charakteristische optische Merkmale erkannt und ‘er- lesen’. Zu diesen Merkmalen können ein besonderer Schriftzug (z.B. Coca Cola), Farbge- bung (z.B. gelb auf grün bei BP), auffällige Buchstaben etc. zählen. Diese Strategie hat zwar noch viel mit raten zu tun, aber anfangs hat das Kind bei den noch wenigen Wörtern häufig Erfolg. Später, wenn die Zahl der bekannten Wörter zunimmt und auch Ähnlichkei- ten auftreten, kommt es dann zu häufigeren ‘Verlesungen’, die das Kind dazu bringen, sei- ne Strategie zu überdenken und weiterzuentwickeln. Der nächste qualitative Sprung wird angebahnt. Jedoch dauert die logographemische Phase recht lange an, und es sind beim Lesen drei verschiedene Stufen innerhalb dieser Phase festzustellen, in denen die Strategie weiter ausdifferenziert wird. Wann ein Kind beginnt, die logographemische Strategie zu verwenden, und wann es die nächste Phase erreicht, ist individuell sehr verschieden.

Die ersten Erfolge beim ‘Lesen’ ermutigen das Kind, auch über das frühere Malen und

Kritzeln hinaus zu schreiben, wobei jetzt buchstabenähnliche Formen verwendet werden. Oft wird als erstes mit dem eigenen Namen experimentiert. Dabei werden aber noch keine Laute abgehört, sondern das Kind notiert, was es beim ‘Lesen’ als optisch hervorstechendes Merkmal gespeichert hat, z.B. häufig der Anfangsbuchstabe. So kommt es, daß die ersten geschriebenen Wörter selten vollständig und korrekt notiert sind7.

1.1.3 Die alphabetische Phase

Da die logographemische Strategie beim Lesen erfolgreicher verwendet werden kann als beim Schreiben, vollzieht sich der nächste qualitative Sprung zur alphabetischen Phase auch zuerst beim Schreiben. Kern der alphabetischen Strategie beim Schreiben ist „die allmähliche Erfassung der Graphem-Phonem-Korrespondenzen (GPK). Jedes Wort wird nach der sequentiellen Reihung seiner Teilelemente lautsprachlich analysiert, und es er- folgt die Verschriftung in der Aneinanderreihung der Lautfolge.“8 Das Kind lautiert die Wörter, die es notieren will, es hört sie genau ab. So können nicht mehr nur bekannte Wör- ter geschrieben werden, sondern auch neue. Da im Deutschen keine 1:1-Zuordnung zwi- schen Phonem und Graphem besteht und das Kind sich zunächst nur daran orientiert, wie es ein Wort spricht und was es dabei für Laute hört, kommt es zwangsläufig, auch bedingt durch Dialekte etc., zu vielen ‘Fehlern’, die aber zu dieser Phase gehören und nicht sofort mit dem Rotstift korrigiert werden sollten. Im Laufe der alphabetischen Phase erkennt das Kind schon erste orthographische Muster und verwendet sie, wenn auch teilweise inkon- stant. Entsprechend kann es auch zu Übergeneralisierungen kommen. Außerdem bildet sich gegen Ende der Phase z.T. das Wortkonzept, d.h. Wörter werden nicht mehr aneinan- dergereiht, sondern zunehmend korrekt voneinander abgesetzt9.

Auch beim Lesen entwickelt das Kind eine alphabetische Strategie, obwohl sie „eher ein Schreibverfahren beinhaltet“10. Wörter werden nicht mehr an charakteristischen Merkma- len erkannt und ‘erraten’, sondern durch Analyse der Buchstaben und Synthese erlesen.

1.1.4 Die orthographische Phase

Der qualitative Sprung besteht in der zunehmenden Loslösung von der Lautsprache, so daß „von der ‘Verschriftlichung’ zum ‘Schreiben’ übergegangen werden muß, d.h., es muß die Transliteration als Verschriftlichungsstrategie … aufgegeben werden, zugunsten eines Schreibvorgangs, bei dem gedankliche Konzeptionen ‘direkt’, ohne den Weg über die

Lautsprache umgesetzt werden können“11. Die unsere Sprache bestimmenden morphologi- schen, syntaktischen und semantischen Beziehungen werden erkannt. Es entwickelt sich z.B. eine zunehmend korrekte Groß- und Kleinschreibung, die Verwendung von Deh- nungs- und Dopplungszeichen und eine ständig wachsende Zahl von sicheren Wörtern des Grundwortschatzes.

Die orthographische Strategie wird zuerst beim Lesen angewendet. Es werden nicht mehr alle Wörter jedesmal neu durch Synthese erlesen, sondern häufige Silben, Endungen, Buchstabenkombinationen etc. werden als Grundeinheiten erkannt und als Ganzheit gelesen. Später erfolgt dann auch die Anwendung beim Schreiben. „Während die logographemische Strategie eher ein Leseverfahren, die alphabetische eher ein Schreibverfahren beinhaltet, ist die orthographische Strategie ein integrierender Zusammenschluß der beiden erstgenannten Operationsweisen. [...] Eigentlich ist mit der orthographischen Phase der Schriftspracherwerb als solcher im wesentlichen abgeschlossen.“12

1.1.5 Die integrativ-automatisierte Phase

In dieser letzten Phase des Schriftspracherwerbs nach Günther verwendet das Kind keine neue Strategie mehr, sondern die orthographische Strategie wird weiterentwickelt und gefestigt. Auch die schwierigeren orthographischen Muster und Regeln der deutschen Sprache werden erkannt, eingeübt und gefestigt. Ziel dieses Prozesses ist die weitestgehende Automatisierung des Lesens und Schreibens.

Die Übergänge von Stufe zu Stufe bzw. von Phase zu Phase sind aber meist nicht so eindeutig, sondern fließend. Bei jedem qualitativen Sprung gibt es besondere Schwierigkeiten und es kann zu Störungen in der Schriftsprachentwicklung kommen13, auf die ich im folgenden näher eingehen werde.

1.2 Mögliche Schwierigkeiten bei den Phasenübergängen

1.2.1 Von der praeliteral-symbolischen zur logographemischen Phase

Wie schon erwähnt, gehört auch das Bildbetrachten und Konstruieren zur praeliteral- symbolischen Phase. Nach B. Zollinger können visuell-räumliche Wahrnehmungsstörun- gen die Entwicklung in dieser ersten Phase des Schriftspracherwerbs erschweren bzw. stö- ren. Sowohl Rezeption (z.B. Betrachten von Bilderbüchern) als auch Produktion (z.B.

Bauen einer Brücke) können bei solchen Wahrnehmungsstörungen beeinträchtigt sein. Auch in der Lautsprachentwicklung zeigen sich in diesem Zusammenhang häufig Störungen. Durch die Beeinträchtigungen der Rezeption und Produktion wird die Symbolbildung als Grundlage des Schriftspracherwerbs erschwert.

Günther geht davon aus, daß mangelndes Symbolbewußtsein und nicht Wahrnehmungsstörungen die Ursache für Probleme beim Übergang zur logographemischen Phase ist. Sassenroth merkt aber an, daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß auch die visuellräumlichen Wahrnehmungsstörungen und die daraus resultierende verzögerte und gestörte Symbolbildung ursächlich verantwortlich sind. Ob nun mangelndes Symbolbewußtsein oder durch Wahrnehmungsstörungen gestörte Symbolbildung, „unbestritten ist aber, daß es für die Umstellung auf die logographemische Strategie von entscheidender Wichtigkeit ist, daß das Kind den Symbolgehalt von literal organisierten Zeichen erkennt bzw. diese Zeichen als andere Modalitäten von Sprache begreift“14.

1.2.2 Von der logographemischen zur alphabetischen Phase

In der logographemischen Phase verfolgt das Kind eine rein visuelle Vorgehensweise, „in- dem es Buchstabenfolgen aus der Umwelt erinnert und mit Bedeutungen belegt“15. Diese Bedeutungen sind aber nur für das Kind selber zugänglich und lesbar. Sein Wunsch und Ziel ist es aber, daß alle seine ‘Mitteilungen’ lesen können, somit ist die Motivation für den Übergang zur nächsten Phase gegeben, in der genau das erreicht wird. Wichtig ist dabei die Entwicklung von „metasprachlichen oder metalinguistischen Kompetenzen“16. Das Kind muß lernen, sprachliche Ausdrucksmittel bewußt zu analysieren. Dazu zählen das Erken- nen der Phonem-Graphem-Zuordnung und die Segmentierung bzw. Sequenzierung. Be- sondere Schwierigkeiten kann die Phonemausgliederung bereiten, z.B. die Isolierung von An- oder Auslauten, „da sie [sprachentwicklungsgestörte Kinder] die Lautfolgen noch als Ganzheit wahrnehmen und noch keine analytische Haltung der Sprache gegenüber einge- nommen haben“17. Mögliche Gründe können eine Störung der auditiven Wahrnehmung sein, so daß das Kind bedeutungsrelevante lautliche Merkmale nicht unbewußt herausfil- tern kann, oder Probleme in der Abstraktionsleistung bei intakter auditiver Sprachwahr- nehmung.

Auch die Bildung des Wortkonzeptes bereitet vielen Kindern Schwierigkeiten. Verschie- dene Untersuchungen haben gezeigt, daß Kinder häufig die Eigenschaften eines Begriffes kennen, aber das zugehörige Wort unabhängig von der Bedeutung nicht beschreiben können, die Unterscheidung von Wörtern und Sätzen Probleme bereitet und der Zugang zur Sprache im allgemeinen noch sehr erfahrungsbezogen ist18. Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten bei der Entwicklung von metasprachlichen Kompetenzen können auch „oft ganz erhebliche motorische und koordinative Probleme beim Schreiben“19 auftreten.

1.2.3 Von der alphabetischen zur orthographischen Phase

Hier liegt der qualitative Sprung in der Loslösung von der Lautsprache. In Bezug auf die alphabetische Strategie sind Ratschläge wie ‘Schreibe, wie du sprichst!’ oder ‘Hör genau hin!’ richtig, aber sie können auf Dauer den Übergang zur orthographischen Strategie er- schweren, da viele Wörter mit der alphabetischen Strategie nicht korrekt verschriftet wer- den können. Deswegen sollten diese Ratschläge im Unterricht nur am Anfang der alphabetischen Phase gegeben werden und später mehr die Automatisierung von orthogra- phischen Fähigkeiten gefördert werden. Der Zeitpunkt dafür sollte für jedes Kind individu- ell entschieden werden.

Auch die metasprachlichen Kompetenzen entwickeln sich weiter, z.B. „das Erkennen von Doppeldeutigkeiten in Witzen, Werbesprüchen oder Wortspielen“20. Zeigen sich in der Entwicklung der metasprachlichen Kompetenzen Verzögerungen und Schwierigkeiten, ist auch meist der Schriftspracherwerb gestört. „Besondere Schwierigkeiten ergaben sich in den Bereichen der syntaktischen Doppeldeutigkeiten sowie bei dem Erkennen von Mor- phemgrenzen.“21

1.2.4 Von der orthographischen zur integrativ-automatisierten Phase

Hier findet kein weiterer Strategiewechsel statt, sondern Ziel ist die Festigung und Auto- matisierung der orthographischen Strategie, so daß sich die Konzentration des schreiben- den Kindes nicht mehr auf die Verschriftung, sondern den Inhalt des Textes richten kann. Bedeutsam ist, daß die orthographischen Regeln nach und nach aktiv erarbeitet und aus- probiert werden, so daß auch Fehler in ‘schon gekonnten Wörtern’ zwischenzeitlich auftre- ten können. Das Kind überprüft aktiv Hypothesen über Schreibweisen von Wörtern. Die Zeit, die ein Kind braucht, um ein sicherer (Recht-) Schreiber zu werden, ist abhängig von seinem Leistungsvermögen und seiner Lerngeschichte individuell verschieden. Das Aus- probieren ist wichtig in dieser Phase, und das Kind sollte die dazu von ihm benötigte Zeit bekommen, was eine gezielte Förderung nicht ausschließt22.

2 Kritische Stellen im Lese- und Schreiblernprozeß nach N. Sommer-Stumpenhorst

Das dargestellte Entwicklungsmodell des Schriftspracherwerbs nach Günther zeigt einen relativ detaillierten Ablauf des Schriftspracherwerbs und mögliche Schwierigkeiten bei den Phasenübergängen auf. Es ist jedoch nicht einfach festzustellen, auf welcher Stufe ein Kind gerade steht und wo seine Probleme liegen.

Norbert Sommer-Stumpenhorst und Rüdiger Urbanek haben für die Praxis ein Materialpa- ket ‘Lesen- und Schreibenlernen differenziert fördern’ entwickelt. Damit sollen Schüler, die Probleme beim Schriftspracherwerb haben, gezielt gefördert werden. Um leichter fest- zustellen, wo die individuellen Probleme liegen, haben sie den eigentlichen Materialien eine vereinfachte Übersicht vorangestellt, welche kritischen Stellen im Lese- und Schrei- blernprozeß auftauchen können23. Diese kritischen Stellen sind in groben Zügen vergleich- bar mit den schwierigen Phasenübergängen bei Günther. Natürlich verläuft dieser Prozeß nicht so gradlinig, aber für die Praxis stellt die Übersicht meiner Meinung nach eine gute Hilfe für die gezielte Förderung dar. Aus diesem Grunde möchte ich auch im letzten Ka- pitel drei Lese- und Schreiblehrgänge daraufhin untersuchen, ob und wie sie auf diese kri- tischen Stellen eingehen und gezielte Fördermaßnahmen anbieten.

Nach Sommer-Stumpenhorst / Urbanek sind zwei Fähigkeiten für das Lesen- und Schrei- benlernen von elementarer Wichtigkeit: das Kind muß Laute in Wörtern abhören können und es muß Zeichen unterscheiden können, also auditive und visuelle Diskriminierung. Um ein Wort auf seine Laute hin abzuhören, muß das Kind sich umorientieren, „von der Bedeutung (ganzheitliche Verarbeitung von Sprache) weg und hin zu den Lautbestandtei- len eines Wortes (Lautanalyse)“24. Bei der Unterscheidung von Zeichen „spielen kleine Unterschiede (d - b, q - p) eine große Rolle“25. Auch hier sind Details wichtig und die Bedeutungsebene muß verlassen werden. Die meisten Schüler haben aber mit der Lautana- lyse bedeutend mehr Schwierigkeiten als mit der visuellen Diskriminierung. Beide Fähig- keiten sind aber nötig, um Buchstaben zu kennen, d.h. sie den Lauten zuordnen zu können. Das ist die „zentrale Schaltstelle des Lese-Schreiblernprozesses“26. Diese Zuordnung fällt vielen Kindern schwer, da keine 1:1-Zuordnung vorliegt. Für das Schreiben ist die nötige

Fähigkeit, Buchstaben bewegungsrichtig schreiben zu können, eine weitere kritische Stelle. Damit der Schreiber sich auf den Inhalt dessen konzentrieren kann, was er schreiben will, muß die Schreibbewegung möglichst weitgehend automatisiert sein. Wichtig ist dabei eine richtige Schreibbewegung, die geübt werden muß. Zum Schluß müssen die Schüler lernen, Wörter und Sätze richtig zu schreiben, d.h. von der lautgetreuen Schrift hin zur orthogra- phisch richtigen Schreibweise. Dabei sollte zunächst ein Grundwortschatz über richtige Schreibvorbilder und Übung erarbeitet werden, von dem aus die Schüler sich die orthogra- phischen Regeln erschließen und einüben können. Beim Leselernprozeß taucht nach dem Kennen der Buchstaben eine für viele Kinder große Schwierigkeit auf, sie müssen den Buchstaben entnommene Laute zusammenziehen können. Diese Lautsynthese ist Voraus- setzung für sinnentnehmendes und flüssiges Lesen, was durch auswendig gelernte Wörter und Sätze nicht erreicht werden kann. Eben diese Sinnentnahme ist auch die letzte kritische Stelle im Leselernprozeß. Lesen und Verstehen sollten von Anfang an als eine Einheit vermittelt werden. Um sich aber auf den Sinn konzentrieren zu können, darf das eigentli- che Lesen den Kindern nicht zu große Schwierigkeiten bereiten.

