Das Gesicht des Unsichtbaren. Zur Transparenz des Faktischen im Johannesevangelium


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

100 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhalt

1. Positionierung in der Forschungsgeschichte

2. Zur Transparenz der johanneischen Sprache

3. Der Lieblingsjünger

4. Das Gesicht des Unsichtbaren (Zur Christologie)

5. Du hast Worte des ewigen Lebens (Zur Soteriologie)

6. Rückblick und Ausblick

DAS GESICHT DES UNSICHTBAREN

ZUR TRANSPARENZ DES FAKTISCHEN IM JOHANNESEVANGELIUM

von Thomas Noack

1. Positionierung in der Forschungsgeschichte

1.1. Die johanneische Frage. 1.2. Kein Konsens nach 200 Jahren kritischer Johannesforschung. 1.3. Standortbestimmung im Anschluß an Tendenzen der neueren Forschung. 1.3.1. Die Verfasserfrage. 1.3.2. Der alttestamentlich-jüdische Hintergrund.

1.3.3. Die Endgestalt des Johannesevangeliums als Gegenstand der Interpretation.

1.3.4. Zur Transparenz der johanneischen Sprache (Überleitung zu Punkt 2).

1.1. Die johanneische Frage. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts schrieb Irenäus von Lyon: "Zuletzt gab Johannes, der Jünger des Herrn, der auch an seiner Brust gelegen hatte, selbst das Evangelium heraus, als er sich in Ephesus in Asien aufhielt."1 Damit war die Frage beantwortet, die seit dem 19. Jahrhundert wieder offen ist: die johanneische Frage. Sie besteht allerdings nicht nur in der Verfasserfrage, sondern weiter gefaßt in der Suche nach dem verlorenen Ort des vierten Evangeliums, das wie ein ab- gebrochener Ast in der Geschichte des Urchristentums treibt. Das Profil dieser Frage formt sich durch den Vergleich mit den Synoptikern. Wie ist die durchgehende Andersartigkeit des vierten Evangeliums und somit auch seiner Sprache zu erklären? Meine Untersuchung zur Transparenz des jo- hanneischen Christus und seiner Sprachwelt ist im Horizont der johannei- schen Frage angesiedelt.

1.2. Kein Konsens nach 200 Jahren kritischer Johannesforschung. Das 19. Jahrhundert hatte, indem es die altkirchliche Tradition vom apostolischen Ursprung des Johannesevangeliums zerstörte, das vierte Evangelium - das seitdem nicht ohne Grund so genannt wurde - vom irdischen Jesus ge- trennt. Das 20. Jahrhundert mußte eine neue Heimat suchen. Die Lösung schien mit dem Jahrhundertkommentar von Rudolf Bultmann gefunden (erschienen 1941); hier liefen die Bemühungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Arbeiten der Religionsgeschichtlichen Schule und der Literarkritik, zusammen. Doch inzwischen ist alles wieder offen2. Philipp

Vielhauer schreibt: "… das Johannesevangelium hat sich je länger desto mehr als das Rätsel des Urchristentums erwiesen."3 Eduard Schweizer: "Bei diesen 'Schmerzenskind der neutestamentlichen Wissenschaft' ist un- gefähr alles umstritten."4 Und Martin Hengel in seinem Buch über "Die johanneische Frage": "Wir wissen nach fast 200 Jahren kritischer Johannesforschung viel weniger als vor dieser Zeit, vermuten aber um so mehr."5 Die altkirchliche Tradition ist zerschlagen, ein neuer Konsens aber nicht gefunden.6

1.3. Standortbestimmung im Anschluß an Tendenzen der neueren Forschung. Die gegenwärtige "Orientierungsdiffusion"7 läßt sich nur dann überwinden, wenn das Erbe des 19. Jahrhunderts hinterfragt wird. Dazu müssten auch die philosophischen Voraussetzungen der damaligen Entscheidungen genauestens untersucht werden. Dieser Aufgabe kann ich mich hier nicht stellen. Ich vermute aber, daß die Abtrennung der jo- hanneischen Theologie vom irdischen Jesus eine Fehlbeurteilung darstellt. Die johanneische Frage wird sich nur lösen lassen, wenn die Spannung zwischen dem hohen Reflexionsgrad dieser Theologie und der Ursprüng- lichkeit ihrer Traditionen ausgehalten wird. Von daher meine ich: Johannes führt uns nicht weiter von der Geschichte weg, sondern tiefer in sie hinein. Die Gegenthese finde ich bei Schenke / Fischer formuliert: Die "Andersartigkeit des Vierten Evangeliums" gegenüber den Synoptikern scheint "eine sachliche wie zeitliche Entfernung vom Urchristentum und vom historischen Jesus anzuzeigen"8. Edwyn Clement Hoskyns war dem-

gegenüber auf der richtigen Spur, als er schrieb: "… der Verfasser [des vierten Evangeliums] hat die 'sinnenfällige' Geschichte Jesu so dargeboten, daß seine Leser in dieser Geschichte, und genau da, mit dem konfrontiert werden, was jenseits der Zeit und jenseits von sichtbarer Begegnung ist, mit dem wirklichen Worte Gottes und dem wirklichen ewigen Leben"9. Daß der Rohstoff auch des vierten Evangeliums "die 'sinnenfällige' Geschichte Jesu" ist, kann ich freilich schon aus Platzgründen hier nicht weiter darlegen. Deutlich wird aber an dieser Stelle, warum ich im Titel von Transparenz spreche. Das Material, welches das vierte Evangelium so "seltsam unirdisch"10 präsentiert, ist "Urgestein der Überlieferung" (so nannte Joachim Jeremias die Gleichnisse der synoptischen Evangelien), - aber in den Augen des Evangelisten wurde das Gestein zu Glas; nicht die bruta facta als solche bewegen sein Herz, sondern ihr göttlicher Grund, der Logos Gottes, der sich in ihnen ausspricht. Transparenz bedeutet, daß durch eine Ebene eins eine Ebene zwei durchscheint. In der neueren Forschung sehen wir Trends, die in diese Richtung weisen.

1.3.1. Die Verfasserfrage. Ich möchte das Johannesevangelium auf der Grundlage von 21,24 verstehen. Dort wird der Lieblingsjünger von seiner Gemeinde - denn ein pluralis majestatis ist unwahrscheinlich - als Garant der Traditionen und Verfasser des Evangeliums bezeugt11 , welches sie

unter der Überschrift "Evangelium nach Johannes" hernach veröffentlichte und in Umlauf brachte. Ein wirklich zwingend gegen diese Ansicht spre- chendes Faktum ist mir nicht begegnet. Es scheint eher so zu sein, daß sich die Richtigkeit von 21,24 weder beweisen noch widerlegen läßt. Die zu- mindest in der deutschsprachigen Forschung12 vorherrschende Abneigung gegen den (anonymen) Lieblingsjünger als Verfasser scheint mir in den aus dem 19. Jahrhundert geerbten Voraussetzungen zu wurzeln. Da sich jedoch die Johannesforschung den oben angeführten Stimmen zufolge in einer Art Sackgasse befindet, könnte eine Lösung des Problems darin be- stehen, mutig den Rückweg anzutreten, denn der einzige Ausweg aus einer Sackgasse ist der Rückweg. Gleichwohl muß ich in der Verfasserfrage zu keiner eng umzirkelten Antwort kommen, denn mein Anliegen, die Trans- parenz des Geschichtlichen zu untersuchen, läßt sich so lange verfolgen, wie davon ausgegangen werden kann, daß authentische Jesustraditionen wie auch immer in das vierte Evangelium eingeflossen sind.

Manche Exegeten werten 21,24 als "Selbstzeugnis des Evangeliums"13 ab. Um ein Selbstzeugnis handelt es sich jedoch nicht, denn der Lieblings- jünger stellt sich gerade nicht selbst das Zeugnis aus, der Verfasser des Evangeliums zu sein. Diese Beobachtung ist mit den Worten Jesu in 5,31; 8,13.17 in Verbindung zu bringen, wonach Selbstzeugnisse keine

Gültigkeit beanspruchen können. Der Lieblingsjünger widerspricht dem- nach nicht seinem Herrn; stattdessen bezeugt seine Gemeinde diesen Jünger als Verfasser. 21,24 ist also ein Fremdzeugnis, und als solches soll es den Geltungsanspruch der Aussage erhöhen.

Der Lieblingsjünger wird im Johannesevangelium nie mit Namen genannt. Die Identifikation mit dem Zebedaiden Johannes bleibt zwar möglich (siehe 21,2 und die redaktionelle Überschrift), ist aber aus dem Evangelium selbst nicht ableitbar und überhaupt ist das Identifikationsproblem nicht das des Johannesevangeliums. Sicher scheint mir nur zu sein, daß der Lieblingsjünger im Horizont des Evangeliums nicht eine symbolische Idealgestalt14 , sondern tatsächlich eine geschichtli- che Person ist. Dafür sprechen vier Beobachtungen. Erstens: die Sterblichkeit des Jüngers (21,20-23). Zweitens: das Verfasserzeugnis der johanneischen Gemeinde (21,24). Drittens: das Verhältnis des Lieblingsjüngers zum sicherlich nicht rein symbolisch verstandenen Petrus.15 Viertens: Die Idealisierung des Geschichtlichen ist ein durchge- hendes Kennzeichen des vierten Evangeliums und spricht folglich nicht gegen die Historizität der Personen. Denn auch der irdische Jesus, dessen Existenz niemand bestreiten wird, wird im Johannesevangeliums ideali- siert, das heißt im Sinne der hohen Christologie profiliert.

Die Forschung favorisiert gegenwärtig die an sich nicht neue These, das vierte Evangelium, wie überhaupt die johanneische Literatur, entstamme einer Schule16 . Daß es johanneische Gemeinden (ein johanneisch geprägtes Christentum) gab, ist eine gut begründete Annahme; man beachte nur das "Wir" dieser Gemeinden in 1,14; 21,24 und die Tatsache, daß Briefe aus- getauscht wurden17 . Die Vorteile dieses Modells bestehen meines Erachtens darin, daß man mit eigenen Jesustraditionen rechnen kann, die auf den Lieblingsjünger als den Gründer der johanneischen Schule zu- rückgehen, und das vierte Evangelium zugleich als Ergebnis eines Interpretationsprozesses betrachten kann. Man kann also die oben genannte Spannung zwischen Theologie und Geschichte aushalten und bewältigen.

Außerdem werden die stilkritischen Untersuchungen berücksichtigt, wie sie von Eduard Schweizer schon 1939, von Eugen Ruckstuhl 1951 und zu- sammen mit seinem Schüler Peter Dschulnigg noch einmal 1991 vorgelegt wurden. Aufgrund dieses inzwischen sehr verfeinerten Verfahrens stellen Ruckstuhl / Dschulnigg fest: "Alle Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchung … weisen auf einen einzigen die Sprache des vierten Ev. gestaltenden und prägenden Verfasser hin. Der Schluß auf diesen einzigen Urheber und Gestalter unseres Ev. und seiner Sprache ist die wahrschein- lichste und naheliegendste aller möglichen Annahmen."18 Dieses Ergebnis wird modifiziert im Sinne eines Soziolekts (Gruppensprache) aufgegrif- fen19 . Die neuere Forschung geht also in gewisser Hinsicht wieder von ei- ner einheitlichen Verfasserpersönlichkeit aus, die allerdings nicht indivi- dueller (Lieblingsjünger), sondern kollektiver Natur (johanneische Schule) sei. Der Schritt zu einem (individuellen) Verfasser fällt der Forschung nach wie vor schwer20 . Martin Hengel weist jedoch angesichts des "enge(n) chronologische(n) Spielraum(s)"21 auf die Möglichkeit hin, daß der Lieblingsjünger sein eigener Redaktor gewesen sein könnte: "Ist nicht der Autor, wenn er sein Werk nicht gerade in einem Zuge niederschreibt, sondern - vielleicht mehrfach - überarbeitet, vor allem anderen sein eige- ner Redaktor?"22

1.3.2. Der alttestamentlich-jüdische Hintergrund. Nachdem das Treibgut des vierten Evangeliums religionsgeschichtlich sogar mit der Gnosis in Verbindung gebracht worden ist23 (die sich allerdings erst im 2. Jahr- hundert sicher fassen läßt), mehren sich die Stimmen, die einen alttesta- mentlich-jüdischen Hintergrund annehmen24 . Immerhin ist das Alte Testament die einzige Quelle, die Johannes mit Sicherheit zitiert. Die jo- hanneische Denkwelt, in der sich Glaube und Erkenntnis (Gnosis) wech- selseitig durchdringen und befruchten, ist grundsätzlich vor diesem Hintergrund zu erklären, der freilich durch das Christusverständnis des vierten Evangelisten die eigentümlich johanneische Vertiefung oder Spiritualisierung erfahren hat.

1.3.3. Die Endgestalt des Johannesevangeliums als Gegenstand der Interpretation. Das vierte Evangelium ist eine Sammlung von Bruchstücken (oder ausgewählten Traditionen), - die aber nichtsdestowe- niger ein Ganzes bilden, vergleichbar den Steinchen eines Mosaiks, die zwar nicht fugenlos zusammenpassen, dennoch aber nicht als Steinchen, sondern als Mosaik betrachtet werden wollen.

Friedrich Schleiermacher meinte noch, das Johannesevangelium sei "aus einem Guß"25 . Und David Friedrich Strauß erblickte in ihm den "unge- nähte[n] Leibrock, von dem es uns erzählt [siehe 19,23f], um den man wohl loosen, ihn aber nicht zertrennen kann"26 . Dieser Ansicht widerspra- chen vehement die Literarkritiker des 20. Jahrhunderts, allen voran Julius

Wellhausen und Eduard Schwartz. Sie zerlegten das Evangelium zuver- sichtlich in Grund- und Quellenschriften. Inzwischen ist die Forschung vorsichtiger geworden27 . Zwar ist der Einschätzung von Hartwig Thyen zuzustimmen, wonach das Evangelium trotz der "minutiös beschriebenen Einheit der johanneischen Sprache und Gedankenwelt" "gleichwohl nicht aus einem Guß" zu sein scheint28 . Aber ebenso der Warnung von Eugen Ruckstuhl und Peter Dschulnigg: "Dennoch sollte man auf eine literarkriti- sche Rekonstruktion möglicher Vorgaben besser verzichten, sie ist ange- sichts der sprachlich bestimmenden und einschmelzenden Kraft des Verfassers viel zu unsicher"29 .

Ich schließe mich grundsätzlich der Forderung jener Forscher an, die zunächst alle Möglichkeiten ausschöpfen wollen, die Endgestalt des Johannesevangeliums zu verstehen. Zu ihnen gehört Hartwig Thyen; er will am "Postulat der Kohärenz" festhalten und verlangt dementsprechend: "Die Interpretation des Johannesevangeliums muß … auf der Ebene der Synchronie von seinem überlieferten Text ausgehen."30 Das Johannesevangeliums ist kein zufälliges Resultat blinder Wachstumsprozesse (vgl. Thyen, TRE 17, 211); es ist keinem Tell (Erdhügel aus dem Altertum) vergleichbar, an dessen Entstehung viele

Hände (Generationen) mitgearbeitet haben und dessen Endgestalt niemand beabsichtigt hat.

Die mitunter nicht nahtlosen Übergänge zwischen den Traditionsstücken des Johannesevangeliums sind mit dem Auswahlcharakter in Verbindung zu bringen, der nicht nur in der Makro-, sondern auch in der Mikrostruktur des Evangeliums zu beobachten ist31 und auf den es an ent- scheidender Stelle (20,30; 21,25) selbst hinweist. Im Evangelium sind al- lenthalben Lücken zu entdecken; wie ein gestutzter Baum steht es vor uns. Dennoch ist es ein Ganzes, dessen Stamm die Christologie und dessen Frucht das Leben (die Soteriologie) ist (siehe 20,31). Ferner sind vorösterliche Traditionen im Lichte der Auferstehung vertieft worden; der Stoff ist einer Osterrelecture unterzogen worden (deutlich beispielsweise in 2,22 erkennbar). Aber diese redaktionelle Verdichtung und Durchdringung des übriggebliebenen Stoffes steht ganz im Dienste einer großartigen Verwesentlichung des Christusglaubens. Die Brüchigkeit des Textes und die zahlreichen "Historische[n] Elemente im vierten Evangelium"32 , sind gewissermaßen die vorösterliche Erde, die dem jo- hanneischen Meisterwerk noch anhaftet, doch die Freilegung der Herrlichkeit des Gesandten, das Credo der johanneischen Gemeinde: "wir sahen seine Herrlichkeit" (1,14), überstrahlt alles.