Die erläuterten kritischen Stellen im Lese- und Schreiblernprozeß haben SommerStumpenhorst und Urbanek in einem Schema zusammengefaßt:

Kritische Stellen im Lese- und Schreiblernprozeß27

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3 Förderansätze / Lese- und Schreiblehrgänge

In den letzten Jahrzehnten sind viele Methoden und Ansätze für den Anfangsunterricht Sprache entwickelt, ausprobiert und z.T. auch wieder verworfen worden. Ging der Trend in den 70er Jahren noch in Richtung Ganzwortmethode, setzte sich in den 80er Jahren der analytisch-synthetische Ansatz weitgehend durch. Außerdem sollten auch die allgemein geforderte Handlungsorientierung und das ganzheitliche Lernen in den Lese- und Schreiblernprozeß integriert werden. Neben den klassischen Fibellehrgängen werden zu- nehmend v.a. von SonderschullehrerInnen eigene Lese- und Schreiblehrgänge entwickelt und benutzt, die individuell auf die immer heterogener werdenden Klassen und die dadurch bedingten besonderen Probleme zugeschnitten sind. Ende der 80er Jahre kam außerdem das von Jürgen Reichen entwickelte Konzept „Lesen durch Schreiben“ ins Gespräch, das heute immer häufiger in Grund- und z.T. in Sonderschulen angewendet wird.

Exemplarisch möchte ich drei verschiedene Lese- und Schreiblehrgänge zunächst kurz vorstellen und sie in einem abschließenden Kapitel hinsichtlich der kritischen Stellen im Schriftspracherwerb nach Sommer-Stumpenhorst / Urbanek näher betrachten. Für diesen Zweck habe ich ein neueres Fibelwerk, die Tobi-Fibel, den für die Sprachheilschule entwi- ckelten mehrdimensionalen Leselehrgang „Lesenlernen mit Hand und Fuß“ und den oben schon erwähnten Ansatz „Lesen durch Schreiben“ von Jürgen Reichen ausgewählt.

3.1 Die Tobi-Fibel

Die Tobi-Fibel und die dazugehörigen Materialien wurden 1992 erstmals vom Cornelsen Verlag herausgebracht. Kern dieses analytisch-synthetischen Lese- und Schreiblehrgangs ist die Tobi-Fibel. Der Name kommt von den Hauptfiguren der fortlaufenden Geschichte, der Koboldfamilie Tobi. Ergänzend gibt es zur Fibel ein Arbeitsheft, das hauptsächlich dem Erlernen des Lesens dient und einen Druckschriftlehrgang. Außerdem wird eine Reihe von zusätzlichen, v.a. der Binnendifferenzierung dienenden Materialien wie Tafelwortkar- ten, Merkkärtchen für ein ABC-Anlautheft, Lese-Dominos, Lese-Mal-Blätter, Protokoll- blätter, Anlauttabelle, Arbeitsblätter zur Identifizierung der Stellung von Lauten im Wort und vier Lesehefte angeboten. Um den Übergang vom Lese-Lehrgang zu ‘normalen’ Lese- büchern für Anfänger einfacher zu gestalten, gibt es auch eine Tobi-Fibel 2, die Lesetexte zum weiterführenden Lesen bietet.

Im folgenden werde ich die Tobi-Fibel und die Materialien kurz vorstellen und ihre Anwendung und Zielsetzung beschreiben.

3.1.1 Die Tobi-Fibel 1

Dieses Kinderbuch zum Lesenlernen erzählt eine „fortlaufende Geschichte 28 von einer Ko- boldfamilie im Wald“29. Dabei bleibt der lesetechnische Aspekt im Hintergrund, denn die Erarbeitung der Buchstaben und Analyse- und Syntheseübungen werden im Arbeitsheft und den anderen Materialien angeboten.. Es wird auf ganzheitliche Elemente verzichtet, der Text besteht nur aus Buchstaben, die schon eingeführt wurden. Die Geschichte soll hauptsächlich motivieren. Die Tobi-Figuren, die Kinder Ela und Alo, Papa, Mama, Oma, Opa, der Hund Ole und der Rabe Leo dienen dabei als Identifikationsfiguren. Die er- wünschte emotionale Zuwendung wird dadurch verstärkt, daß die Phantasiewesen mit sehr menschlichen Zügen in fast allen Materialien auftauchen und so eine richtige Tobi-Welt entsteht. Die Fibel ist reich bebildert, so daß auch schwächere Leser motiviert werden, sich mit dem Buch intensiv auseinanderzusetzen, und beim sinnerfassenden Lesen durch die Bilder Hilfen gegeben sind. „Die Bilder stellen nämlich nicht bloße Illustrationen zu den Texten dar, sondern sind für sich eine zu entdeckende, interessante Welt.“30

Der Inhalt ist so gestaltet, daß sowohl „reale Umweltbezüge (Familienleben, Lebensraum Wald ...)“ als auch „phantastische Erzählelemente“31 Raum haben. Wichtige Elemente sind soziale Beziehungen (Familienleben der Tobis), Rollenverständnis (Infragestellung traditi- oneller Rollenmuster), Generationen (Kinder, Eltern, Großeltern), elementare Erfahrungen der Kinder (Angst beim Gewitter, Allein-Sein, Beziehung zu Tieren), Jahreszeitenteil (12 gesonderte Monatsblätter ohne Text, die weitere Umwelterfahrungen aufgreifen) und Lese- spaß (Grafik mit vielen Einzelheiten, kleine Marotten der Figuren, Slapstick-Einlagen).

3.1.2 Das Arbeitsheft

„Lesen bedeutet die Einsicht in den Sprache-Schrift-Zusammenhang und die Fähigkeit zu 32 einem vollständigen Analyse-Synthese-Prozeß bei gleichzeitiger Sinnerfassung.“33 Das Arbeitsheft bietet eine direkte Hinführung zum Prinzip der Buchstabenschrift. Die dazu benötigten Fähigkeiten und Fertigkeiten sollten aber nicht isoliert geübt werden, sondern v.a. auch im Zusammenhang mit sinnerfassendem Lesen integrierend bearbeitet werden. Leseanfängern muß neben dem inhaltlichen v.a. der lautliche Aspekt der Sprache nahege- bracht werden. Die Buchstaben werden immer in einem vollständigen Analyse-Synthese- Prozeß eingeführt, anschließend kommen entsprechende Laut-Analyse-Übungen hinzu,immer in Verknüpfung mit dem optischen Zeichen, dem Buchstaben. Das erleichtert die Laut-Buchstaben-Kopplung. Außerdem ist die Sinnentnahme „ein stets geforderter Anteil aller Leseübungen vom ersten Wort an“34. Viele Leseübungen im Arbeitsheft sind mit ei- ner Handlungsaufforderung verknüpft (z.B. Malen, Schreiben, Kleben), so daß Motivation geweckt, die Mitteilungsfunktion der Schriftsprache betont und die Kontrolle der Sinnent- nahme erleichtert wird.

Ein weiteres Merkmal des Arbeitsheftes ist die große Textvielfalt (z.B. Reime, Lieder, Rezepte, Gedichte, Comic, Briefe etc.). Auch hier sind die Tobis zentraler Gegenstand, zur Vertiefung der emotionalen Beziehung mit starker Identifikation.

Insgesamt ist die möglichst selbständige Bearbeitung der Übungen durch die Schüler das Ziel. Dies wird durch die häufige Möglichkeit zur Selbstkontrolle bzw. einfache Fremdkontrolle durch Handlungsorientiertheit, wiederkehrende Arbeitsformen und die Möglichkeit des selbständigen Weiterlernens und -lesens mit Hilfe der Buchstabentabelle, wenn das Leseprinzip erfaßt ist, erreicht. So kann der Unterricht individualisiert werden und die Binnendifferenzierung wird erleichtert.

Als zusätzliches Arbeitsmaterial liegen dem Arbeitsheft Buchstabenkärtchen bei, die eine sehr einfache Möglichkeit der Verschriftung sind, und Klebebilder für motorisch schwächere Schüler, die beim Schneiden und Kleben noch Probleme haben.

3.1.3 Der Druckschriftlehrgang

Wie schon Günther in seinem Modell zum Schriftspracherwerb betont hat, laufen der Lese- und Schreiblernprozeß gleichzeitig ab und beeinflussen einander gegenseitig. Deshalb wird auch hier parallel zum Leselehrgang im Arbeitsheft der Druckschriftlehrgang benutzt35. Die Druckschrift wird der verbundenen Schrift als Erstschrift vorgezogen, da so „die Konzent- ration nicht auf zwei unterschiedlichen Buchstabenformen“36 (Druckschrift beim Lesen und Schreibschrift beim Schreiben) verteilt werden muß und die schreibmotorischen An- forderungen geringer sind37.

Der Druckschriftlehrgang soll zum einen dem Wunsch der Kinder, schreiben zu lernen und sich so mitzuteilen, nachkommen und zum anderen Schreibgeläufigkeit und korrekte Schreibabläufe trainieren. Es werden nur eingeführte Buchstaben und entsprechende Wör- ter geschrieben. Ziel ist es, von der Großform zum Schreiben in der üblichen Heftlineatur des 1. Schuljahres und vom Nachspuren über das Abschreiben zum freien Aufschreiben zu kommen. Jede Schreibaufgabe ist, vom immer am Anfang der Seite stehenden Nachspuren bzw. Abschreiben des neuen Buchstabens abgesehen, „zugleich Leseaufgabe und setzt einen vollständigen Leseprozeß voraus“38.

3.1.4 Die Tafelwortkarten

In der ersten Phase der gezielten Hinführung zur Buchstabenschrift können für die Analy- se-Synthese-Übungen Tafelwort- bzw. Buchstabenkarten verwendet werden39. „Ein Satz enthält alle Tobi-Namen und die, entsprechend der Buchstabeneinführung der Fibel, fol- genden Buchstaben (je einen Groß- und zwei Kleinbuchstaben).40 Die ersten Buchstaben werden in folgender Reihenfolge eingeführt: L + E + O (durch die Durchstrukturierung von ‘Leo’ und ‘Ole’), A (Ela, Alo), M + P (Oma, Opa, Mama, Papa), N, I, T, S, W, R, Ei, D, H und F.

3.1.5 Materialien zur Differenzierung

Neben der Tobi-Fibel, dem Arbeitsheft und dem Druckschriftlehrgang gibt es einige Ü- bungsangebote und Materialien, die hauptsächlich der Binnendifferenzierung dienen. Sie sind so konzipiert, daß sie den Lese- und Schreiblehrgang begleiten, vertiefen und möglichst selbständig, z.B. im Rahmen der Freiarbeit, bearbeitet werden können41. è Merkkärtchen für ein ABC-Anlautheft (Anhang 1)

- Zuordnung von Anlautbildern zu den Buchstaben
- jeweils drei Anlautbilder und der Groß- und Kleinbuchstabe è Lese-Dominos (36 verschiedene)
- „Jeder neu eingeführte Buchstabe wird mit mindestens einem Dominospiel, das 12 Wörter enthält, geübt. Die Buchstaben werden nicht isoliert, sondern in ihrer Funktion in Wörtern trainiert.
- Unterstützung schwächerer Leser durch gesteuerte Sinnerwartung
- Möglichkeit der Selbstkontrolle“42 è Analyse-Synthese-Kärtchen (28 Kartensätze) (Anhang 2)
- das abgebildete Wort wird auf seine Laute hin abgehört und aufgeschrieben
- die ungeordneten Buchstaben dienen als Gliederungshilfe
- „Vollständige Durchstrukturierung jedes Wortes
- Verbindung von Lesen und Schreiben“43 · Selbstkontrolle è Lese-Mal-Blätter (Anhang 3)
- Buchstabeneinführung parallel zum Leselehrgang · Identifizierung mit den Tobis
- gesteuerte Sinnerwartung durch Bilder
- phonemisierendes Erlesen, automatisches Erfassen bekannter Wörter und Sinnentnahme werden gefordert und geübt
- „Jeder Lesevorgang ist handlungsorientiert.
- Vielfältige Aufgaben, deren Inhalt zusätzlich motiviert.“44 è Protokollblätter (Leseausweis) (Anhang 4)
- „Die Arbeitsabläufe im differenzierten Unterricht werden gegliedert.
- Die Protokollblätter sind Arbeitsplan und Arbeitsprotokoll in einem. Die Übersicht im differenzierten Unterricht bleibt gewahrt.
- Die Anpassung an die Bedürfnisse jeder Klasse oder jedes einzelnen Kindes ist möglich.“45 è Anlauttabelle (Buchstabenposter)
- ermöglicht selbständiges Weiterlernen nach dem Erfassen des Lese-Prinzips
- Buchstaben sind zusammen mit ein oder zwei Anlautbildern abgebildet Æ Klangmöglichkeiten des Buchstabens è Arbeitsblätter zur Identifizierung der Stellung von Lauten im Wort für die Anfangsphase
- „schwierige, aber sehr effektive Laut-Analyse-Übung“46
- im Arbeitsheft ab dem Buchstaben T / t (Anhang 5), die Kopiervorlagen können aber vorher eingesetzt werden è Lesehefte
- vier Lesehefte, abgestimmt auf das Niveau der Anfänger
- Hauptrolle spielen wieder die Tobis
- Handlungsorientierung bei drei Heften
- „Lesefutter“47

3.1.6 Tobi-Fibel 2

Die Tobi-Fibel 2 bietet schnelleren Lesern oder der ganzen Klasse nach Abschluß des Le- selehrgangs Lesetexte, die wieder in der Tobi-Welt spielen und den Fähigkeiten der Lese- anfänger angepaßt sind48. So „ermöglicht die Arbeit mit der Tobi-Fibel 2 einen behutsamen Übergang zum Lesebuch des zweiten Schuljahrs“49, für das die Lesebücher ‘Leseschatz’ empfohlen werden.