1.3.4. Zur Transparenz der johanneischen Sprache (Überleitung zu Punkt 2). In der jüngeren Literaturwissenschaft und der Philosophie ist eine Rehabilitierung der Metaphorik im Gange, von der die Exegese nur profi- tieren kann.33 Da das symbolische Potential des vierten Evangeliums im Zentrum meiner Betrachtungen steht, verlasse ich an dieser Stelle die Vorüberlegungen zur geschichtlichen Einordnung und wende mich der Transparenz der johanneischen Sprache zu. Dieser Begriff kann jedoch nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn zuvor der Gegenstand jener

- 150. K. Kundsin, Topologische Überlieferungsstoffe im Johannesevangelium, FRLANT 39, 1925.

R. D. Potter, Topography and Archaeology in the Fourth Gospel, Studia Evangelica I, TU 73, 1959,

329 - 337. C. H. Dodd, Historical Tradition in the Fourth Gospel, 1963. Gerhard Kroll, Auf den Spuren Jesu, 1990. J. A. T. Robinson, Wann entstand das Neue Testament?, 1986, 265 - 322. Ders., Johannes - Das Evangelium der Ursprünge, 1999. Hier ist auch weitere englischsprachige Literatur zu finden: ebd., 56, Anmerkung 84.

Lektüre bestimmt worden ist, die willens ist, den im Außensinn durchtö- nenden Innensinn wahrzunehmen, - und dieser Gegenstand ist die Endgestalt des Evangeliums (siehe 1.3.3.), in der ausgewählte Jesustraditionen (siehe 1.3.1., 1.3.2.) so sinnvertiefend dargeboten werden, daß in ihnen sogar der uranfängliche Logos aufscheint. Um dieser unter dem Stichwort "Transparenz" zusammengefaßten Grundüberzeugung wil- len, waren die Vorüberlegungen notwendig, die gleichwohl nur eine Skizze sein konnten. Daß man sehenden Auges an der Gottesherrlichkeit Jesu beharrlich vorbeischauen kann, stellt der Evangelist selbst in seinem Schlußurteil (12,37-43) fest. Daher schrieb er im Gegenzug für seine Gemeinde das Zeugnis des Geliebten, der im Faktischen - genau dort - den intimen Sinn pochern hörte und daher fähig war, diesem Evangelium den Herzton Jesu einzuverleiben.

2. Zur Transparenz der johanneischen Sprache

2.1. Beispiel Kreuzigung - Was sieht das johanneische Auge? 2.2. Die symbolische Lektüre nach Paul Ricoeur und Jean Zumstein. 2.3. Die Transparenz des johanneischen Jesus und ihr Fortwirken in der Transparenz der johanneischen Sprache. 2.4. Der jo- hanneische Dualismus. 2.5. Die Elemente des impliziten Kommentars (Culpepper).

2.5.1. Mißverständnis. 2.5.2. Ironie. 2.5.3. Symbolik. 2.6. Die Zeichen oder die Transparenz der Wunder.

2.1. Beispiel Kreuzigung - Was sieht das johanneische Auge? Die Kreuzigung gehört zu den gesicherten Fakten der Biographie des irdischen Jesus. Der Mann aus Nazareth wurde wirklich gekreuzigt, niemand zwei- felt daran34 . Daher soll diese Hinrichtung einleitend den Umgang des Evangelisten mit dem Faktischen illustrieren. Denn interessant ist, was das johanneische Auge in dieser sinnenfälligen, geschichtlichen Tatsache erblickte. Den Aspekt der Erhöhung! Jedermann konnte sehen, daß Jesus mit dem Querbalken in die Höhe gehoben wurde. Aber nur dem Lieblingsjünger wurde dieser Gesichtspunkt der Kreuzigung bedeutsam und damit die Historie transparent. Hier wird deutlich, wie aus Geschichte johanneische Theologie entspringt, wie das Eine mit dem Anderen ver- bunden und doch durch einen qualitativen Sprung der Wahrnehmung ge- trennt ist.35 Wo Kreuzigung als Erhöhung gesehen wird, erscheinen andere

Bezugssysteme, nämlich der Dualismus, die Aufnahme Jesu in den Raum des Göttlichen (Verherrlichung) und die Aufrichtung seines Königtums (Gottesherrschaft). Die Andersartigkeit des vierten Evangeliums ist also kein Indiz für die Entfernung vom historischen Geschehen. Diese Kategorie verfehlt das Proprium des Johannesevangeliums. Nicht um Entfernung geht es, sondern um Vertiefung. Auch der vierte Evangelist verarbeitet authentische Jesustraditionen, doch sein Interesse gilt nicht so sehr dem Irdischen, sondern dem Himmlischen, das in den Facetten seines Evangeliums funkelt wie Licht in einem Diamanten. Um dieses Lichtfeuers willen wurde der Rohstein geschliffen, wobei eckige, klar ab- grenzbare Flächen entstanden (Bruchstellen). Doch sie werden mich nicht beschäftigen, denn mich fasziniert das Spiel mit dem Licht. Zuvor jedoch eine methodische Besinnung, denn den Boden (den Text) unter den Füßen will ich bei diesem exegetischen Spiel selbstverständlich nicht verlieren.

2.2. Die symbolische Lektüre nach Paul Ricoeur und Jean Zumstein. Daß im Johannesevangelium zwei Sinnschichten zu beobachten sind, wird in neuerer Zeit unter anderem von Forschern gesehen, die der narrativen Analyse zuneigen.36 So ist Jean Zumstein der Auffassung, "dass sich der aufmerksame Leser nicht beim unmittelbaren Textsinn aufhalten soll, son- dern dazu aufgefordert ist, den zweiten Sinn des Textes zu entdecken."37

Zu beachten sei "das symbolische Potential des Textes"38 und "die symbo- lische Sprache …, die das ganze Evangelium durchziehen wird"39 .

Das philosophische Rückgrat dieser Sichtweise ist Paul Ricoeurs Definition des Symbols. Es ist nach Ricoeur, "dort vorhanden, wo die Sprache Zeichen verschiedenen Grades produziert, in denen der Sinn sich nicht damit begnügt, etwas zu bezeichnen, sondern einen anderen Sinn be- zeichnet, der nur in und mittels seiner Ausrichtung zu erreichen ist."40 "Ich möchte sagen, daß es dort Symbole gibt, wo der linguistische Ausdruck aufgrund seines Doppelsinns oder seines vielfachen Sinns zu ei- ner Interpretationsarbeit Anlaß gibt. Diese Arbeit wird angeregt durch eine intentionale Struktur, die nicht im Verhältnis von Sinn und Sache besteht, sondern in einer Architektur des Sinns, in einem Verhältnis von Sinn und Sinn, von zweitem und ersten Sinn, ob es sich nun um ein Analogie- verhältnis handelt oder nicht, ob der erste Sinn den zweiten verschleiert oder enthüllt."41 Der "analogische Sinn, der existentielle Sinn" ist "nur in- nerhalb und mittels des wörtlichen Sinns gegeben"42 .

Dieses Symbolverständnis wertet Jean Zumstein in vierfacher Weise aus. Ich schließe mich diesen Forderungen und Hinweisen an und fasse sie deswegen an dieser Stelle teils zitierend, teils mit eigenen Worten zusam- men. 1. "Zum ersten gilt, dass sich der zweite Sinn nur durch den ersten Sinn entdecken läßt; er ist im und durch den ersten Sinn intendiert."43 Der erste Sinn terminiert den zweiten und bietet bei sorgfältiger Lektüre zugleich genügend Anlässe, den zweiten Sinn in den Strukturen des ersten zu entdecken. 2. Bei der Suche nach dem zweiten Sinn ist der nähere und der weitere Kontext zu berücksichtigen. Das ist "das sinnvoll durchge- führte Spiel der Intertextualität"44 . 3. Der zweite Sinn ist immer auch eine Schöpfung des Interpreten. Da der erste Sinn die Exegese terminiert, er- öffnet er zugleich einen Raum, den Interpretationsspielraum. In diese um- grenzte Freiheit wird der Interpret sich selbst im Sinne Hans Georg Gadamers einbringen, nach ihm "gehört" der Leser notwendig "mit zu dem Text, den er versteht". Den Leser, der "einfach liest, was dasteht", gibt es nicht45 . 4. Das Johannesevangeliums setzt eine Leserschaft voraus,

"die mit dem Erzähler vertraut ist, dessen Intention kennt seine Anspielungen wahrnimmt und die Einzelheiten der Erzählung in deren Beziehung zur Gesamterzählung zu interpretieren weiss."46

2.3. Die Transparenz des johanneischen Jesus und ihr Fortwirken in der Transparenz der johanneischen Sprache. Die Transparenz der johannei- schen Sprache hat ihren Ursprung in der Transparenz des johanneischen Jesus. Am Ende des Prologs und somit an einer das gesamte Verständnis des Evangeliums dominierenden Stelle heißt es: "Niemand hat Gott je ge- sehen; der einziggeborene Gott (aber), der im Schoße des Vaters ist, der hat (ihn uns) kundgetan." (1,18). [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (kundtun, darlegen usw.) ist das Schlußwort des Prologs und zugleich das Leitwort des anschließenden Evangeliums. In ihm tritt Jesus als die Exegese des unsichtbaren Gottes auf; das fleischgewordene Wort legt seinen Ursprung aus.47 Damit ist grundsätzlich die Transparenz des johanneischen Jesus ausgesagt; durch ihn scheint Gott hindurch. Wer ihn gesehen hat, der hat den Vater gesehen (14,9); wer ihn gehört hat, der hat den Vater gehört (7,16; 12,49; 17,8); wer an ihn glaubt, der glaubt an den Vater (12,44). Jesus tut die Werke des Vaters (5,36; 14,10), und zwar die Werke des Vaters, "der in mir wohnt" (14,10). Jesus, der Sichtbare, vergegenwärtigt den Unsichtbaren. Das ist in nuce der höhere Sinn innerhalb der faktischen Wirklichkeit Jesu, seiner Zeichen und Worte.

Der Prolog zeugt vom Vorhaben, das Phänomen Jesus auf seinen absoluten Anfang hin zu befragen. Die Frage nach der Herkunft ist an sich kein Spezifikum des Johannesevangeliums. Das Matthäusevangelium überliefert die [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (Mt 1,1.18) Jesu in Gestalt einer Genealogie (1,1-17) und ei- nes Kindheitsevangeliums (1,18-2,23). Das Lukasevangelium stellt sich

dieser Frage in den Diptychen der Ankündigungen und Geburten von Johannes dem Täufer und Jesus (Lk 1-2). Und das Markusevangelium be- ginnt mit [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (Mk 1,1) und erblickt diesen Anfang in den Geschehnissen vor der Verkündigung des Evangeliums (Mk 1,1-13).48 Das Besondere der johanneischen Suche nach dem Ursprung besteht darin, daß sich der vierte Evangelist nicht mit der Geschichte begnügt, die dem öffentlichen Wirken Jesu vorangegangen ist, sondern durchdringender als die Synoptiker den Urgrund des Jesusgeschehens vor aller Geschichte, vor der Schöpfung der Welt (1,1-2), im Logos erblickt. An diesem Sprechen Gottes interessiert offenbar die schöpferische Potenz (1,3); daher besteht die Transparenz des johanneischen Jesus des näheren darin, daß der in ihm anwesende Gott als Schöpfer da ist, und zwar als Schöpfer des Lebens (daher 1,4) durch die neue Geburt (1,13; Joh 3). Jesus ist die Fortsetzung der Schöpfung in der Sphäre des Fleisches.

Die im Prolog angelegte Christologie zog ebenso unausweichlich ihre Kreise auf der Oberfläche (Sprachgestalt) des vierten Evangeliums wie ein Stein, der ins Wasser fällt. Die Christologie war der Urknall, der den Kosmos des vierten Evangeliums erschuf und ihm seine zeichenhafte, seine logoshafte Qualität einhauchte. Der Dualismus zwischen sichtbar und unsichtbar in der Gestalt Jesu, wiederholt sich in seinen Worten und Taten darin, daß im Sagbaren allenthalben etwas Unsagbares spürbar anwesend ist.

2.4. Der johanneische Dualismus. Zum Symbol gehört die Vorstellung ei- ner Zweiheit49 . Paul Ricoeur sprach (siehe 2.2.) von einem ersten und ei- nem zweiten Sinn. Zahlreiche weitere Versuche, diese Zweiheit zu benen- nen, existieren50 . Im Raum des Johannesevangeliums ist die Transparenz des ersten Sinnes für einen zweiten mit dem johanneischen Dualismus in Verbindung zu bringen, der eine hermeneutische Konsequenz hat.

Zunächst ist festzuhalten, daß es zwei Bereiche gibt. Jesus ist von oben ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]), seine Gegner sind von unten ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] 8,23). Es gibt das Irdische ( [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ) und das Himmlische ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] 3,12). "Wer von oben ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ) her kommt, der ist über allem; wer von der Erde ist, ist von der Erde und redet von der Erde her. Wer vom Himmel kommt, der ist über allem." (3,31). Hier ist "oben" mit "Himmel" gleichgesetzt, außerdem ist "oben" der göttliche Bereich (siehe 11,41).

Dem Herkommen entspricht die irdische oder himmlische Redeweise. Jesus, der das Himmlische sieht, muß es gleichwohl mit irdischen Worten aussagen, was sie zu Symbolen der himmlischen Welt macht. Die Akkusative [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] und [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] in 3,12 kann man als Akkusative der Beziehung (bei Johannes sicher in 6,10 belegt) auffassen, so daß zu übersetzen wäre: "Wenn ich (es) euch mit Bezug auf die irdi- schen Dinge sage und ihr glaubt nicht, wie werdet ihr glauben, wenn ich (es) euch mit Bezug auf die himmlischen Dinge sage?"51 Im Kontext des Nikodemusgesprächs ist diese Bemerkung auf die Rede von einer neuen Geburt zu beziehen. Jesus verwendet einen Begriff aus der Erfahrungswelt des Irdischen; er redet "mit Bezug auf das Irdische". Zugleich ist aber of- fensichtlich, daß die irdische Geburt nicht gemeint ist. Etwas Himmlisches ist gemeint, die Ermöglichung neuen Lebens, wobei allerdings auch hier zu beachten ist, daß Leben nicht das biologische Leben und womöglich dessen endlose Dauer meint. Das Irdische will nicht irdisch verstanden werden, die Worte des johanneischen Jesus sind wie Spiegel, in denen es mehr zu entdecken gibt als nur das Spiegelglas. So gesehen enthält 3,12 einen hermeneutischen Schlüssel zur Sprechweise Jesu, von der ja schon in 3,8 die Rede war, und in 3,11 beteuert Jesus, daß seiner scheinbar so un- verständlichen Rede ein klar gesehener Sachverhalt zugrunde liegt. Doch coram mundo läßt er sich nur irdisch aussagen. Die johanneische Sprachkunst besteht freilich darin, diesem Irdischen einen überirdischen (himmlischen) Glanz verliehen zu haben, so daß die Frage nach dem

Ursprung dieser Herrlichkeit sinnvoll bleibt, weil sie nämlich einen Anhaltspunkt auf der Ebene des Textes hat.

Geht man ernsthaft davon aus, daß der zweite Sinn an sich unsagbar ist - unsagbar vor einer Zuhörerschaft, welche die neue Geburt nicht erfahren und das Reich Gottes nicht gesehen hat (siehe 3,3) -, dann sollte eine Exegese, die diesen Sinn dennoch anvisiert, nicht dem Fehler verfallen, ihn vollständig und erschöpfend an die Oberfläche der Worte zu heben. Der zweite Sinn ist immer nur in und mit den Gegenständen des ersten Sinnes aussagbar, wie auch das Licht nur an Objekten sichtbar wird, die es reflektieren. Licht an sich ist unsichtbar. Jede Auslegung des zweiten Sinnes bleibt immer den Objekten und Begriffen dieser Welt verhaftet. Der zweite Sinn in seiner Fülle ist so unerreichbar wie eine Asymptote, an die man sich wohl (begrifflich) annähern kann, - doch der Sprung in die Anderswelt des Christus und seiner Schüler (so verstehe ich das Wir in 3,11) ist damit nicht vollzogen, dem "Lehrer Israels" (3,10) bleibt als Gnade nur die Wahrnehmung der Differenz.