Nach Abschluß des Leselehrgangs kommt es jetzt darauf an, von der alphabetischen Lese- strategie langsam zur orthographischen überzugehen, d.h. „neue Wörter mit Hilfe des akti- ven Wortschatzes erlesen, den Kontext-Vorteil nutzen, längere Wörter in Silben gliedernd erlesen, Morpheme blitzschnell erkennen, grammatische Regelmäßigkeiten als Hilfe bei der Sinnerschließung einbeziehen, Wörter des ‘Sichtwortschatzes’ als Inseln des Könnens nutzen, die Kenntnis häufiger Buchstabenkombinationen einbringen u.a.m.“50. Diesen Sprung können die Kinder nur machen, wenn sie viel lesen und sie werden nur dann viel lesen, wenn ihnen lesen Spaß macht. Die Tobi-Fibel 2 will das u.a. erreichen durch

- Lesehilfen (große Schrift, größerer Zeilenabstand)
- sprachliche Gestaltung (ansprechender Inhalt aus dem Lebens- und Erfahrungsbereich der Kinder, ansteigender, gekennzeichneter Schwierigkeitsgrad)
- Anregungen zur Aktivität der Kinder (z.B. ‘Forschungsaufträge’ für fremdsprachige Wörter ausführen, Überschriften ausdenken etc.)
- Ganzheitlichkeit (Aufgreifen von verschiedenen Sachunterrichtsthemen)
- Textsortenvielfalt (z.B. Rollentexte, Witze, Fremdsprachen etc.)
- Lesespiele (erhöhen die Nutzungsfrequenz)
- Differenzierung (leichtere und schwierigere Seite eines Aufschlags, verschiedene Lesemöglichkeiten innerhalb eines Textes)
- sinnerfassendes Lesen (z.B. soll Auftrag gelesen und ausgeführt werden, Schrift und Bild einander zuordnen)
- vielfältige Aufgaben zu den Texten.

3.2 ‘Lesen durch Schreiben’

Ein ganz anderes Konzept als ein Fibelwerk verfolgt der Lehrgang ‘Lesen durch Schrei- ben’ , der Anfang der 70er Jahre von Jürgen Reichen entwickelt wurde. Anfangs v.a. in der Schweiz eingesetzt wurde er in den 80er Jahren auch in Deutschland bekannter und wird heute größtenteils in Grundschulen, teilweise aber auch in Sonderschulen eingesetzt. Der Lehrgang geht davon aus, daß bei Schulbeginn fast jedes Kind neugierig ist und lernen will. Um diese Neugierde und den Lernwillen zu erhalten und zu fördern, soll Unterricht der Individualisierung des Lernens, der Gemeinschaftsbildung und dem gesamtunterrichtlichen Lernangebot dienen. Deshalb stützt sich Reichen auf drei Prinzipien51: Lesedidaktisches Prinzip: Lesen durch Schreiben

Das Kind lernt das Lesen durch das Schreiben. Zunächst wird nur Sprache ‘verschriftet’, das Kind schreibt nur, die Lesekompetenz „entsteht gleichsam als «automatisches Begleitprodukt» des Schreibenlernens“52. Um ein Wort phonetisch vollständig zu verschriften, was nicht immer auch den orthographischen Regeln entspricht, die zunächst auch nicht gelehrt werden, muß das Kind das Wort auflautieren können. Dieses Auflautieren, also die Lautstruktur der Sprache erkennen, ist Mittelpunkt des Lehrgangs.

Lernpsychologisches Prinzip: Selbstgesteuertes Lernen Statt des oft üblichen Nachahmungslernens ermöglicht der Lehrgang „selbstgesteuertes Lernen durch Selbstentdeckung mit funktional-begleitender Mitübung“53. Das heißt, daß große Teile des Lehrgangs vom Schüler individuell benutzt werden, er sein Lernen selber steuert, und zusätzlich auch einzelne Teile des Lehrgangs gemeinsam mit der Klasse und unter Anleitung des Lehrers bearbeitet werden.

Schulpädagogisches Prinzip: Werkstattunterricht Werkstattunterricht ermöglicht individualisiertes und fächerübergreifendes Arbeiten, in- dem verschiedene obligatorische und freiwillige Lernangebote dem Schüler zur Auswahl angeboten werden. Wer wann welches Angebot bearbeitet, entscheiden die Schüler selbst.

3.2.1 Kurzbeschreibung des Lehrgangs

„Das wesentliche Lernziel ist die Fähigkeit des Schüler, ein beliebiges Wort in seine Laut- abfolge zu zerlegen 54 und danach phonetisch vollständig aufzuschreiben.“55 Dazu muß der Schüler Einsicht in das Prinzip unserer Lautschrift gewinnen und zur Lautstruktur der Sprache hingeführt werden. Laute müssen erkannt, unterschieden und zerlegt werden kön- nen. Als Hilfsmittel steht dem Schüler von Anfang an eine Buchstabentabelle (Anhang 6) zur Verfügung, die jedem Buchstaben (einschließlich der Laute Sch, Eu, Au, Pf, Ch und den Umlauten Ä, Öund Ü) mit Hilfe eines oder zweier Bilder (beim ‘O’ z.B. Ofen für das lange und geschlossene ‘o’, Ordner für das kurze und offene ‘o’) seinen Lautgehalt zuordnet. So kann durch den zur Verfügung stehenden gesamten Laut- und Buchstabenbestand jedes Wort selbständig auflautiert und mit Hilfe der Tabelle phonetisch vollständig aufgeschrieben werden. Der Lehrgang nennt sich ‘Lesen durch Schreiben’ , aber eigentlich ist er nur ein Schreiblehrgang. Kein Kind wird zum Lesen gezwungen, und es gibt auch keine gesonderten Leseübungen. Die Lesekompetenz entwickelt sich automatisch durch das Schreiben, bei dem einen Kind früher, bei dem anderen später. Der Lehrgang bietet lediglich viele Leseanreize, um die Lesemotivation zu steigern.

Wichtig ist, daß „der sprachlichen Eigeninitiative des Schüler größtmöglicher Spielraum gewährt“56 wird. Der Schüler soll das Schreiben mit Hilfe der Buchstabentabelle weitge- hend selbständig erlernen. Begleitend wirkt der Lehrgang dabei durch verschiedene Unter- stützungsmaßnahmen (Lernangebote zu den Bereichen Anweisungsverständnis, kognitive Orientierung, Sprache, Denken und Wahrnehmung), die thematische Einbettung in Schreibanlässe und einen kind-orientierten Unterrichtsstil des Lehrers. Das strukturierte Materialangebot besteht aus „Arbeitsblättern, Leseheften, Spielen und SABEFIX- Programmen für Klassen-, Gruppen-, Partner- und Einzelarbeit mit den Schwerpunkten: Wahrnehmungs- und Konzentrationsübungen, Anregungen zum Schreiben, Begriffsbil- dung und Wortschatz, Denkerziehung sowie «Brücken zur Mathematik»“57. Das Material stellt ein Angebot dar und sollte nicht in einer bestimmten zeitlichen Reihenfolge bearbei- tet werden. Die Schüler sollen auswählen, eventuell trifft der Lehrer eine didaktisch nötige ‘Vorauswahl’. Ein Unterteilung in Basismaterial und vier begleitende Rahmenthemen (In der Schule, Auf der Straße und zu Hause, Schulausflug, Unser Klassenfest / Katja hat Ge- burtstag) gliedert das Material inhaltlich. Zum Basismaterial zählen die Arbeitsblätter, di- daktische Spiele und SABEFIX-Lern- und Übungsprogramme. Alles eignet sich für feie Schülerarbeit im Rahmen eines offenen Werkstsatt-Unterrichts. Gesamtunterrichtlich aus- gearbeitete Unterrichtsvorschläge sind dagegen die Rahmenthemen. Die dazugehörenden Lern- und Übungsangebote sind chronologisch angeordnet und bilden eine inhaltliche Ein- heit. „Sie orientieren sich curricular am sogenannten «situativen Ansatz», d.h. sie haben Schul- und Alltagssituationen des Schüler zum Thema, bieten Möglichkeiten zu sozialem Lernen und schaffen Erlebnisfelder, in denen zum Ausgleich der individuellen freien Lern- situation die ganze Klasse an einem gemeinsamen Thema arbeitet.“58 Einige „kleine Lese-büchlein bescheidenster drucktechnischer Ausstattung“59 führen in die Rahmenthemen ein, bieten Leseanreize und regen zu ergänzenden Eigenproduktionen an.

3.2.2 Das lesedidaktische Prinzip

Reichen geht davon aus, daß Lesenlernen ein „selbstgesteuerter 60 kognitiver Prozeß“61 ist, der didaktisch nicht kontrolliert werden, sondern nur durch indirekte Hilfen unterstützt werden kann. Das Lesen kann nur durch das Schreiben, durch Umsetzen gesprochener Sprache in ein graphisches Zeichensystem ‘gelehrt’ werden. Um aber in diesem Sinne schreiben zu lernen, muß der Schüler ein beliebiges Wort in seine Lautkette zerlegen und danach phonetisch vollständig aufschreiben. Das entspricht in etwa der alphabetischen Phase im Entwicklungsmodell des Schriftspracherwerbs nach Günther. Die Lautererken- nung, Lautunterscheidung und Lautzerlegung ist dafür Voraussetzung, stellt aber für viele Schüler eine große Schwierigkeit dar. Sie müssen durch differenzierte unterrichtliche Lau- tierunghilfen des Lehrgangs gefördert werden. Die zweite Voraussetzung für das Schreiben ist die Beherrschung der Zeichenstruktur der Schrift, die sich die Schüler mit Hilfe der Buchstabentabelle (Anhang 6), die die Buchstaben in großer und kleiner Druckschrift vor- gibt, selber erarbeiten. Die Tabelle kann solange benutzt werden, wie es der Schüler für sich nötig hält. Bei Schwierigkeiten gibt es indirekt unterstützende Lernangebote zur opti- schen Wahrnehmungsschulung. Der Prozeß des Schreibenlernens gliedert sich also in fol- gende Phasen:

1. Erkennen des Prinzips des Schreibens und Lesens mit der Einführung der Buchstabentabelle
2. Entwicklung grundlegender Lautkenntnisse (Lauterkennung, -unterscheidung und Heraushören von Lauten aus Wörtern) und Schreiben / Malen der entsprechenden Buchstaben (mit der Tabelle)
3. Phonetisch korrektes Aufschreiben eines beliebigen Wortes mit Hilfe der Tabelle (Voraussetzung: ein Wort in seine Einzellaute zerlegen können)
4. Phonetisch korrektes Aufschreiben ganzer Sätze und Texte und Entwicklung des Wortkonzeptes (Lücken zwischen den Wörtern)
5. Verinnerlichung und Beherrschung der gesamten Laut-Buchstaben-Zuordnung (Weglassen der Tabelle).

Wie aber der Leselernprozeß abläuft, ist nach Reichen noch unbekannt. Nach seinen Erfah- rungen „stellt sich beim Großteil der Schüler die Fähigkeit zum eigentlichen Lesen nach einem halben Jahr des «Schreiben»-Lernen «automatisch» ein“62. „Wahrscheinlich wird das Lesen des Schülers durch Präfigurationsprozesse (ohne direktes Zutun des Lehrers) ermöglicht, welche insbesondere zu einer funktionalen Integration bereits vorhandener kognitiver, wahrnehmungsmäßiger und sprachlicher Fähigkeiten auf höherer Stufe füh- ren.“63 Während des Schreibens kommt es oft zu einer ‘Vorform’ des Lesens, wenn der Schüler ein Wort auflautiert, die ersten Laute aufschreibt und dann kurz unterbrochen wird. Um fortzufahren, muß er sich vergegenwärtigen, was er bereits geschrieben hat und welche Laute noch fehlen. Es wird so zwar dem Geschriebenen kein Sinn entnommen, aber der Sinn wird überprüft, „gerade dies bereitet möglicherweise dem späteren Lesen den Boden vor“64. „Der geschilderte Prozeß bewirkt wahrscheinlich, daß sich parallel zum Schreiben- lernen ein «latentes» Lesenlernen entwickelt, das dann in einem Einklinkprozeß (vgl. auch S. 41) von der Latenz ins manifeste Lesen kippt.“65 Das Lesen ergibt sich also ‘automa- tisch’, es sind keinerlei Übungen zum ‘Zusammenschleifen’ nötig, die Reichen für über- flüssig hält, da der Prozeß des Lesenlernens nicht über die Synthese geht, sondern die Kinder plötzlich lesen können. Zum Schreiben gehört aber auch die Orthographie. Beim anfänglichen Verschriften kommt es aufgrund der fehlenden 1:1-Zuordnung von Lauten und Buchstaben unweigerlich zu ‘Fehlern’, die aber für den Schreiblernprozeß wichtig und unerläßlich sind. Reichen fordert in diesem Zusammenhang, „zurückhaltend zu korrigieren und überlegt zu üben“66. Genauere Erläuterungen dazu finden sich im Kapitel 4.2.

3.3 Lesenlernen mit Hand und Fuß

Ende der 80er Jahre wurde von Ulrike Marx und Gabriele Steffen aus der Praxis in der Sprachheilschule heraus der mehrdimensionale Leselehrgang ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’ entwickelt. Kern des Lehrgangs ist das handlungsorientierte Stationsverfahren, mit dem jeder Laut eingeführt wird. Der Lehrgang kann entweder allein benutzt werden oder parallel zu einem anderen Lehrgang, der mit dem Stationsverfahren bei der Lauteinführung unterstützt wird. Insgesamt ist im Lehrerhandbuch zwar sehr detailliert vorgegeben, wie die Materialien zu nutzen sind, aber die Handhabung kann auch durchaus sehr variabel gestaltet werden, es kann eine Auswahl getroffen, Erweiterungen vorgenommen oder differenziert werden.

3.3.1 Didaktisch-methodische Grundsätze Rahmenthema

Jede Unterrichtseinheit (Erarbeitung, Übung und Anwendung eines Phonems / Graphems) ist in ein Rahmenthema aus dem Phantasie- und Erlebnisbereich der Kinder eingebunden, so daß das Unterrichtsgeschehen als eine fortlaufende Geschichte erlebt wird. Außerdem werden Verbindungen zum Lehrplan Sachunterricht hergestellt67.

Mehrdimensionales Handeln

Der Handlungsaspekt, speziell die Kombination von praktischem Handeln und symboli- schem Handeln, steht im Mittelpunkt. Verbale Interaktionen werden ständig herausgefor- dert, so daß Unterricht und Therapie miteinander verbunden sind (therapieimmanenter Unterricht). Nach Frederick Fester lernt jedes Kind anders, hat jedes Kind sein individuel- les Lernmuster. Dem kommt das Stationsverfahren entgegen, in dem die Bereiche Wahr- nehmung, Sprache, Motorik, Kognition, Emotion und Soziabilität, also die Gesamtpersönlichkeit des Kindes angesprochen werden. Die intensive Speicherung des Lerngegenstandes wird dabei durch die verschiedenen Eingangskanäle gefördert.