2.5. Die Elemente des impliziten Kommentars (Culpepper). Daß in der jo- hanneischen Sprache "overtones"52 (Obertöne) mitschwingen, meint auch

R. Alan Culpepper. In seinem Buch "Anatomy of the Fourth Gospel" (Anatomie des vierten Evangeliums) schreibt er: "In John, the reader finds that the evangelist says a great deal without actually saying it."53 Die Spannung zwischen sichtbar und unsichtbar in der Person Jesu (1,18) wie- derholt sich in seiner Rede in der Spannung zwischen sagbar und unsag- bar. Das ungesagt Gesagte, die - wie Culpepper auch formuliert - "subter- ranean frequencies"54 (unterirdischen Frequenzen) sind in drei literari- schen Gattungen hörbar, nämlich den "misunderstandings" (Mißverständnissen), der "irony" (Ironie) und im "symbolism" (Symbolis- mus).

2.5.1. Mißverständnis. Ein Beispiel für ein Mißverständnis ist 2,19-21. Jesus treibt oder peitscht die Verkäufer und Geldwechsler aus dem Tempel (2,14f); mit dem Taubenverkäufern geht er etwas schonender um, doch werden auch sie unmißverständlich aufgefordert, ihre Tätigkeit zu beenden (2,16). Die Schlußbemerkung - "macht das Haus meines Vaters nicht zu einem Kaufhaus!" (2,16) - zeigt, daß sich der Kult Gottes und der des Geldes nicht vertragen (siehe in der synoptischen Tradition Mt 6,24). Das

Verb "austreiben ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] 2,15)" begegnet bei den Synoptikern auch im Zusammenhang der Dämonenaustreibungen und bei Johannes in 12,31, wo der Herrscher dieser Welt ausgetrieben wird und anschließend (12,32) die Gemeinschaft mit Gott aufleuchtet. Der Gewaltakt Jesu wird oft (Tempel)Reinigung genannt, wobei jedoch zu beachten ist, daß "reinigen" in 2,13-22 nicht vorkommt.

Die Juden fragen nach einem Zeichen der Bevollmächtigung für dieses Tun. Daraufhin gibt Jesus die Antwort: "Löst diesen Tempel auf, und in drei Tagen werde ich ihn (wieder) aufrichten." (2,19). Das Mißverständnis ist durch den Doppelsinn von "dieser Tempel" bedingt. Die Juden sehen darin den Herodianischen Tempel (2,20); Jesus hat jedoch "den Tempel seines Leibes" (2,21)55 und seine Auferstehung ("in drei Tagen" 2,20) im Auge. Darauf deutet auch das Verb "aufrichten" ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] in 2,20.22), das Christi Auferstehung von den Toten bezeichnet. Weitere Obertöne werden hörbar, wenn man in der Konkordanz unter "lösen" ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] 2,19) nach- schaut. Im Johannesevangelium ist damit auffallend oft das Thema der Auflösung oder Nicht-Auflösung der Gebote (Sabbatgebot 5,18), des Gesetzes (7,23) oder der Schrift (10,35) verbunden.56 Hebt die Auf- erstehung (= das Evangelium) das Gesetz auf oder setzt sie dieses auf neue Weise in Kraft (vgl. das "neue Gebot" in 13,34)? Zu den noch feineren Obertönen mag ferner gehören, daß Lazarus noch gebunden aus seinem Grab kam und erst durch Jesus - "Löst ihn und lasst ihn fortgehen!" (12,44) - aus diesem Zustand erlöst wurde. Jesus hingegen, der auch durch den Tod gebunden wurde (vgl. [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] in 11,44 mit Bezug auf Lazarus und in 19,40 mit Bezug auf Jesus), kann sich aus eigener Kraft aus dieser kalten Umarmung lösen (beachte das Motiv der Leichenbinden in 19,40; 20,5-7). Über dem Grundton von 2,19 werden also zahlreiche Obertöne hörbar, de- ren Klangmuster jedoch kaum zu entziffern sind, - zunächst führt uns noch die Wortkonkordanz, dann die Sinnkonkordanz und schließlich wohl nur noch das Gefühl weiter, die Konkordanz des Herzen, die intime

Übereinstimmung mit dem namenlosen Evangelisten. Auf diese Hermeneutik der Liebe (bzw. des Lieblingsjüngers) werde ich im folgen- den Kapitel eingehen.

Die johanneischen Mißverständnisse bestehen nach Culpepper aus drei Elementen. "(1) Jesus makes a statement which is ambiguous, metaphori- cal, or contains a double-entendre; (2) his dialogue partner responds either in terms of the literal meaning of Jesus' statement or by a question or pro- test which shows that he or she has missed the higher meaning of Jesus' words; (3) in most instances an explanation is then offered by Jesus or (less frequently) the narrator."57 Und Jürgen Becker charakterisiert sie so: "In den joh[anneischen] Dialogen begegnen häufig Mißverständnisse, die nach einem ganz bestimmten Schema funktionieren. Dabei hat ein Wort zwei Bedeutungen. Das Mißverständnis basiert auf dem irdischen Sinn, während die göttliche Bedeutung den eigentlichen Sinn erschließt."58

2.5.2. Ironie. Transparenz wird im Johannesevangelium auch durch Ironie erreicht, denn sie kann stets vom Leser als solche erkannt und durchschaut werden, er ist nie ihr Opfer, sondern, sofern er will, immer ihr Nutznießer. R. Alan Culpepper schreibt: "The reader is invited by the irony to leap to the higher level and share the perspective of the implied author."59

Der Prozeß Jesu vor Pilatus (18,28-19,16) ist ein schönes Beispiel jo- hanneischer Ironie. Die Juden führen Jesus in das Prätorium, sie selbst aber bleiben draußen stehen, "um [so ihre Absicht] nicht unrein zu wer- den, sondern um das Passa essen zu können." (18,28). Schon hier ist Ironie spürbar, denn erstens ist der durch die Auslieferung Jesu (18,30) dokumentierte Unglaube Sünde (16,9), die Juden verunreinigen sich also, und zweitens können sie, indem sie Jesus verwerfen, das Fleisch des wah- ren Passalamms (19,36) nicht essen. Sie erreichen also ironischerweise ge- nau das Gegenteil ihrer Absicht und stehen nun ihrerseits, weil sie das Prä-

torium nicht betreten wollen, unverhofft vor dem (noch leeren) Richter- stuhl. Diese räumliche Aufteilung - die Juden vor dem Prätorium, Jesus (vorerst noch) im Prätorium - wird wichtig werden.60

Angeklagt wird das Königtum der Wahrheit (der Herrschaftsanspruch der Gotteswahrheit). Daß König bzw. Königtum Leitthemen sind, geht schon aus der Häufigkeit des Vorkommens dieser Begriffe hervor, siehe 18,33.36.37.39; 19,3.12.14.15; hinzu kommen die Dornenkrone (19,2.5) und der Purpurmantel (19,2.5). Daß es um das Königtum der Wahrheit geht, ist aus 18,37 ersichtlich, wo der johanneische Jesus sagt: "Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme." Dazu ist hier zweierlei zu bemerken. Erstens, "Zeuge sein" ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) ist ein Wort, das zum Gerichtskontext gehört. Ironischerweise bezeugt ausgerechnet der Angeklagte die Wahrheit, wäh- rend die richterliche Instanz, Pilatus, ihr Unvermögen in Sachen Wahrheitsfindung offen ausspricht ("Was ist Wahrheit? 18,38). Zweitens ist mit Wahrheit im Johannesevangeliums die Befreiung verbunden (siehe 8,32). Die Ironie besteht also darin, daß sich die Juden zum Fest der Befreiung aus Ägypten gegen die befreiende Wahrheit entscheiden.