Individueller Lernweg

Die Erarbeitung der Phoneme / Grapheme folgt einer gleichbleibenden Grundstruktur, so daß nach einer Einführung die vielfältigen Aufgabenstellungen weitgehend selbständig bearbeitet werden können. Die Stationen und Aufgabenstellungen sind mit Symbolen ge- kennzeichnet, so daß die Schüler ihren individuellen Lernweg selber organisieren können und verbale Anweisungen des Lehrers / der Lehrerin reduziert werden. Die Reihenfolge der Übungen, die Intensität und das Arbeitstempo bestimmt jeder Schüler bzw. jede Klein- gruppe selber. Der Lehrer / die Lehrerin kann individuelle Hilfestellungen leisten.

Lernstufen

Der sprachliche und sachlich-fachliche Anspruch des Lehrgangs steigt sowohl vom Umfang als auch Anspruch der Aufgaben her in 3 Lernstufen an. Dabei geht es vom Einfachen zum Schwierigen und vom Maximal- zum Minimalkontrast.

Methodenintegration

„Dem Leselehrgang ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’ liegt ein methodenintegrierendes Verfahren zugrunde. Die Phoneme / Grapheme werden vor dem Hintergrund eines analytisch-synthetischen Leselernverfahrens eingeführt.“68 Der Schwerpunkt liegt aber im syn- thetischen Bereich, da das synthetische Verfahren v.a. für Kinder mit auditiven Teilleis- tungsschwächen, wie sie bei sprachbehinderten Kindern häufig auftreten, besser geeignet ist. Zunächst wird eine Ganzheit akustisch dargeboten, in der das jeweilige Phonem ge- häuft vorkommt. Dann wird das einzuführende Phonem analysiert und akustische und opti- sche Ganzwortangebote dienen der Analyse des Graphems. Die Synthese schließt sich dann sofort an, da das Ganzwortangebot immer aus dem neu eingeführten Phonem / Gra- phem und bereits erlernten Phonemen / Graphemen zusammengesetzt ist.

Synthese

Die der Synthese dienenden Aufgaben folgen den vier von Topsch aufgestellten grundlegenden Prinzipien:

1. Syntheseübungen möglichst innerhalb eines Sinnrahmens
2. Synthese auf jeder Stufe des Lehrgangs
3. innerhalb des jeweiligen Sinnrahmens Wortvorgestalten («o - m - a») anbieten, um das Schließen auf die Wortendgestalt («Oma») zu fördern
4. „Auswahl der Syntheseaufgaben und Synthesewörter nur teilweise nach der

Lokalisationsmethode“69 (Konsonant - Vokal), sondern „möglichst viele zweisilbige lautgetreue und einfach strukturierte Wörter [...], bei denen auf einen langen Anfangsvokal ein Konsonant folgt“70

Außerdem unterstützen Abbildungen bei Syntheseaufgaben den Sinnbezug und das Angebot von Ganzwörtern dient als Vorbereitung zur Rechtschreibung.

Laut - Buchstabenreihenfolge

Die Reihenfolge der einzuführenden Phoneme / Grapheme ist so ausgewählt, daß der Syn- thesevorgang „auch z.B. Kindern mit Artikulationsstörungen schon zu Beginn des Lehr- gangs“71 erleichtert bzw. ermöglicht wird. Dazu gehört, daß unter den ersten zehn Phonemen / Graphemen die von fast jedem Kind zu artikulierenden Vokale sind und daß die Auswahl der Konsonanten die Reihenfolge der Ausbildung der Laute in der Sprach- entwicklung berücksichtigt (zunächst Dauerlaute § l § und § m §, dann die Plosive § t § und

- p § zur Stimulation der Artikulationsorgane und Dynamisierung der Sprache der Kinder).

Außerdem werden die häufig fehlgebildeten Laute § s §, § z §, § zweiten Hälfte des Lehrgangs eingeführt.

Lautgebärden

Der Lehrgang sieht den Einsatz eines Lautgebärdensystems vor, um mit dieser motorischen Hilfestellung die Artikulation und die Analyse und Synthese von Wörtern zu unterstützen. Es wird für jedes Phonem eine Gebärde vorgeschlagen (als Material gibt es jeweils eine große Karte, die ein Photo der Gebärde zeigt), aber es kann auch ein anderes System ver- wendet werden.

Gemischtantiqua

Groß- und Kleinbuchstaben werden parallel eingeführt. Es gibt verschiedene Sätze des Lehrgangs, je nach dem ob mit Druckschrift, vereinfachter Ausgangsschrift oder lateinischer Ausgangsschrift gearbeitet werden soll. „Der Lehrgang intendiert von Anfang an, daß die Kinder eigenständig Schrift im Sinne von Schriftsprache produzieren, z.B. mit Hilfe von Buchstabenstempeln. Dies geschieht in dialogischen Szenen. Die Einsicht in die kommunikative Funktion von Sprache und Schrift wird damit erleichtert.“72

Kontrolle

Es werden verschiedene Formen der Selbstkontrolle und Partnerkontrolle eingesetzt. Der Lehrer / die Lehrerin kontrolliert hauptsächlich über die Analyse von Arbeitsergebnissen.

3.3.2 Die Unterrichtseinheiten

Insgesamt führen 31 Unterrichtseinheiten die Phoneme / Grapheme ein73. Jede Einheit benötigt ca. 3-4 Unterrichtsstunden und ist in drei Phasen gegliedert:

„1. Einstieg in die Rahmenhandlung und Erarbeitung des Lerngegenstandes
2. Mehrdimensionales Lernen und selbständiges Üben an den Stationen
3. Anwendung des erarbeiteten Lerngegenstandes“74.

In der ersten Phase lernen die Schüler das Rahmenthema kennen und werden emotional eingestimmt. Das einzuführende Phonem / Graphem wird handelnd erschlossen und die Phonem - Graphemkorrespondenz erkannt. In der Phase werden auch die entsprechenden Lautgebärden eingeführt, möglichst viele Wörter mit dem Phonem gesucht (phonematische Differenzierung) und das Ganzwortangebot gegeben (Analyse und Synthese). Am Ende folgt eine vorstrukturierte Überleitung zur Stationsarbeit mit Paar- oder Kleingruppenbildung und Austeilen der Arbeitspläne.

In der zweiten Phase erschließen sich die Kinder das jeweilige Phonem / Graphem ganz- heitlich an den mit Symbolen gekennzeichneten Stationen selbständig. Das Paar oder die Kleingruppe entscheidet über Reihenfolge und Arbeitstempo. Es werden neun Stationen angeboten, die aber z.B. durch eine Schreibstation oder eine Geschmacks- / Riechstation erweitert werden können. Für jede Station ist genau angegeben, wie die Aufgabenstellung lautet und welche Materialien (Arbeitsblätter, zusätzliche Materialien) benötigt werden, jedoch sind Änderungen ohne weiteres möglich.

- taktil-kinästhetische Station - Tasten
- Ausschneiden und Hinterkleben der Buchstabenformen mit verschiedenen Materialien
- Tastkasten mit vorgeschlagenem Material und großen und kleinen Holzbuchstaben
- Förderschwerpunkte: Informationsaufnahme über Haut, Auge und Muskel- und Gelenkrezeptoren, taktil-kinästhetische Stimulation, Förderung der Figur-Grund- Wahrnehmung, der taktilen Diskrimination, der Formwahrnehmung und der AugeHand- Koordination
- auditive Station - Hören
- vorgegebener Kassettentext gibt den Kindern Anweisungen (zu erlernender Laut aus Lautfolge heraushören, Wörter mit dem Laut heraushören, entsprechend auf Arbeitsblatt ankreuzen)
- Förderschwerpunkte: Informationsaufnahme über das Ohr, Förderung der auditiven Merkfähigkeit, der Figur-Hintergrund-Diskrimination, der auditiven Diskrimination und der auditiven Analyse
- visuelle Station - Sehen
- Herausfinden des zu erlernenden Graphems aus einer Graphemsammlung verschiedener Buchstaben in unterschiedlicher typographischer Gestaltung
- Förderschwerpunkte: Informationsaufnahme über das Auge, Förderung der visuellen Merkfähigkeit, der Figur-Grund-Wahrnehmung, der Wahrnehmungskonstanz und der Raumlagewahrnehmung
- Station für schriftsprachliches Handeln - Stempeln
- Vervollständigen von begonnenen Buchstabenreihen
- Erlesen von vorgegebenen sprachlichen Äußerungen einer szenischen Darstellung und stempeln vorgegebener und eigener Äußerungen in Sprechblasen, um Dialogsituation zu vervollständigen
- Förderschwerpunkte: Informationsaufnahme über den schriftsprachlichen

Produktionsakt und das Auge, Motivationsaufbau, eigenständige Produktion von

Schrift, Hinführung zum freien Schreiben, Förderung der visuomotorischen Koordi- nation, des visuellen Sequenzgedächtnisses und der Wahrnehmung räumlicher Bezie-hungen

- Synthese-Station - Spielen
- verschiedene Spielformen (z.B. Domino, Lotto, Memory, Quartett, Würfelspiel, Puzzle usw.) beinhalten Syntheseaufgaben, die mit Unterstützung der Lautgebärden und Sinnbezugherstellung gelöst werden
- Förderschwerpunkte: Steigerung der Synthesefähigkeit, in Sinnrahmen eingebettetes Synthesetraining, Einprägung von Segmenten (KV oder VK) erleichtert das Erlesen ganzer Wörter, Sozialintegration
- Lese-Station - Lesen
- drei verschiedene Aufgabentypen zur inhaltlichen Erfassung von Wörtern und Texten (Analyse und Synthese von Wörtern) (z.B. Leseschieber, Wortaufbau, Zuordnungsaufgaben von Text und Illustration)
- Förderschwerpunkte: Anwendung des Phonems / Graphems im Wort- und/oder Textzusammenhang, Übung des sinnentnehmenden Lesens
- vestibuläre Station - Gleichgewicht
- Buchstabenform (mit Tesamoll stark vergrößert auf Fußboden geklebt) balancierend in Schreibrichtung (Pfeile) abgehen und artikulieren (alleine und blind geführt)
- Förderschwerpunkte: Informationsaufnahme über die Haut, den Gleichgewichtssinn und die Muskel- und Gelenkrezeptoren, Förderung einer angemessenen Muskelspannung, des Gleichgewichtssinns, der Auge-Fuß-Koordination und der Sozialintegration
- sozial integrativ-kreative Station - Gemeinschaft
- Gemeinschaftsaufgabe: Ausgestaltung der Hohlform des Buchstabens mit den zur Verfügung stehenden Materialien
- jedes Paar oder jede Kleingruppe entscheidet selber, wieviel der Gemeinschaftsaufgabe gelöst wird
- Förderschwerpunkte: Informationsaufnahme über die kreative Begegnung mit dem Lerngegenstand, Freude an der Gestaltung, Förderung der visuomotorischen Koordination und der Sozialintegration
- sensomotorische Station - Bauen
- die Buchstabenform mit einem freigewählten Material (z.B. Knetmasse, Pfeifenreiniger, Legosteine, Seile etc.) nachbauen
- Förderschwerpunkte: Informationsaufnahme über motorische, psychische und kognitive Entwicklungsreize, Training von gezielten Bewegungen, Kraftdosierung,

Auge-Hand-Koordination und Raumlagewahrnehmung Die Paare bzw. Kleingruppen kleben nach jeder bearbeiteten Station einen Aufkleber zum entsprechenden Symbol auf ihren Plan. Am Ende der Phase (akustisches Signal) werden die Pläne und Arbeitsblätter eingesammelt und zusammen mit den anderen Arbeitsergebnissen (z.B. gebaute Buchstaben) von dem Lehrer / der Lehrerin analysiert, um nötige individuelle Fördermaßnahmen planen zu können.

In der dritten Phase findet das Rahmenthema im gemeinschaftlichen Tun seinen Abschluß. „Einerseits kann der erlernte Laut / Buchstabe durch kreativ-praktisches Tun vertieft, andererseits in einer abstrakt-kognitiven Begegnung angewendet werden.“75 Beim kreativ-praktischen Tun werden verschiedenste kontextbezogene handlungsorientierte Tätigkeiten vorgeschlagen, z.B. Kochen, Singen, Basteln, Spielen, Malen, Rollenspiele etc. „Der lustbetonte Umgang mit dem Phonem / Graphem trägt zur emotionalen Verinnerlichung und damit zur besseren Speicherung des neuen Lerngegenstandes bei.“76 Zur abstrakt-kognitiven Begegnung werden Aufgaben mit Wörtern, Sätzen oder Texten gegeben, die in Umfang und Schwierigkeitsgrad ansteigen. So kann das Ganzwortangebot erweitert und ein Bezug zum Sachunterricht hergestellt werden.

4 Gezielte Fördermöglichkeiten bei diesen Lese- und Schreiblehrgängen

Im 2. Kapitel habe ich die kritischen Stellen im Lese- und Schreiblernprozeß nach Sommer-Stumpenhorst und Urbanek beschrieben. Viele Kinder haben bei einem oder auch mehreren Bausteinen Schwierigkeiten. Im folgenden möchte ich untersuchen, ob und wie die im 3. Kapitel vorgestellten Lese- und Schreiblehrgänge eine gezielte Förderung von Kindern ermöglichen, die eben bei kritischen Stellen ‘hängen bleiben’.

4.1 Fördermöglichkeiten bei der Tobi-Fibel

Der analytisch-synthetische Lese- und Schreiblehrgang ‘Tobi-Fibel’ kombiniert zu dem Fibelwerk ein Arbeitsheft, das hauptsächlich dem Lesenlernen dient, den Druckschriftlehr- gang und verschiedene weitere Materialien, die v.a. der Binnendifferenzierung und Freiar- beit dienen. Im Lehrerband gibt es ein Kapitel ‘Diagnose des Lernfortschritts und Förderunterricht’, in dem eine Möglichkeit der Diagnose von Lese- und/oder Schreiblern-problemen gezeigt und verschiedene daraus folgende Förderschwerpunkte mit gezielten Übungen vorgestellt werden. Diese Förderschwerpunkte

A Buchstaben-Laut-Zuordnung (Lesen)
B Laut-Buchstaben-Zuordnung (Schreiben) C Synthese
D Lautanalyse
E Reihenfolge beim Erlesen
F Vergegenständlichung von Sprache

simmen in Teilen mit den kritischen Stellen nach Sommer-Stumpenhorst / Urbanek überein, v.a. die Schwerpunkte A + B entsprechen der 3. kritischen Stelle (Buchstaben kennen und den Lauten zuordnen können), der Punkt C entspricht der 6. kritischen Stelle (Laute zusammenziehen können) und der Punkt D entspricht der 1. kritischen Stelle (Laute in Wörtern abhören können). Auch in den ‘regulären’ Lehrgangsmaterialien finden sich vieleÜbungen, die entsprechende Schwerpunkte setzen.