Die Gerichtsverhandlung Jesu (im doppelten Sinne des Genitivs)61 erreicht ihren Höhepunkt, als Jesus aus dem Prätorium geführt wird (19,13a). Der unmittelbar folgende Teilvers (19,13b) "und er setzte (sich) auf den Richterstuhl" kann intransitiv, "er [Pilatus] setzte sich …", oder transitiv, "er [Pilatus] setzte ihn [Jesus] …", oder sogar intransitiv mit einem Subjektwechsel, "er [Jesus] setzte sich …", verstanden werden.62 Die Ironie ist unüberbietbar! Der Angeklagte sitzt auf dem Richterstuhl, die Ankläger stehen buchstäblich vor ihrem eschatologischen Richter und sprechen sich selbst das Urteil: "Wir haben keinen König außer dem Kaiser!" (19,15). Damit ist das Gericht zu Ende, das Gottesvolk hat Gott verleugnet, - am Kreuz wird die neue Gemeinde entstehen (19,25-27).63 Das Gericht hat sich so vollzogen, wie Jesus es angekündigt hat, als

Selbstgericht coram Deo. Die Sendung des Sohnes geschah nicht zum Gericht, sondern zur Rettung (3,17; 12,47); zugleich aber provozierte sie die Antworten des Glaubens und des Unglaubens und wurde somit den Ungläubigen zum Gericht. Denn das ist das Gericht: "Das Licht ist in die Welt gekommen, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse." (3,19). Die Vorliebe für die Finsternis aus der heimlichen Bosheit des Herzens offenbarte sich scho- nungslos damals, am Karfreitag. Der dornengekrönte König wurde zum Zeichen dafür, daß die Wahrheit in der Welt als Anmaßung, ja als Verbrechen angesehen wird, die Kreuzigung war dementsprechend die Zeichenhandlung des letzten Propheten (6,14; 7,40). Und die Ironie des Todes war die Auferstehung.

2.5.3. Symbolik. Die Symbolik des vierten Evangeliums wird mich in den folgenden Kapiteln beschäftigen, wo es um den Lieblingsjünger, die Christologie und die Soteriologie gehen wird.

2.6. Die Zeichen oder die Transparenz der Wunder."Zeichen" ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]), so nennt das Johannesevangelium die Wunder Jesu. Diese Begriffswahl und der Umstand, daß bei den Synoptikern der Ausdruck "Machttat" ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) üblich ist, der im Johannesevangelium überhaupt nicht vor- kommt, lassen vermuten, daß das Logosevangelium die Semantik des Wunderbaren64 lesen will. Das Staunen ist nicht die Endstation des Verstehens, der vordergründige Nutzen der Wunder (6,26) nicht ihr ei- gentlicher Sinn, die beeindruckenden Krafttaten Jesu sind Buchstaben und Schriftzeichen des Logos. Daß Jesu Tun für einen tieferen (göttlichen) Sinn transparent ist, mag die Frage im Anschluß an die Fußwaschung nahelegen: "Erkennt ihr, was ich an euch getan habe?" (13,12). Die Fußwaschung wird zwar nicht zu den Zeichen gezählt, aber die hier offen ausgesprochene Struktur zeigt sich auch in Jesu Zeichen, beispielsweise in der Heilung des Blindgeborenen, bei der es erkennbar nicht nur um das natürliche Augenlicht geht, man achte nur auf das Thema Licht und Finsternis und das Schlußurteil des Evangelisten: "Er hat ihre Augen blind gemacht" (12,40; Jes 6,10). Auch für die Wunder gilt: Johannes führt uns nicht weiter von ihnen weg, sondern tiefer in sie hinein, - und dadurch werden sie zu Zeichen.

In ihnen wiederholt sich das auch in der Christologie beobachtbare Bei- sammensein von sichtbar und unsichtbar,65 wobei unsichtbar (nämlich den Augen des Leibes) gleichbedeutend ist mit den-Augen-des-Glaubens-sicht- bar. Denn Glauben und Erkennen sind im Johannesevangelium austausch- bar (6,69; 14,9-10; 17,8). Jesus ist das Licht, glauben an den Sohn oder Gesandten (3,36; 6,29) ist daher glauben an das Licht (12,36), und jeder, der sich von diesem Licht die Augen öffnen läßt, wird zu einem "Sohn des Lichtes" (12,36), zu einem Erkennenden im Lichte der Sonne, deren Gesandter eben das Licht ist. Die Erkenntnis des Glaubens ist allerdings keine angelernte oder rein intellektuell herstellbare, sondern die Frucht des Gehorsams gegenüber dem Wort, das Jesus im Grunde genommen selbst ist (7,17; 8,31f; 14,21). Wo die einen also staunend, zufrieden oder verär- gert vor dem Wunder stehen, betritt der Glaubende dessen göttliches Geheimnis.

Daß die Zeichen eine sichtbare Seite haben ist offensichtlich, denn man kann sie sehen (2,23; 4,48; 6,2.14.26.30; beachte auch "zeigen" in 2,18), Zeichen sind Taten, ständig ist "Zeichen" mit "tun" verbunden (2,11.23; 3,2; 4,54; 6,2.14.30; 7,31; 9,16; 10,41; 11,47; 12,18.37; 20,30),66 und

Taten sind nach außen hin sichtbar. Darüber hinaus haben sie aber auch eine nur den Augen des Glaubens sichtbare Seite. Sie zeigt sich schon daran, daß "Zeichen" und "glauben" oft zusammen genannt werden (2,11.23; 4,48; 6,30; 7,31; 12,37; 20,30f). Inhaltlich geht es immer darum, anhand der Zeichen die Bedeutung der Person Jesu zu entziffern.67 Für Nikodemus steht aufgrund der Zeichen fest, daß Jesus "als Lehrer von Gott gekommen" und "Gott mit ihm ist" (3,2). Und das Volk meint ange- sichts der Speisung: "Dieser ist wahrhaftig der Prophet, der in die Welt kommen soll." (6,14), oder hält Jesus bei einer anderen Gelegenheit, aber ebenfalls unter Berufung auf seine Zeichen, für den Christus (7,31). Selbst die Ungläubigen können sich diesem hermeneutischen Horizont im Prinzip

nicht verweigern; so sind sich in 9,16 einige Pharisäer, gebunden durch ihr Sabbatverständnis, darin einig, daß dieser Jesus nicht "von Gott" ist, wo- raufhin andere einwenden, wie dann aber ein Sünder solche Zeichen tun könne. Die Glaubenssicht der Jünger, was sich ihnen erschließt, das um- rahmt im Johannesevangelium die Aussagen über die Zeichen (siehe 2,11 und 20,30f). So offenbart sich ihnen durch das Weinwunder Jesu Herrlich- keit (2,11), und die für das Johannesevangelium ausgewählten Zeichen sollen in der Gemeinde den Glauben veranlassen, "daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes" (20,30f).

An Stellen, die erwarten lassen, daß sie das Ganze des Evangeliums im Auge haben, ist von Zeichen die Rede. Nachdem dieser Begriff nur im er- sten Teil des Evangeliums vorgekommen ist (die einzige Ausnahme ist 20,30f), beginnt der Verfasser seine abschließende Beurteilung der öffent- lichen Wirksamkeit Jesu mit den Worten: "Obwohl er so viele Zeichen vor ihnen getan hatte, glaubten sie nicht an ihn" (12,37). Gerade von den außerordentlichen Werken Jesu hätte man erwarten können, daß sie seine göttliche Herkunft und Identität eindeutig ausweisen, wenn schon von den Worten diese Beweis- und Überzeugungskraft offenbar nicht ausgeht (siehe 10,37f). So avancieren also im Schlußurteil die Zeichen zum Hauptinhalt des Evangeliums. Auch die abschließende Bemerkung in 20,30f subsummiert das gesamte Evangelium unter dem Begriff des Zeichens. Man gewinnt den Eindruck, als seien sie der Kern des Evangeliums und die Worte Jesu "nur" deren verbale Übersetzung. In mehreren Fällen läßt es sich sicher zeigen, daß die Worte im Dienste der Zeichen stehen, inwieweit hier aber ein Strukturmerkmal des ganzen Evangeliums sichtbar wird, vermag ich an dieser Stelle nicht zu untersu- chen.