Da die Tobi-Fibel ein analytisch-synthischer Leselehrgang ist, steht von Anfang an der Lautaspekt (1. kritische Stelle: Lautanalyse) mit im Vordergrund. Bei jedem neuen Wort wird gemäß dem Prinzip der direkten Hinführung zur Buchstabenschrift zu Anfang eine Strukturierung des Wortklangbildes gemacht. Mit Hilfe der Tafelwortkarten wird das Wort Schritt für Schritt (Wortkarte zeigen, Buchstabenreihenfolge besprechen, Vorlesen des Wortes, Verdeutlichung der einzelnen Laute und der entsprechenden Grapheme, Stellung der Laute im Wort) eingeführt und strukturiert, der Sprache-Schrift-Zusammenhang wird verdeutlicht77. Bei dieser Übung wird die Lautanalyse nicht isoliert,sondern im Zusam- menhang geübt. Im Druckschriftlehrgang werden Schreibübungen schon am Anfang mit Lautanalyseübungen verbunden. Ein kleines Bild „gibt den Begriff, und somit das zu schreibende Wort, vor. Das Wort steht auch geschrieben da, allerdings fehlt ein Buchstabe. Die Kinder müssen nun, vom Wortklangbild (durch die Abbildung vorgegeben) und den vorhandenen Wortteilen ausgehend, den fehlenden Laut analysieren. Dazu bedarf es des Erlesens der Wortteile. Damit ist die Schreibübung zugleich eine wertvolle, strukturierende Leseaufgabe.“78 Auch hier wird die Lautanalyse nicht isoliert geübt. Im Arbeitsheft neh- men anfangs Übungen einen großen Raum ein, in denen die Bilder angekreuzt werden sol- len, in deren Bezeichnung der betreffende Laut zu hören ist. Auch die Arbeit mit den Analyse-Synthese-Kärtchen (vgl. Kapitel 3.1.5; Anhang 2) fördert die Lautanalyse, wieder in Verbindung mit der Synthese. Reine Laut-Positionsübungen setzen im Arbeitsheft erst mit der Einführung des T/t (Anhang 5) ein, da diese Übung (wohl mit Recht) als besonders schwer eingeschätzt wird. Es gibt aber durch Kopiervorlagen auch die Möglichkeit, diese Übungsform schon von Anfang an einzusetzen79. Neben diesen Übungen gibt es im Leh- rerband zum Übungsschwerpunkt D - Lautanalyse - verschiedene Übungsvorschläge zum „Heraushören von Lauten aus Wörtern, dem Vergleich zwischen Einzellauten und Stel- lungslauten in Wörtern, den Klangmöglichkeiten der einzelnen Buchstaben und [...] der kompletten Zuordnung von Einzellauten zu einem Wortklangbild“80. Die Analyse wird dabei so definiert, daß sie darin besteht, „durch das Raster der Buchstaben und ihrer Laute die Lautfolge herauszufinden, die dem Wortklangbild ähnelt. [...] Reine Lautanalysen ohne Zuordnung zu Buchstaben erscheinen nicht sinnvoll.“81 Wichtig für die Übungen ist ein Zugang über den auditiven Kanal (Dehnsprechen und genaues Hinhören), den visuellen Kanal (Artikulation von Einzellauten im Handspiegel beobachten) und eventuell auch den haptischen Kanal (Einsatz von lautbegleitenden Gebärden). Der Übungsschwerpunkt ist nach Laut-Identifikations-Übungen, Übungen zum Anlaut, Übungen zum In- und Endlaut, Lautdifferenzierungsübungen und Übungen zur Zuordnung verschiedener Zeichen zu ei- nem Laut gegliedert. In den verschiedenen Übungen wird die Lautanalyse sowohl isoliert als auch im Zusammenhang mit Syntheseaspekten geübt, verschiedene Schwierigkeitsstu- fen werden dabei berücksichtigt82.

Spezielle Übungen zur 2. kritischen Stelle, Zeichen unterscheiden können, gibt es nicht. Der Lehrgang lehnt das isolierte Üben von Teilleistungen ab, Buchstaben sollen innerhalb ihrer Funktion in der Schrift geübt werden. Also gibt es keine visuellen Wahrnehmungsübungen oder Übungen zum Einprägen der einzelnen Buchstaben in Abgrenzung zu anderen. Buchstaben werden also z.B. nicht einzeln geknetet, sondern ein ganzes Wort wird geformt, so daß auch die Synthese geübt wird83.

Die Laut-Buchstaben-Zuordnung (3. kritische Stelle) wird in den meisten Übungen zur Lautanalyse mitgeübt. Zusätzlich stellen die Anlautbilder im Arbeitsheft bei der Einfüh- rung eines neuen Buchstabens, die Buchstabentabelle auf den Umschlaginnenseiten des Arbeitsheftes (Anhang 7.1 + 7.2), die Anlauttabelle bzw. das Buchstabenposter (für jeden Buchstaben ein DIN-A4-Bogen mit Anlautbild[ern]) und das nach und nach selbst zusam- menzustellende ABC-Anlautheft Hilfen für die Laut-Buchstaben-Zuordnung dar. Dabei werden bei Buchstaben, denen mehrere Klänge zugeordnet werden können, auch mehrere

Anlautbilder gezeigt, die die unterschiedlichen Klangmöglichkeiten verdeutlichen (z.B. Apfel und Ameise, Esel und Ente). Die Übungsschwerpunkte A und B teilen diese kriti- sche Stelle auf in Buchstaben-Laut-Zuordnung (Lesen) und Laut-Buchstaben-Zuordnung (Schreiben). Immer steht die Funktion der Buchstaben in Wörtern und nicht die isolierte Übung im Vordergrund. Dadurch wird auch meist die Analyse und z.T. auch Synthese mitgeübt. Die vorgeschlagenen Übungen versuchen, verschiedene Zugangskanäle zu nut- zen (z.B. auditiv Æ Wörter suchen, die mit dem gegebenen Buchstaben beginnen bzw. An- , In- oder Endlaut heraushören und Graphem zuordnen; kinästhetisch Æ Buchstaben auf Rücken schreiben; taktil Æ ausgeschnittene oder mit Schnur geklebte Wörter ertasten bzw. einfache Wörter diktieren und stempeln, kneten, schreiben lassen)84.

Die 4. kritische Stelle, das bewegungsrichtige Schreiben der Buchstaben, wird v.a. im Druckschriftlehrgang beachtet. Zuerst wird aber jeder neue Buchstabe von dem Lehrer / der Lehrerin an der Tafel eingeführt (auf Schreibabfolge hinweisen), die Kinder schreiben ihn dann mit Farbkreide nach, schreiben ihn groß in die Luft und auf den Tisch, mit Wachsstiften auf ein großes Papier und mehrmals auf ein DIN-A4-Blatt. Im Anschluß wird im Druckschriftlehrgang der vorgegebene Groß- und Kleinbuchstabe (Pfeile kennzeichnen die Schreibrichtung) nachgespurt und erst dann innerhalb einer 3-teiligen Lineatur mehr- mals geschrieben. Dabei soll immer auf die richtige Schreibabfolge geachtet werden. Wei- tere Schreibübungen werden dann wieder im Zusammenhang z.B. mit Analyse-Synthese- Aufgaben (Wortergänzung, Wortaufbau) angeboten. Im Gegensatz zu Jürgen Reichen wird das Training des richtigen Schreibablaufs, auch als unabdingbare Voraussetzung zum spä- teren problemlosen Übergang zur Schreibschrift, als sehr wichtig erachtet85.

Auf die 5. kritische Stelle, Wörter und Sätze richtig schreiben können, wird v.a. dadurch eingegangen, daß von Anfang an mit Wörtern (erst die Namen der Tobi-Familie, später andere einfache Wörter) gearbeitet wird, die nicht nur als Ganzwörter gegeben, sondern analytisch-synthetisch erarbeitet werden. Sowohl das Arbeitsheft als auch die Fibel fangen mit einzelnen Wörtern an, die aber schnell zu kleinen Sätzen zusammengefügt werden. Somit werden korrekte Schreibvorbilder gegeben. Spezielle Übungen zur Orthographie gibt es nicht, aber die Schreibübungen mit ganzen Wörtern besonders des Druckschriftlehrgangs dienen auch schon der Rechtschreibübung.

Die Synthese (6. kritische Stelle) wird von Anfang an durch die Durchstrukturierung jedes neuen Wortes (vgl. 1. kritische Stelle) verdeutlicht und geübt. Wie schon dargestellt sind viele der Analyseübungen auch Syntheseübungen, wie der Einsatz der Tafelwortkarten, die

Wortergänzungsübungen des Druckschriftlehrgangs und die Analyse-Synthes-Kärtchen. Neben diesen kombinierten Übungen gibt es auch den Übungsschwerpunkt C, der speziell auf die Synthese eingeht86. Es wird davon ausgegangen, daß eine fortgeschrittene Synthese (also nicht nur das Zusammenschleifen zweier Buchstaben) vier Fähigkeiten voraussetzt bzw. vereint:

I Kenntnis, Differenzierung und schnelle korrekte Auswahl der möglichen Lautqualitäten (z.B. langes, geschlossenes ‘e’ in Efeu und kurzes, offenes ‘e’ in Brett)

II häufig vorkommende Lautkopplungen müssen eingeschliffen sein, damit sie nicht jedesmal neu mühsam erlesen werden müssen

III Sinnerwartung führt zu schnellerem und flüssigerem Lesen (ausgelöst durch

Satzzusammenhänge, Illustrationen und Syntheseanfang); wichtig ist nicht nur Aufbau von Erwartungen, sondern auch deren Überprüfung IV Erkennen des Zusammenhangs zwischen ‘Summe der Einzellaute’ und ‘Wortklangbild’

Zu diesen Fähigkeiten werden einzelne Übungen vorgeschlagen. Dabei wird ganz am Anfang die Sinnerwartung durch direkte Vorgabe des Wortklangs geweckt, später durch Illustrationen. Auch die Arbeit mit Buchstaben-, Silben- und Wortkärtchen, Dehnsprechen, ‘stummes’ Sprechen mit übertriebener Artikulation und Reimwörtern wird dargestellt. Einige Übungen zur Synthese finden sich auch im Übungsschwerpunkt E, der v.a. auf die Reihenfolge beim Erlesen eingeht87.

Ziel des Leselernprozesses ist die Sinnentnahme (7. kritische Stelle). Diese wird besonders durch die Lese-Dominos und die Lese-Mal-Blätter (vgl. Kapitel 3.1.5) gefördert. Beide Übungsmöglichkeiten bieten eine gesteuerte Sinnerwartung, was v.a. schwächeren Lesern die Sinnentnahme erleichtert. Außerdem wirkt die Handlungsorientierung positiv auf die Motivation und die Kontrolle der Sinnentnahme ist gegeben. Das sinnentnehmende, flüssige Lesen kann an den Texten der Tobi-Fibel 1+2 und der vier Lesehefte geübt werden. Wichtig sind hier der Einbezug der Tobi-Welt, häufige Handlungsorientierung, verschiedene Schwierigkeitsgrade und sinnsteuernde Illustrationen.

Der Lese- und Schreiblehrgang ‘Tobi-Fibel’ geht also nicht auf jede einzelne kritische Stelle speziell ein, bietet aber mit den Lehrgangsmaterialien und den in den Übungs- schwerpunkten vorgeschlagenen Übungen viele Möglichkeiten der gezielten Förderung. Dazu zählen auch Hinweise zum Sammeln erster Erfahrungen mit Schriftsprache ganz zu

Beginn der Schulzeit88. Speziell für sprachbehinderte Kinder gibt es meines Erachtens zu wenig Übungsmöglichkeiten für die visuelle und auditive Wahrnehmungsschulung. Der Lehrgang wurde aber auch für die Regelschule entwickelt. Bei einem Einsatz in der Schule für Sprachbehinderte könnte man solche Wahrnehmungsübungen zusätzlich ergänzen, um auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler einzugehen.

4.2 Fördermöglichkeiten bei ‘Lesen durch Schreiben’

Dieser Lehrgang ist wie oben beschrieben konzeptionell völlig anders aufgebaut. Das kaum zu überschauende Material und die andere Vorgehensweise machen es schwierig zu betrachten, wie der Lehrgang Schülern, die bei den kritischen Stellen im Lese- und Schreiblernprozeß Probleme haben, Fördermöglichkeiten anbietet. Dennoch werde ich versuchen, wenn möglich wenigstens einige von Reichen vorgeschlagene Übungsmöglich- keiten zu den einzelnen kritischen Stellen aufzuzeigen oder gegebenenfalls die konträre Auffassung darzustellen.

Nach Sommer-Stumpenhorst und Urbanek besteht die 1. kritische Stelle im Lese- und Schreiblernprozeß darin, Laute in Wörtern abhören zu können. Im Lehrgang ‘Lesen durch Schreiben’ ist diese Fähigkeit die wichtigste und unabdingbare Voraussetzung. Geschrie- ben wird lautgetreu, d.h. die Wörter werden wie gehört aufgeschrieben. Dazu müssen aber eben die Laute herausgehört werden können, es kommt dabei auf lautlich korrekte Schreibweisen an, die Rechtschreibung spielt noch keine Rolle. Reichen selbst sagt, daß das Auflautieren „die eigentlich entscheidende Hürde“ ist, „die das Kind auf dem Weg zum Lesenkönnen zu nehmen hat, wenn es «durch Schreiben» lesen lernt“89. Auch er weiß, daß vielen Kindern diese auditive Leistung von Lauterkennung, -unterscheidung und

-zerlegung besonders schwer fällt. „Deshalb sind Hörübungen von gleicher - wenn nicht grösserer - Bedeutung wie die optischen Wahrnehmungsübungen.“90 Die Kinder sollen vom ersten Schultag an mit dem Auflautieren von Wörtern vertraut gemacht werden, z.B. Namen der Kinder auf Arbeitsblättern, eigener Name etc.91. Sowohl bei dem Basismaterial, also den Lernangeboten für Schüler (in Form von Arbeitsblätern, LS) und den SABEFIX- Programmen (Blätter zum programmierten Lernen mit dem SABEFIX-Gerät, PB), und dem Material zur Durchführung von Spielen (K) als auch in den Unterrichtsvorschlägen zu den das Heraushören von An- und Endlauten gefordert und geübt. Wichtig ist aber immer auch von Anfang an das Augenmerk auf ganze Lautabfolgen zu richten, d.h. ganze Wörter auf- lautieren zu lassen92. Alle Lautierungsübungen stellen für die Schüler hohe Anforderungen an die Konzentration und das Abstraktionsvermögen, weshalb sie zwar regelmäßig, aber nur in Form von kleinen Einschiebungen durchzuführen sind. „Wichtig dabei ist - vor al- lem für schwächere Schüler - dass diese Lautierungsübungen verbunden werden können mit Übungen zur Begriffsbildung, zur Klassifizierung usw. und an «echten» Gegenständen vollzogen werden, damit der nötige Wechsel zwischen den Repräsentationsebenen sowie der Formal- und der Sinnebene gewährleistet bleibt.“93 Neben ‘normalen’ sind ‘umgekehr- te’ Lautierungsübungen sehr hilfreich, d.h. das Kind muß aus einer Lautkette heraushören, um welches Wort es sich handelt. Eine weitere Hilfe können auditiv-sprachmotorische Übungen wie Rhythmisierungsübungen, Klatschverse, Hüpfspiele etc. sein, die im Lehr- gang zwar nicht angeboten werden, aber auf entsprechende Literatur wird verwiesen94. Eine Vereinfachung des so schwierigen Auflautierens insbesondere für schwächere Schü- ler ist schwierig, es kann höchstens zu Anfang hauptsächlich mit lautlich einfachen Zwei- oder Drei-Laut-Wörtern (z.B. Zahlwörter) gearbeitet werden. In einzelnen Fällen kann auch eine Vor-Zerlegung der Wörter in Silben helfen95. Es zeigt sich, daß die Fähigkeit, Laute in Wörter abhören zu können, als Grundlage des Konzepts ‘Lesen durch Schreiben’ berechtigterweise viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es gibt vielfältige Übungsmög- lichkeiten, von denen ich hier nur einige kurz beispielhaft vorstellen möchte. Als Beispiel aus den Arbeitsblättern für Schüler dient das LS 1 (Wortschatzblatt; Anhang 8), bei dem eine ‘umgekehrte’ Lautierungsübung sein könnte, den Namen von den Bildern auflautiert zu sagen und die Klasse, der Partner etc. muß das passende Bild finden, oder auch ein Lautdiktat durchzuführen werden kann96. Es gibt noch viele andere Arbeitsmöglichkeiten, auch auf das Anweisungsverständnis oder Gruppierungsübungen (unter lautlichen und be- grifflichen Aspekten) bezogen. Ein spezielles Arbeitsblatt zur akustischen Lautanalyse ist das LS 3 (Wo hörst du die Laute?; Anhang 9), das als Anregung für weitere vom Lehrer selbst vorbereitete Übungen ähnlicher Art dienen soll. Als Beispiel für ein Lautier-Spiel kann Spiel 7 (Hali-hallo; Anhang 10) dienen. Auch bei den SABEFIX-Programmen gibt es viele verschiedene Lautierungsübungen. Mir ist allerdings v.a. bei den SABEFIX-Übungen aufgefallen, daß oft ein sehr großer und guter Wortschatz vorausgesetzt wird. Viele Begrif-fe kamen mir für Erstkläßler , erst Recht bei Sonderschülern, sehr schwer vor. Es ist fraglich, ob sie den meisten Schülern bekannt sind (z.B. Programm 48: Schakal, Falke). Nach Reichen sollen die Kinder bei ihnen unbekannten Begriffen nachfragen, aber auf Dauer kann dies auch sehr demotivierend wirken.

Die 2. kritische Stelle besteht im Zeichen unterscheiden können. Neben den auditiven Ü- bungen liegt ein weiterer Schwerpunkt des Lehrgangs auf visuellen Wahrnehmungsübun- gen durch Arbeitsblätter, SABEFIX-Programme und Spiele. Auffällig ist dabei die anfängliche ‘Unübersichtlichkeit’ vieler Angebote. Nach Reichen ist es jedoch Absicht, die visuelle Informationsmenge auf jedem Blatt so groß wie möglich zu halten, um die Schüler „innerlich auf Genauigkeit des Wahrnehmens“ auszurichten und sie „zu grösserer Auf- merksamkeit und Konzentration“97 zu veranlassen. Sie sollen mit Schwierigkeiten kon- frontiert werden, um ihre Bewältigung zu lernen. Die meisten speziellen visuellen Wahrnehmungsübungen sind sprachfrei, so daß sie auch ausländischen oder sprachbehin- derten Kindern Erfolge bieten können. Neben dem visuellen Training (Figur-Grund- Wahrnehmung, genaue Merkmalsanalyse, Buchstabenkenntnis etc.) werden immer auch Aufmerksamkeit, Konzentration und selbständige Arbeitshaltung gefördert. Ein Schwer- punkt liegt bei den SABEFIX-Übungen zur Vorbereitung der Buchstabenkenntnis mit buchstabenähnlichen Wahrnehmungszeichen, die so konstruiert sind, „dass wesentliche Gestaltelemente, welche im Bereich der Buchstaben für den Legastheniker Probleme auf- werfen, ebenfalls vorhanden sind“98, z.B. links - rechts, oben - unten usw. Allerdings soll immer auch gleichzeitig mit ‘richtigen’ Buchstaben gearbeitet werden. Diese tauchen in verschiedenen Gestaltvarianten auf und auch beim Schreiben wird nur bedingt auf eine gleichbleibende Formtreue bestanden. Einige Beispiele für visuelle Wahrnehmungsübun- gen und entsprechende SABEFIX-Programme finden sich im Anhang (Anhang 11 + 12.1 - 12.3). Auch dieser kritischen Stelle wird also recht große Bedeutung zugemessen und es gibt wieder vielfältige Übungsangebote. Ob diese jedoch alle auch für (sprachbehinderte) Schüler mit Wahrnehmungsstörungen geeignet sind, nach dem Motto: mit Schwierigkeiten konfrontieren, wage ich zu bezweifeln. Es sollte eine individuelle Auswahl getroffen wer- den.

Die 3. kritische Stelle betrifft die Zuordnung der Buchstaben zu den entsprechenden Lau- ten, also die Buchstabenkenntnis. Den Schülern steht von Anfang an der gesamte Laut- und Buchstabenbestand zur Verfügung, so daß sie jedes beliebige Wort verschriften kön- nen, sofern sie in der Lage sind, Wörter auf ihre Laute hin abzuhören (vgl. erste kritische Stelle). „Zum Aufschreiben der «Lautketten», d.h. phonetisch zergliederter Wörter, steht dem Schüler als zentrales Hilfsmittel eine Buchstabentabelle zur Verfügung, aus welcher er selbständig die richtige Zuordnung eines jeden Buchstabens zu seinem Lautgehalt able- sen kann.“99 Anfangs ist das Verschriften auf diese Weise sehr aufwendig, da jeder gehörte Laut anhand der Anlautbilder auf der Tabelle gesucht werden muß. Reichen geht aber da- von aus, daß die Kinder schnell an Geschwindigkeit und Sicherheit gewinnen und die Ta- belle relativ bald gar nicht mehr brauchen. Jedem Kind ist aber freigestellt, die Tabelle so oft und so lange zu benutzen, wie es für sich selbst nötig hält. Dadurch haben auch schwä- chere Schüler die Möglichkeit, alles schriftlich auszudrücken, obwohl sie noch nicht alle Buchstaben ‘auswendig’ können. Das ‘Auswendigkönnen’ kommt durch das häufige Schreiben, deshalb ist auch „das Schaffen, Anregen, Erkennen und Aufgreifen motivieren- der Schreibgelegenheiten eine der wichtigsten - und schwierigsten - didaktischen Aufga- ben des Lehrers“100. Spezielle Zuordnungsübungen gibt es nicht und auch die Grapheme bzw. Phoneme werden nicht einzeln eingeführt. Eine mögliche Schwierigkeit sehe ich dar- in, daß die Tabelle für einige Kinder zu unübersichtlich sein kann. In solchen Fällen sind eventuell eine individuell passende Änderung der Tabellengröße und zusätzliche Orientie- rungsübungen mit der Tabelle hilfreich.

Der 4. kritischen Stelle, Buchstaben bewegungsrichtig schreiben zu können, mißt Reichen keine große Bedeutung zu. „Es ist selbstverständlich, dass die spontane Schreibtätigkeit der Schüler nicht durch überhöhte formale Ansprüche beeinträchtigt werden soll. Ebenso selbstverständlich ist, dass auf formale Ansprüche nicht gänzlich verzichtet werden kann.“101 Das bezieht sich sowohl auf Orthographie als auch auf die Schrift. Bezüglich letzterer ist Lesbarkeit das oberste Ziel. Da in der Buchstabentabelle Gemischtantiqua ver- wendet werden und die Kinder vom ersten Tag an mit dieser Tabelle arbeiten, beginnen sie auch ihre Verschriftungen mit Druckbuchstaben. Diese werden nicht speziell eingeführt, sondern die Schüler ‘malen’ sie von der Tabelle ab. Auch hier führt das Üben durch häufi- ges Schreiben allmählich zu einer Automatisierung. Nach Reichen sind bei diesem ‘Abma- len’ die Schreibrichtung und bestimmte Bewegungsabläufe egal, die Kinder sollen so schreiben, „wie sie es gestalt-erfassend selber können“102. „Auf keinen Fall sollten im I. Quartal des Schuljahres schreibmotorische Übungen an Buchstaben durchgeführt werden. Es ist am Anfang des Lehrgangs von lernpsychologisch te Fingerbewegung ersetzt wird.“103 Nach den Erfahrungen sollen eventuelle anfängliche ‘falsche’ Schreibbewegungen auch im Hinblick auf die später einsetzende Schreibschrift irrelevant sein. Auf absolute Formtreue und Bewegungsrichtigkeit soll also nicht geachtet werden, wichtig sind aber neben der Lesbarkeit von Anfang an das Beachten der Schreib- zeilen und deutliche Ober- und Unterlängen. Als einzige spezielle Schreibübungen können, insbesondere bei motorisch beeinträchtigten Kindern, vielfältige Schwungübungen ge- macht werden. Außerdem können allgemeine Fördermaßnahmen wie Gleichgewichts- und Geschicklichkeitsübungen, Modellieren mit Knetmasse usw. die Feinmotorik unterstützen. Im ersten Schuljahr steht aber v.a. die Freude am Schreiben im Vordergrund und die Schrift sollte nur dann beanstandet werden, wenn sie unleserlich ist. Für Reichen ist diese kritische Stelle also gar keine Schwierigkeit im Lese- und Schreiblernprozeß, da er den Schülern weitgehende Freiheiten läßt.

Ähnlich verhält es sich bei der 5. kritischen Stelle: Wörter und Sätze richtig schreiben zu können. Die Schüler schreiben das, was sie hören, was unweigerlich zu Fehlern bezüglich der Rechtschreibung führt. Die Frage ist, ob sich diese ‘Fehler’, die in der alphabetischen Phase normal und wichtig sind, bei den Kindern einprägen und so die spätere Recht- schreibleistung beeinträchtigen können. Viele Fibeln und auch der Lehrgang ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’ lassen dieses phonetische Verschriften zwar zu, setzen aber auch gleichzeitig eine gewisse Zahl von Ganzwörtern ein, die den Schülern korrekte Schreib- vorbilder liefern und erste Regelbildungen anbahnen sollen. Auch die Fibeltexte geben korrekte Vorgaben. Reichen setzt dem entgegen, daß so kein Problembewußtsein für Rechtschreibung entwickelt werden kann. Seiner Erfahrung nach werden durch das spon- tane, motivierte, häufige Schreiben trotz oder vielleicht auch wegen der ‘Fehler’ die späte- ren Rechtschreibleistungen sogar positiv beeinflußt104. Die Fehler führen die Schüler zu einem Problembewußtsein, sie können sich selbständig, entdeckend und aktiv mit der Rechtschreibung auseinandersetzen, Hypothesen über Regeln aufstellen, diese überprüfen und dann in ihr Regelsystem übernehmen oder auch verwerfen. Fehler müssen den Schreibanfängern weitestgehend zugestanden werden und sollten nicht korrigiert werden. Eine Einschränkung stellen aber die groben Lautfehler dar.

„Nur wenn

- Laute beim Aufschreiben vergessen werden
- Laute in der Abfolge im Wort verwechselt werden oder
- Laute geschrieben werden, die gar nicht zum Wort gehören

muss es beanstandet und vom Schüler korrigiert werden.“105 Dabei sind allerdings regional bedingte Unterschied zu beachten. Zu den orthographischen Fehlern, die nicht korrigiert werden sollten, zählen auch die fehlerhafte Anwendung der Groß- und Kleinschreibung, das Fehlen von Wortlücken oder falsche Trennungen am Zeilenende. Sie sollen von alleine wieder verschwinden. Erst ab dem zweiten Schuljahr soll eine eigentliche Rechtschreib- schulung einsetzen, z.B. Hinweise auf feine Lautunterschiede (b / t), Groß- Kleinschreibung, Dehnungen und Schärfungen etc., die aber individuell auf die Klasse und auch auf einzelne Kinder abgestimmt sein sollte. Reichen nennt einige Übungen, die die Orthographie fördern sollen: präzises Auflautieren / genaues Hören, Rechtschreibkarteien / Wort-Bild-Karten, frühe Benutzung von einfachen Wörterbüchern, Stop-Diktat, Wander- Diktat, Selbstkorrektur am nächsten Tag und Tagessatz / Frühstücksdiktat. Die Maßnah- men sollen die Kinder in ihrer eigenen Regelbildung unterstützen und sie motivieren, sich mit Rechtschreibung auseinanderzusetzen. Immer soll die Freude am Schreiben im Vor- dergrund stehen106. Die Behauptung Reichens, daß ein ‘zurückhaltendes Korrigieren’ die späteren Rechtschreibleistungen sogar positiv beeinflußt, wird durch eine Untersuchung des Kantons Zürich aus dem Jahr 1985 unterstützt, die verschiedene Erstlesemethoden (darunter ‘Lesen durch Schreiben’, synthetische und methodenintegrierende Lehrgänge bzw. Fibeln) im Hinblick auf die spätere Rechtschreibleistung der Schüler untersucht hat. Daraus geht hervor, daß die Schüler, die nach ‘Lesen durch Schreiben’ unterrichtet worden waren, gegen Ende des zweiten Schuljahres weniger Rechtschreibfehler machten als die anderen. Außerdem zeigte sich nur bei dieser Methode keine Differenz zwischen der Rechtschreibleistung einheimischer und ausländischer Kinder107. Meiner Meinung nach spielt die ungedämpfte Motivation und Schreibfreude dabei die wichtigste Rolle, weil nur so gerne und v.a. viel geschrieben wird, und häufiges Schreiben (verbunden mit häufigem Lesen, das ebenfalls vielfältig gefördert wird) ist die beste Rechtschreibübung.

Übungen oder Fördermaßnahmen bezüglich der 6. kritischen Stelle, den Buchstaben ent- nommene Laute zusammenziehen können, gibt es bei ‘Lesen durch Schreiben’ nicht, denn Synthese im Sinne von Zusammenschleifen einzelner Laute findet nicht statt. Die Schüler lernen irgendwann, meistens gegen Ende des ersten Halbjahres, lesen ohne irgendwelche direkten Übungen, Hilfen oder gar Zwang. Wie dieser Prozeß abläuft, ist noch unklar (vgl. Kapitel 3.2.2). Dieser Punkt ist für mich am schwierigsten nachzuvollziehen. Die Schüler, zumindest die meisten, lernen tatsächlich nur durch das Schreiben lesen, auch wenn einige

länger brauchen als andere. Mehrere Erfahrungsberichte, auch aus Schulen für Sprachbehinderte, belegen dies108.