Auch am Anfang darf man eine Aussage über das Ganze erwarten. Die Wasser-Wein-Wandlung (2,1-11) tat Jesus als [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ("Anfang der Zeichen" 2,11), wobei [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] hier sowohl den zeitlichen ("erstes Zeichen", vgl. auch 4,54) als auch den grundsätzlichen Anfang ("Prinzip oder Urgrund der Zeichen") meint. Nachdem in 1,1-3 der Logos als Grundursache ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) der Schöpfung eingeführt wurde, wobei der Zusammenhang mit dem Sprechen Gottes in Genesis 1 unübersehbar ist, erscheint beim zweiten Vorkommen von [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ein Wandlungswunder als Grundursache der Erlösung bzw. der neuen Schöpfung. Daß die johannei- sche Soteriologie Schöpfungshandeln ist, mag schon daraus ersichtlich sein, daß das schöpferische Sprechen Gottes in Jesus am Werke ist und soll im fünften Abschnitt meiner Arbeit ausführlicher dargestellt werden. Und

daß eine Wandlung das Grundprinzip der Erlösung ist, mag der Auferstandene belegen, der wohl nicht einfach nur ein wiederbelebter Leichnam ist. Das Weinwunder ist ein Vorzeichen der Auferstehung und stellt insofern in nuce das Ganze des Evangeliums dar. Das erste Zeichen blickt auf das letzte, wobei die Auferstehung mit Blick auf 2,18f als ein Zeichen angesehen werden kann. Die Parallelen sind offensichtlich: Das Weinwunder und die Auferstehung geschahen am dritten Tag (2,1).68 Die Mutter Jesu (Symbol der Kirche) - Jesus nennt sie übrigens nie seine Mutter - erscheint nur beim Weinwunder und am Kreuz.69 Die Stunde Jesu (2,4) ist die der Kreuzigung (12,27; 17,1). Durch die Wandlung des Wassers in Wein offenbart Jesus seine Herrlichkeit, ebenso dient auch das Kreuz der Verherrlichung. Dort wird dem Geber des Hochzeitsweins Essig, saurer Wein, gereicht. So ist das erste Zeichen Alpha und Omega in einem. Die große Wandlung von einer Religion, die mit Wasser reinigt (vgl. die steinernen Wasserkrüge zur Reinigung, 2,6), zu einer solchen, die ihre Schüler zu Reben am Weinstock Christi macht, wo sie sein Blut rei- nigt, ist hier, ganz am Anfang des Wirkens Jesu, schon angedeutet und vorgebildet.

Die Zeichen können den Glauben veranlassen, erzwingen aber können sie ihn nicht. Die Ambivalenz des Sichtbaren, das sich so oder so deuten läßt, bleibt bestehen. Daher lautet wohl nicht ohne Grund die Schlußbilanz des johanneischen Jesus: "Selig, die nicht sehen und doch glauben." (20,29). Gott kam in die Welt, - aber er hatte seinen "Ausweis" vergessen. Die Identität Jesu ließ sich nicht zweifelsfrei klären, das Fundament der Kirche, ihr Fels (Petrus) konnte daher nur der Glaube, das Christusbe- kenntnis sein. Oder doch nicht? So richtig diese Antwort ist, das johannei- sche Christentum schaut tiefer und beruft sich dabei auf den Lieblingsjünger.

3. Der Lieblingsjünger

3.1. Zum Ursprung der Transparenz im vierten Evangelium. 3.2. Die Lieblings- jüngerstellen. 3.3. Der Geliebte und die Liebe im vierten Evangelium. 3.4. Die beiden Kolpos-Stellen. 3.5. Der Lieblingsjünger und Petrus oder: Zum Profil der Liebe gegen- über dem Glauben.

3.1. Zum Ursprung der Transparenz im vierten Evangelium. Die johannei- sche Gemeinde schreibt ihr Evangelium dem Lieblingsjünger zu.70 Dieses Verfasserzeugnis kann, unabhängig davon, ob es historisch zutreffend ist oder nicht, als eine Aussage über den Ursprung oder die innere Bedingung der Transparenz der johanneischen Traditionen verstanden werden. Der Lieblingsjünger dokumentiert dann als literarische Gestalt, welchem Geist, welchen Voraussetzungen sich das ihm zugeschriebene Evangelium ver- dankt, und ist somit ein Schlüssel zum vierten Evangelium. In diesem Sinne ist der Schüler der Liebe genau an dieser Stelle zu untersuchen, be- vor ich im vierten Kapitel Jesus und im fünften seine Sprache darstellen werde. Daß sie im vierten Evangelium so eigentümlich verklärt erschei- nen, verdanken sie dem verklärenden Blick der Liebe, aus dem diese Interpretation der bruta facta einer Freudenträne (vgl. Freude ausgerechnet in den Abschiedsreden) gleich entquollen ist.

3.2. Die Lieblingsjüngerstellen. Zu den Lieblingsjüngerstellen gehören die, welche diesen Jünger als den bezeichnen, den Jesus liebte, also 13,23- 25; 19,26f; 20,2-10; 21,2-8.20-24. Diese formelhafte Wendung ist in 13,23; 19,26; 21,7.20 mit [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] und in 20,2 mit [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] gebildet. Außerdem ist dieser Jünger in 18,15f und 19,35 gemeint. Daß er in 18,15f gemeint ist, legt mit Blick auf 20,2 die Bezeichnung der "andere Jünger" nahe und dessen Gemeinschaft mit Petrus.71 19,35 bezieht sich auf 19,26f,

so daß der Zeuge auch hier als der Lieblingsjünger zu gelten hat.72 Hingegen dafür, daß er auch in 1,37.40 gemeint sein könnte, scheint mir doch zu sehr der Wunsch ausschlaggebend zu sein, den Verfasser schon von Anfang an in der Nachfolge sehen zu wollen.73 Zwar wird im näheren Umfeld des namenlosen Jüngers auch Petrus genannt, doch damit ist jener noch nicht als der Lieblingsjünger identifiziert, zumal Andreas hier einen wichtigen Zug, nämlich die christologische Erkenntnis, mit diesem Jünger gemeinsam hat und dementsprechend auf Petrus einwirkt (vgl. 1,41f mit 21,7). Man könnte also auch Andreas mit dem Lieblingsjünger gleichset- zen.74 Hinzu kommt, daß der Verfasser des vierten Evangeliums offenbar eine Kenntnis des Zwölferkreises hat (6,67.70), gleichzeitig aber die Berufung von nur fünf Jüngern berichtet, was wiederum zeigt, daß der Mut zur Lücke im vierten Evangelium sehr ausgeprägt ist. Ich halte es da- her für wahrscheinlicher, daß die Berufung des Lieblingsjüngers dort nicht erzählt wird.

3.3. Der Geliebte und die Liebe im vierten Evangelium. Der Name des Jüngers wird im Evangelium nicht genannt - der Beitrag der Überschrift zur Identifikation des anonymen Jüngers soll hier nicht untersucht wer- den75 -, stattdessen wird seine gesamte Persönlichkeit, sein ganzes Wesen in der Erfahrung der Liebe verdichtet, er ist der Jünger, den Jesus liebte. Der Akkusativ drückt, möglichst allgemein formuliert, das Betroffensein von Jesu Liebe aus.

Die Vorstellungen, die mit dem Namen des namenlosen Jüngers verbunden sind, erschließen sich, wenn man die Konkordanz zu Hilfe nimmt. Demnach kommen "Lieben" ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] und [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) und "Liebe" ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) insgesamt 57 mal im Johannesevangelium vor, davon entfallen nur 12 Belege auf den ersten Teil (Joh 1-12), hingegen 45 auf den zweiten (Joh 13-21). Das Übergewicht im zweiten Teil, in dem auch alle

Lieblingsjüngerstellen zu finden sind, fällt auf und muß ausgewertet wer- den.

Im ersten Teil, der Offenbarung Jesu vor der Welt, betrifft die Liebe Gottes die Welt (3,16), allerdings nicht in ihrem Sosein, sondern als eine zu erlösende, und dann vor allem den Sohn in der Welt (3,35; 10,17; [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] in 5,20). Die Menschen hingegen (den Begriff "die Juden" vermeide ich hier) lieben Jesus nicht (3,19; 8,42), die "Liebe Gottes" ist nicht in ihnen (5,42). Die Kapitel 11 und 12 gehören noch zum ersten Teil, denn erst 12,37ff bieten ein Schlußurteil; andererseits erreicht die öffentliche Offenbarung Jesu bereits in Kapitel 10 einen Höhepunkt, indem Jesus seine Einheit mit dem Vater offen und ungeschützt ausspricht (10,30.39)76 , und der Hohe Rat beschließt, Jesus zu töten (11,53). Die Kapitel 11 und 12 können daher als Scharnier zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Johannesevangeliums angesehen werden. Ein Übergang ist auch damit gegeben, daß die Liebe Gottes im 11. Kapitel erstmals über den Sohn hinaus und durch ihn weitere Personen erreicht, nämlich Lazarus und seine Schwestern (11,5; [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] in 11,3.36).