Bezüglich der 7. kritischen Stelle, Texte lesen und verstehen können, stellt Reichen die Lesemotivation in den Vordergrund. Die Schüler lernen ‘von selber’ lesen und kein Schü- ler soll zum Lesen aufgefordert oder gar gezwungen werden. Lediglich beiläufige Lesean- reize (z.B. Überschriften zu den Arbeitsblättern) werden gegeben. Wenn der Schüler ‘plötzlich’ lesen kann, ist es wichtig, die Motivation zu erhalten und leistungsentsprechen- de Leseangebote zu machen. Im Vordergrund soll dabei der kommunikative Charakter von Schreiben und Lesen stehen. Wenn die Schüler etwas lesen, um dabei z.B. zu erfahren, wohin der Klassenausflug geht, was die nächste Aufgabe ist, das es für den nächsten Tag keine Hausaufgaben gibt etc., ist die Sinnentnahme entscheidend. Sie wird auf diese situa- tionsbezogene Weise besser gefördert, als durch reine (Fibel-) Lesetexte. Der Lehrgang bietet sowohl Lesetexte (vier kleine Lesebüchlein zu den Rahmenthemen) als auch Ar- beitsblätter, SABEFIX-Programme und Spiele, die das Lesen voraussetzen und somit die Sinnentnahme fördern (z.B. Anhang 13).

4.3 Fördermöglichkeiten bei ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’

Der Leselehrgang ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’ führt jedes Phonem / Graphem auf die gleiche Weise im Stationsverfahren ein. Die acht Stationen (evtl. neun, wenn eine Schreib- station ergänzt wird) geben den Kindern die Möglichkeit, das zu erlernende Phonem / Gra- phem auf verschiedenen Lernkanälen aufzunehmen. Auf diese Weise wird auch vielen potentiellen Schwierigkeiten vorgebeugt. Als Beispiele finden sich im Anhang verschiede- ne Arbeitsblätter mit den im Lehrgang angegebenen Arbeitsanweisungen und Materialvor- schlägen zum Phonem / Graphem ‘O’ (Anhang 14 - 21). Die Materialien der anderen Phoneme / Grapheme sind vom Prinzip her gleich, aber der jeweiligen Rahmenhandlung angepaßt.

Die 1. kritische Stelle nach Sommer-Stumpenhorst und Urbanek besteht darin, daß die Kinder Laute in Wörtern abhören können. Schon beim Einstieg in die Rahmenhandlung zu dem zu erlernenden Phonem / Graphem werden den Kindern unterschiedliche Naturmate- rialien, Realgegenstände, Nahrungsmittel, Spiele, Abbildungen etc. präsentiert, deren Be- nennung / Wort das Phonem / Graphem überwiegend im Anlaut enthält. Durch den Umgang mit und der Benennung von diesen Materialien wird diese Gemeinsamkeit be-wußt. Anschließend lernen sie die entsprechende Lautgebärde kennen. Vielen Kindern wird das Heraushören von Lauten aus Wörtern durch die Benutzung von Lautgebärden sehr erleichtert, so daß ihre Verwendung diese kritische Stelle in vielen Fällen ‘entschär- fen’ kann. Im weiteren Verlauf der Einführung in das Rahmenthema „werden weitere Wör- ter mit dem ‘neuen’ Laut gesammelt und jeweils dessen Stellung im Wort lokalisiert“109. Besonders wird die auditive Diskriminierung bzw. auditive Analyse an den auditiven Sta- tion gefördert. Die Schüler müssen zum einen in einer auf Kassette gesprochenen Lautfol- ge den zu erlernenden Laut heraushören, zum anderen bei mehreren gesprochenen Wörter erkennen, ob der Laut enthalten ist. Dabei ist die steigende Schwierigkeit (Unterscheidung von Sprechlauten, aus einem Wort Einzellaut heraushören) beachtet. Auch an den anderen Stationen wird das Phonem immer wieder zusammen mit der Lautgebärde artikuliert, so daß sich der Klang des Lautes einprägt. Außerdem gibt die Buchstaben-Burg (Anhang 22) entsprechende Anlautbilder, die z.T. auch verschiedene Klangmöglichkeiten eines Gra- phems berücksichtigen.

Die 2. kritische Stelle besteht im Zeichen unterscheiden können. Diese zumeist visuelle Diskriminierung wird v.a. bei der visuellen Station gefördert. „Die Kinder finden das zu erlernende Graphem, in Form von kleinen und großen Druckschriftbuchstaben, aus einer Graphemsammlung verschiedener Buchstaben in unterschiedlicher typographischer Gestal- tung heraus, benennen es und kreisen es ein.“110 Auch an der taktil-kinästhetischen Station wird mit dem Fühlkasten die Unterscheidung des zu erlernenden Graphems von anderen Graphemen und Gegenständen, diesmal auf der taktilen Ebene, gefördert. Ebenso dienen alle anderen Stationen dazu, sich das Zeichen auf unterschiedlichste Weise einzuprägen.

Beide schon genannten Schwierigkeiten, Laute in Wörtern abhören und Zeichen unter- scheiden können, müssen beherrscht werden, um auch die 3. kritische Stelle zu ‘meistern’: Buchstaben kennen, d.h. den Lauten zuordnen können. Die Verbindung von Laut und Buchstabe wird an den Stationen immer wieder hergestellt, indem das Graphem unter- schiedlich erfahren und dabei immer auch das Phonem artikuliert wird. Besonders fällt das bei der taktil-kinästhetischen Station (das Graphem mit einem bestimmten, einen taktilen Reiz gebenden Material gestalten und die Buchstabenform anschließend abfahren und den Laut artikulieren), der Station für schriftsprachliches Handeln (erste Aufgabe: die begon- nenen Buchstabenreihen durch Stempeln vervollständigen und dabei den Laut artikulieren) und der vestibulären Station (auf den Boden geklebte Buchstabenform balancierend abge- hen, dabei den Laut artikulieren) auf. Auch der emotionale Bezug, der durch das Rahmen- thema, die Stationsarbeit und die abschließende kreativ-praktische und abstrakt-kognitive Begegnung zum Phonem / Graphem hergestellt werden soll, ist wichtig, damit beides si- cher gespeichert werden kann. Eine wichtige Hilfe zur Verbindung von Phonem mit zuge- hörigem Graphem stellen wieder die Lautgebärden dar, die häufig einen Hinweis auf die Buchstabenform geben. Auch die Buchstaben-Burg dient als immer zur Verfügung stehen- des Hilfsmittel der langfristigen Speicherung von Phonem-Graphem-Verbindung.

Bezüglich des Schreibens besteht die 4. kritische Stelle darin, die Buchstaben bewegungsrichtig schreiben zu können. Dieses wird an der taktil-kinästhetischen und der vestibulären Station (Buchstaben entsprechend der Schreibrichtung, angegeben durch Pfeile, abtasten bzw. abbalancieren), der Station für schriftsprachliches Handeln (Stempeln zur Einprägung der Buchstabenform) und der sensomotorischen Station (Buchstaben bauen) geübt. Im Lehrgang nicht vorgesehen ist eine Schreibstation, bei der gerade der feinmotorische Vorgang und das bewegungsrichtige Schreiben geübt werden könnte. Jedoch wird die Einrichtung einer solchen zusätzlichen Station im Handbuch vorgeschlagen111.

Hauptsächlich auf die Orthographie bezogen ist die 5. kritische Stelle: Wörter und Sätze richtig schreiben können. Dazu gehört neben der Rechtschreibung zunächst auch innerhalb einer (altersgemäßen) Lineatur schreiben zu können, zwischen Wörtern einen Abstand zu lassen und Sätze durch Satzzeichen zu kennzeichnen. Dazu gibt der Lehrgang keine spe- ziellen Übungsmöglichkeiten an. Dennoch wird diese Fähigkeit vorbereitet, indem zum einen immer Möglichkeiten zum freien Schreiben (z.B. bei der Station für schriftsprachli- ches Handeln, wo als zweite Aufgabe Dialogszenen ergänzt oder erfunden werden sollen oder in der kreativ-praktischen und abstrakt-kognitiven Anwendung) gegeben und angeregt werden, zum anderen zur Vorbereitung auf die Rechtschreibung nach und nach zu jedem Phonem / Graphem Ganzwörter gegeben und durch die Rahmenhandlung, die Stationen (v.a. die Synthese- und die Lesestation) und die abschließende Anwendung auch mit klei- nen Sätzen gefestigt werden.

Die 6. kritische Stelle besteht darin, daß die Schüler den Buchstaben entnommene Laute zusammenziehen können. Diese Synthesefähigkeit als Grundlage für das Lesen wird an der Synthese-Station spielerisch gefördert. Innerhalb eines Spiels müssen Syntheseaufgaben mit Unterstützung der Lautgebärden, die auch hier eine wichtige Hilfestellung geben, ge- löst werden. Wichtig ist dabei, daß gleichzeitig ein Sinnbezug hergestellt wird. Gerade bei der Einführung der ersten Phoneme / Grapheme dienen auch die Aufgaben der Lese-Station der Förderung der Synthese (z.B. Leseschieber, Wortaufbau). Die Synthese wird bei jeder angebotenen Lesemöglichkeit gefördert, also auch bei der Einführung in die Rahmenhandlung und der Anwendung des erlernten Phonems / Graphems. Die 7. kritische Stelle beinhaltet, Texte lesen und verstehen zu können. Das flüssige Lesen soll mit dem Lehrgang nach und nach erreicht werden und die Übung muß natürlich auch danach weitergehen. Zum Lesen gehört aber auch die gleichzeitige Sinnentnahme. Diese wird bei der Lese-Station v.a. dadurch gefördert, daß ein Sinnbezug hergestellt wird, indem z.B. ein Text erlesen und dann einer passenden Illustration zugeordnet werden muß oder für eine Aufgabe nach Art eines Quiz mehrere Antworten zur Auswahl stehen. Auch in der kognitiv-abstrakten Anwendung wird häufig das sinnentnehmende Lesen gefordert (z.B. Bildunterschriften lesen und passende Unterschriften zur Dialogszene der Station für schriftsprachliches Handeln kleben).

Insgesamt läßt sich feststellen, daß der Lehrgang ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’ sehr genau auf die kritischen Stellen im Lese- und Schreiblernprozeß zugeschnitten ist. Jede Schwierigkeit wird mit mindestens einer Station bei jeder Phonem / Graphem - Einführung speziell geübt und mit anderen Stationen, der Einführung und der Anwendung weiter un- terstützt. Zusätzlich zu den detaillierten Anweisungen des Lehrgangs wird der Lehrer / die Lehrerin aufgefordert, weitere Ergänzungen oder Alternativen zu finden, um noch indivi- dueller auf Probleme eingehen zu können. Dafür ist durch die offene Form des Lehrgangs genügend Raum. Auch für therapeutische Ergänzungen für sprachbehinderte Kinder bietet der Lehrgang einen sehr geeigneten Rahmen. Gerade diesen Schülern wird er durch seine Mehrdimensionalität, die individuelle Einsetzbarkeit und der ausgewählten Buchstabenrei- henfolge besonders gerecht. Auf die speziellen Schwierigkeiten / Bedürfnisse von Kindern aus Elternhäusern, die wenig oder gar keine Schrift- und Lesevorbilder geben, wird im Lehrerband hingewiesen. Es wird vor Beginn des Lehrgangs eine Phase der Hinführung zur Schrift (Existenz und Zweck von Schriftsprache, Wahrnehmungsförderung, etc.) emp- fohlen.

Meines Erachtens wäre es auch nicht schlecht, den Lehrgang, insbesondere die Stationsarbeit, parallel zu einem Fibelwerk einzusetzen. Durch eine ansprechende Fibel werden weitere Leseanreize gegeben und die zur Fibel meist gehörenden Materialien können eine sinnvolle Ergänzung und Erweiterung des Übungsangebotes geben. Bei Auswahl des Fibelwerkes sollte allerdings bei sprachbehinderten Kindern auf die Reihenfolge, in der die Buchstaben eingeführt werden, geachtet werden.

4.4 Fazit

Welches Fazit läßt sich nun aus dieser Betrachtung der verschiedenen Lese- und Schreib- lehrgänge ziehen, insbesondere bezogen auf Kinder mit einer Sprachbehinderung? Jeder vorgestellte Lehrgang hat seine Stärken und Schwächen. Keiner ignoriert die kritischen Stellen des Schriftspracherwerbs völlig, auf einige wird mehr, auf andere weniger einge- gangen.

Die Stärke des Lehrgangs ‘Tobi-Fibel’ sehe ich in der Einbindung aller Übungen in die Tobi-Welt. Es wird mit allen Teilen des Lehrgangs eine starke emotionale Bindung zu den Phantasiewesen hergestellt. Die Motivation vieler Kinder wird so gefördert. Es gibt sehr viele Übungs- und Fördermöglichkeiten und der Binnendifferenzierung im Rahmen von Freiarbeit wird eine große Bedeutung beigemessen. Auf die kritischen Stellen (die für alle Kinder, nicht nur die sprachbehinderten, gelten) wird mit den regulären Lehrgangsmatera- lien aber nicht immer so explizit eingegangen. Der Entstehung von Schwierigkeiten wird nicht direkt vorgebeugt, dafür werden mit den Förderschwerpunkten viele Fördermöglich- keiten bei schon bestehenden Problemen vorgeschlagen. Diese Förderung soll dann in be- sonderen Förderstunden, wie sie im Aufbau der Grundschule auch vorgesehen sind, durchgeführt werden, was eine Ausgrenzung und Stigmatisierung der betreffenden Schüler begünstigen kann. Eine im Lehrerband dargestellte Möglichkeit, diese Nachteile zu min- dern, ist die häufige Freiarbeit. Innerhalb der Freiarbeitsphasen kann jedes Kind nach sei- nem Lerntempo vorgehen und zusätzlich individuell gefördert werden. Zahlreiche Materialien zur Differenzierung und die Förderschwerpunkte bieten hierzu Anregungen, eventuell können eigene Übungen, z.B. zur Wahrmehmungsschulung, ergänzt werden. Damit wird auch Schülern die Möglichkeit gegeben, ihre Schwächen aufzuholen, die beim gemeinsamen Vorgehen der Klasse innerhalb des Lehrgangs auftreten können. Wird diese Möglichkeit der Freiarbeit intensiv genutzt, denke ich, daß dieser Fibel-Lehrgang auch sprachbehinderten Schülern, eventuell im Gemeinsamen Unterricht, eine gute Vorausset- zung bieten kann, mögliche Probleme beim Schriftspracherwerb zu meistern.

Die Stärke des Lehrgangs ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’ liegt sicher darin, daß er sehr genau und gezielt auf die kritischen Stellen des Schriftspracherwerbs eingeht und somit schon die Entstehung von Schwierigkeiten versucht zu vermeiden. Die ganzheitliche Zu- gangsweise zur Schrift und die spezielle Reihenfolge der Buchstabeneinführung bietet v.a. Kindern mit Wahrnehmungsschwierigkeiten und phonetischen Aussprachestörungen eine gute Möglichkeit, Probleme zu mindern oder zu vermeiden. Die Stationsarbeit fördert ne- ben den (schrift-) sprachlichen Kompetenzen auch das Anweisungsverständnis, das selbst- verantwortliche Arbeiten, die Konzentration und Ausdauer und die Sozialintegration.

Zusammen mit den fächerübergreifenden Rahmenthemen und den nicht nur die direkte sprachliche Förderung betreffenden Übungsvorschlägen wird eine ganzheitliche Förderung angestrebt, die die Entwicklung von sprachbehinderten Kindern sehr gut unterstützen und positiv beeinflussen kann. Ein Problem sehe ich allerdings darin, daß die Klasse sich ge- meinsam die Buchstaben nach und nach erarbeitet und damit schwächere Schüler schnell den Anschluß verlieren können. Die dritte Phase der kreativ-praktischen und kognitiv- abstrakten Anwendung kann jedoch auch dazu genutzt werden, zusätzlich differenzierte individuelle Förderungen anzubieten.

Bei beiden Lehrgängen spielt die Bereitschaft der Lehrperson zu oft arbeitsintensiveren Unterrichtsformen wie Stationsarbeit und Freiarbeit und ihrer Fähigkeit, individuelle Schwierigkeiten des Kindes zu erkennen und gezielt zu fördern, eine große Rolle. Sind diese Bereitschaft und die entsprechenden didaktischen und methodischen Kompetenzen vorhanden, können einzelne Schwächen von Lehrgängen bezogen auf spezielle kritische Stellen oder individuelle Schwierigkeiten eines Kindes ausgeglichen werden.

Einen besonderen Anspruch an die Lehrerpersönlichkeit stellt der Ansatz Jürgen Reichens dar. Er selber betont, daß eigentlich nicht das lesedidaktische Prinzip ‘Lesen durch Schrei- ben’ das Entscheidende seines Ansatzes ist, sondern der offene Werkstattunterricht112. Da- für muß die Lehrperson viel mehr noch als bei eingeschobenen Freiarbeitsphasen oder Stationsarbeit an die Kompetenzen des Schülers glauben, ihm zugestehen, seinen Weg zum Schriftspracherwerb individuell zu gehen und v.a. viel Geduld aufbringen. Auch die Über- zeugung der Eltern für diesen ‘anderen’ Unterricht bereitet oft große Probleme. Die Lehr- person muß selber voll hinter der gesamten Konzeption stehen, also nicht nur hinter der Buchstabentabelle und dem Verschriften. Ist dies der Fall, werden den Schülern durch die weitgehende Selbstgestaltung des Lernweges, die anregenden Materialien und die vielen Wahrnehmungsübungen gute Voraussetzungen für einen gelungenen Schriftspracherwerb gegeben. Auch die schon erwähnten Erfahrungsberichte aus Schulen für Sprachbehinderte belegen dies. Therapeutische Förderung kann gut eingearbeitet werden. Da die Aufgabe des Lehrers weitgehend darin besteht, den Werkstattunterricht vorzubereiten, ist er wäh- rend des eigentlichen Unterrichts frei, zu beobachten und zu diagnostizieren, zu beraten und Hilfestellungen zu geben, um die weitere Vorbereitung der Materialien optimal auf die

Schüler abzustimmen. Nach meiner nur theoretischen Beschäftigung mit dem Ansatz stellt sich für mich allerdings die Frage, ob er speziell für sprachbehinderte Schüler genügend Anregungen zum sehr wichtigen mündlichen Sprachgebrauch liefert. Er macht auf mich den Eindruck, als ob sehr viel, wie ja auch vorgesehen zur Erlernung des Lesens und Schreibens, über die Schriftsprache läuft und die mündliche Kommunikation oft in den Hintergrund rückt. Jedoch soll gerade das Sprechen in der Schule für Sprachbehinderte gefördert werden, sowohl zur Therapie spezieller Störungsbilder aus auch v.a. zum Aufbau einer kommunikativen Kompetenz trotz Sprachbehinderung. Sicherlich hängt dies jedoch auch von der individuellen Gestaltung des Unterrichts durch die jeweilige Lehrperson ab. Alle drei vorgestellten Ansätze bieten viele Möglichkeiten zur Differenzierung hinsichtlich Lerntempo, Medien und Kontrollformen. Sie sind sprachhandlungsorientiert und möglichst anwendungsbezogen. Dem Lehrer wird durch Wegfall des klassischen Frontalunterrichts die Möglichkeit gegeben, den Unterricht und die darin agierenden Schüler zu beobachten, zu diagnostizieren, zu beraten und individuelle Hilfestellungen zu geben. Offene Unter- richtsformen, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, ermöglichen eine Orientie- rung an der Lebenswelt des Kindes, Selbstkontrolle, partnerschaftliches Arbeiten, wechselnde Sozialformen und spielerisches Lernen. Lehrende und Lernende müssen mit- einander kooperieren, Mitbestimmung und Toleranz sind gefragt. Die Neugierde und der Lernwille der Schulanfänger werden genutzt und gefördert, Spaß kommt nicht zu kurz. Diese ganzen Faktoren sind meines Erachtens wichtiger als das spezielle lesedidaktische Vorgehen. Welcher Lehrgang der geeigneteste ist, hängt von der jeweiligen Klasse und v.a. vom Lehrer ab, welche Lehrform er bevorzugt, mit welcher er sich wohl fühlt und welche er am glaubhaftesten vertreten kann. ‘Lesenlernen mit Hand und Fuß’ gibt gerade für noch nicht so erfahrene Lehrer sehr detaillierte Anwendungshinweise, die aber nur als Anregung gesehen werden sollten, ‘Lesen durch Schreiben’ ermöglicht eine völlige Umgestaltung des Anfangsunterrichts nicht nur im Sprachunterricht und vertraut völlig auf die Kompe- tenz des Schülers, selbstgesteuert lernen zu können, und die ‘Tobi-Fibel’ gibt viel Unter- stützung bei der Einführung von Freiarbeit, auch im Gemeinsamen Unterricht. Der Lehrer muß die Klasse und vor allem sich selber richtig einschätzen können und danach entscheiden, welchen Ansatz er wählt und auch, ob er eventuell eigene Wege beschreitet und verschiedene Elemente kombiniert.

5. Verwendete Literatur

- Baumgartner, Stephan / Füssenich, Iris (Hg.): Sprachtherapie mit Kindern, München 21997.

- Dümler, Reinhard: Lesen durch Schreiben. Ein Erfahrungsbericht über J. Reichens Leselehrgang in einer Diagnoseklasse; In: Die Sprachheilarbeit, 1/1989, S. 25-28. · Förderverein der Milos-Sovac-Schule (Hg.): Wir über uns, Brühl 1995. · Marx, Ulrike / Steffen, Gabriele: Begleitband zum Leselehrgang »Lesenlernen mit Hand und Fuß«, Horneburg 41995.

- Marx, Ulrike / Steffen, Gabriele: 3 Mappen Bergedorfer Kopiervorlagen, Band 98/1, 98/2 und 98/3 - Ausgabe Nord, Horneburg 1995.

- Metze, Wilfried: Tobi-Fibel. Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer, Berlin 1992. · Metze, Wilfried: Tobi-Fibel. Arbeitsheft, Berlin 1992.

- Metze, Wilfried: Tobi-Fibel. Druckschriftlehrgang, Berlin 1992. · Metze, Wilfried: Tobi-Fibel 1 + 2, Berlin 1992.

- „Lesen durch Schreiben“ in der Sonderschule: Nicht anders als in der Regelschule anwendbar; In: VBL-Bulletin 1/91, S. 11-26. [kein Autor angegeben] · Reichen, Jürgen: Lesen durch Schreiben, Heft 1-8, Zürich 31998. · Sassenroth, Martin: Schriftspracherwerb. Entwicklungsverlauf, Diagnostik und Förderung, Bern, Stuttgart, Wien, 31998.

- Sassenroth, Martin: Kinder im Schriftspracherwerb. Zur Notwendigkeit der intensiven Lernprozeßbegleitung; In: Grohnfeldt, Manfred (Hg.): Handbuch der Sprachtherapie. Sprachstörungen im sonderpädagogischen Bezugssystem, Bd. 8, Berlin 1995. · Sommer-Stumpenhorst, Norbert / Urbanek, Rüdiger: Lesen- und Schreibenlernen differenziert fördern. Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer zur Lese-Schreib-Lernkiste, Berlin 1993.

[...]


1 vgl. Sassenroth, M.; in: Grohnfeldt, M. (Hg.), 1995, S. 338 f

2 vgl. Sassenroth, M., 1998, S. 45 ff

3 Sassenroth, M., 1998, S. 47

4 Sassenroth, M., 1998, S. 48

5 Baumgartner, S./Füssenich, I. (Hg.), 1997, S. 307

6 Sassenroth, M., 1998, S. 48

7 vgl. Sassenroth, M., 1998, S. 48f

8 ebd., S. 50

9 vgl. ebd., S. 49ff

10 ebd., S. 52

11 Andresen, H., 1979, S. 46f; zi. n.: Sassenroth, M., 1998, S. 52

12 Sassenroth, M., 1998, S. 52

13 vgl. ebd., 1998, S. 54

14 Sassenroth, M., 1998, S. 55

15 ebd., S. 57

16 ebd., S. 57

17 ebd., S. 59

18 vgl. Sassenroth, ., 1998, S. 57 ff

19 ebd., S. 61

20 ebd., S. 62

21 ebd., S. 63

22 vgl. Sassenroth, M., 1998., S. 64 f

23 vgl. Sommer- Stumpenhorst, N. / Urbanek,R., 1993, S. 6-8

24 ebd., S. 5

25 ebd., S. 6

26 Sommer-Stumpenhorst, N. / Urbanek, R., 1993, S. 6

27 entnommen aus: Sommer-Stumpenhorst, N. / Urbanek, R., 1993, S. 8

28 vgl. Metze, W., 1992, S. 5-7

29 ebd., S. 5

30 ebd., S. 6

31 ebd., S. 6

32 vgl. ebd., S. 7-10

33 ebd., S. 7

34 Metze, W., 1992, S. 8

35 vgl. ebd., S. 11-13

36 ebd., S. 11

37 vgl. auch Sassenroth, M., 1998, S. 61

38 Metze, W., 1992, S. 13

39 vgl. ebd., S. 13

40 ebd., S. 13

41 vgl. ebd., S. 14-20

42 ebd., S. 15

43 Metze, W., 1992, S. 16

44 ebd., S. 17

45 ebd., 1992, S. 18

46 ebd., S. 19

47 Metze, W., 192, S. 20

48 vgl. ebd. S. 20-23

49 ebd., S. 20

50 ebd., S. 20

51 vgl. Reichen, J., 1988, Heft 1, S. 6f

52 ebd., S. 6

53 ebd., S. 7

54 vgl. ebd., S. 8 f

55 ebd., S. 8

56 Reichen, J., 1988, Heft 1, S. 8

57 ebd. S. 9

58 ebd., S. 9f

59 ebd., S. 9

60 vgl. Reichen, J., 1988, Heft 1, S. 16-21

61 ebd., S. 16

62 Reichen, J. 1988, Heft 1, S. 19

63 ebd., S. 19

64 ebd., S. 19

65 ebd., S. 20

66 ebd., S. 60

67 vgl. Marx, U. / Steffen, G., 1995, S. 18-22

68 ebd., S. 20

69 Marx, U. / Steffen, G., 1995, S. 20

70 ebd., S. 21

-, § g § und § k § erst in der

71 ebd., S. 21

72 Marx, U. / Steffen, G., 1995, S. 22

73 vgl. ebd., S. 22-30

74 ebd., S. 22

75 Marx, U. / Steffen, G., 1995, S. 30

76 ebd., S. 30

77 vgl. Metze, W., 1992, S. 28

78 ebd., S. 12

79 vgl. Metze, W., 1992, S. 19

80 ebd., S. 140

81 ebd., S. 141

82 vgl. ebd., S. 142 f

83 vgl. ebd., S. 134 f

84 vgl. Metze, W., 1992, S. 137 f

85 vgl. ebd., S. 11 f

86 vgl. Metze, W., 1992, S. 138 ff

87 vgl. ebd., S. 143 f

88 vgl. Metze, W., 1992, S. 30 ff

89 Reichen, J., 1988, Heft 1, S. 6

90 ebd., S. 21

91 vgl. Reichen, J., 1988, Heft 3, S. 7ff

92 vgl. Reichen, J., 1988, Heft 1, S. 22

93 ebd., S. 23

94 vgl. ebd., S. 24

95 vgl. ebd., S. 47

96 vgl. Reichen, J., 1988, Heft 7, S. 2 ff

97 Reichen, J., 1988, Heft 1,S. 30

98 ebd., S. 30

99 Reichen, J., 1988, S. 16

100 ebd., S. 26

101 ebd., S. 29 102 ebd., S 50

103 Reichen, J., 1988, Heft 1, S. 50

104 vgl. ebd., S. 54 ff

105 Reichen, J., 1988, Heft 1, S. 60

106 vgl. ebd., S. 60 ff

107 vgl. ebd., S. 58 f

108 vgl. Dümler, R., in: Die Sprachheilarbeit, 1/1989, S. 25-28 und Förderverein der Milos-Sovak-Schule, 1995, S. 10 f

109 Marx, U. / Steffen, G., 1995, S. 23

110 ebd., S. 25

111 vgl. Marx, U. / Steffen, G., 1995, S. 24

112 vgl. Reichen, J., 1988, S. 5

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Der Lese- und Schreiblernprozeß. Verlauf, Kritische Stellen und verschiedene Lese- und Schreiblehrgänge
Hochschule
Universität zu Köln
Veranstaltung
Seminar für Sprachbehindertenpädagogik
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
47
Katalognummer
V97529
ISBN (eBook)
9783638959810
Dateigröße
579 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Zuerst wird der "normale" Schriftspracherwerb anhand des Modells von K.B. Günther dargestellt. Anschließend werden die kritischen stellen nach Sommer-Stumpenhorst erläutert und es wird untersucht, wie die "Lehrgänge" Lesenlernen mit Hand und Fu! ß, Lesen durch Schreiben und die Tobi-Fibel auf diese kritischen Stellen eingehen und Schülern, die Probleme beim Schriftspracherwerb haben, Hilfen bieten.
Schlagworte
Lese-, Schreiblernprozeß, Verlauf, Kritische, Stellen, Lese-, Schreiblehrgänge, Seminar, Sprachbehindertenpädagogik
Arbeit zitieren
Sandra Pohl (Autor:in), 2000, Der Lese- und Schreiblernprozeß. Verlauf, Kritische Stellen und verschiedene Lese- und Schreiblehrgänge, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97529

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