Der Lieblingsjünger begegnet ausschließlich im zweiten Teil, der Offenbarung Jesu vor den Seinen. Einesteils ist mit diesem geliebten Jünger offenbar eine ganz bestimmte Person gemeint, andernteils aber liebte Jesus all die Seinen (13,1.34; 15,9), so daß der Name denkbar un- geeignet scheint, das Besondere eines bestimmten Jüngers eindeutig zu be- nennen. Diese Spannung löst sich auf, sobald man beachtet, was von der Liebe vor allem in den Abschiedsreden gesagt wird.

Die Liebe Jesu zu den Seinen ist nur der eine Halbkreis, der durch den an- deren, nämlich die Liebe zu Jesus, zum Vollkreis ergänzt werden soll. Jesus lieben bedeutet seine Gebote halten (14,15.21; 15,10). Diese Gleichsetzung beherrscht übrigens auch das Verhältnis Jesu gegenüber sei- nem Vater, auch der Sohn übt sich dem Vater gegenüber im Liebesgehorsam (14,31; 4,3477 ). Das Gebot, dessen Befolgung Inbegriff und Ausdruck der Liebe zu Jesus ist, besteht in der gegenseitigen Liebe (13,34; 15,12.17). Wie der Vergleich von 14,15.21 mit 14,23f zeigt, sind die Begriffe "Gebot" ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) und "Wort" ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) austauschbar. Somit besteht die Liebe zu Jesus darin, die Worte des einen Wortes, des Logos, aufzunehmen, weswegen es nicht verwundert, daß die so verstandene

Liebe zur Offenbarung der Gottesweisheit führt. Der Liebende empfängt den "Geist der Wahrheit" (14,15-17). Dem Liebenden offenbart sich der Logos (14,21 [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]), in dem sich Gott selbst ausspricht (14,24). Damit wird auch klar, warum sich Jesus nur seinen Schülern, nicht aber der Welt offenbaren kann, denn der Unterschied zwischen seiner Schülerschaft (14,23) und der Welt (14,24) besteht eben gerade in der Einstellung gegenüber den Worten Jesu, der seinerseits das Wort Gottes ist. Der Welt, die sich diesem Worte verweigert und verschließt, kann sich Jesus nicht offenbaren, weil das Wort als Gebot kein Teil ihres Willens und Lebens wird, nicht in sie eindringt und somit die Finsternis der Welt nicht überwinden kann. Seinen Freunden hingegen hat Jesus alles offen- bart ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]), was er von seinem Vater gehört hat (15,15). Die Liebe zu Jesus mündet demnach folgerichtig in eine Offenbarung ein.

[...]


1 Adv. haer. 3,1,1 = Eus. h. e. 5,8,4.

2 Von Bultmanns literarkritischen Prämissen fand die Annahme einer Redenquelle von Anfang an wenig Zustimmung und auch die zahlreichen Umstellungen stießen auf Skepsis und Ablehnung. Die Zeichenquelle und der Gedanke einer kirchlichen Redaktion wurden hingegen zunächst noch weitgehend akzeptiert. Doch zwang die Preisgabe der Redenquelle die Forschung dazu, Bultmanns Konzeption zu verlassen, so daß zunehmend auch die Annahmen einer Zeichenquelle und einer kirchlichen Redaktion in Frage gestellt wurden. 1980 kam James M. Robinson mit Blick auf Bultmanns Kommentar zu dem Urteil: " Sein Kommentar stellt die Glanzleistung der ersten Hälfte des Jahrhunderts dar. R. Bultmanns imponierende Leistung ist darin großartig, daß er dialektische Theologie, existentiale Interpretation, Religionsgeschichte, Quellenkritik und Redaktionsgeschichte mit 'faszinierender Geschlossenheit' zu einer so erhabenen Einheit verschmolzen hat, daß kaum ein Kritiker mit ihm in dieser Höhe und Weite diskutieren konnte - eine glänzende Gesamtlösung …, die leider nicht stimmt." (J. M. Robinson, Vorwort zu: E. Haenchen, Johannesevangelium, 1980, V).

3 P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, 1981, 411.

4 E. Schweizer, Theologische Einleitung in das Neue Testament (GNT 2), 1989, 141.

5 M. Hengel, Die johanneische Frage, 1993, 9.

6 W. Schmithals veranschaulicht diese Situation mit dem folgenden Bild: " Die historisch-kritische Forschung hat den glanzvollen Vorhang zurückgezogen, den die altkirchliche Tradition vor die Bühne hängte, auf der sich das Werden und Wachsen der johanneischen Schriften abgespielt hatte. Es ist ihr aber nicht gelungen, das Dunkel zu erhellen, in dem sich die Bühne zeigte, nachdem der Vorhang gefallen war; sie vermochte nicht, die personae dramatis zu benennen und zu einem gefälligen Spiel zu ordnen. An Rekonstruktionen des Geschehens ist kein Mangel, aber von einem Konsens sind wir weiter als je entfernt." (Johannesevangelium und Johannesbriefe: Forschungsgeschichte und Analyse, 1992, 217). E. Käsemann: " Die kritische Forschung hat die traditionelle Meinung zerschlagen, das 4. Evangelium sei vom Apostel Johannes geschrieben worden. Sie hat uns aber keinen akzeptablen Ersatz für diese überholte Sicht geboten. Wir tappen mehr oder minder im Dunkel, wenn wir über den historischen Hintergrund des Evangeliums eine das Ganze bestimmende Auskunft geben sollen." (Jesu letzter Wille nach Johannes 17, 1971, 11f).

7 J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1-10, 1979, 28.

8 H. -M. Schenke, K. M. Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments II, Die Evangelien und die anderen neutestamentlichen Schriften, 1979, 170. R. Bultmann äußerte auf den ersten
Seiten seines Jesusbuches die Ansicht: " Das Johannesevangelium kommt als Quelle für die Verkündigung Jesu wohl überhaupt nicht in Betracht und ist deshalb in der folgenden Darstellung gar nicht berücksichtigt worden." (R. Bultmann, Jesus, 1964, 15). Gegen solche Unterbewertungen der Historizität johanneischer Traditionen schreibt E. Stauffer: " Auch heute noch gibt es Autoren, die den vierten Evangelisten in historicis einfach deshalb nicht ernst nehmen möchten, weil Joh. in wichtigen Punkten von der synoptischen Überlieferung abweicht. Das Argument ist ein wenig primitiv, denn es setzt voraus, daß die Synoptiker in allen Punkten, wo sie miteinander zusammenstimmen, historisch im Rechte seien." (E. Stauffer, Historische Elemente im vierten Evangelium, in: Bekenntnis zur Kirche, Festgabe für E. Sommerlath, 1960, 35). Und C. H. Dodd: " That there is a real difference betw een them [the Fourth Gospel and the Synoptics, TN] is a fact which has been manifest to clear-sighted readers of the gospels ever since the time when Clement wrote that 'John, observing that the bobily facts had been made ckear in the (earlier) gospels … composed a spiritual gospel'. (Euseb HE VI.14.7). But the difference was exaggerated by nineteenth-century criticism, as if the Synoptic Gospels were entirely 'somatic' and John nothing but 'pneumatic'; as if, in other words, the Synoptics gave us nothing but plain, brute facts of history and John nothing but abstract theology in symbolic guise." (C. H. Dodd, Historical Tradition in the Fourth Gospel, 1963, 4f).

9 E. C. Hoskyns, zitiert in ThR 23 (1955) 328. Zu einem im Ergebnis ähnlichen Urteil gelangt O. Cullmann: " die stumme Voraussetzung dieses Evangeliums ist, daß das historische Geschehen, wie es hier dargestellt ist, in sich selber außer dem mit den Sinnen Wahrnehmbaren den Hinweis auf weitere Heilstatsachen enthält, mit denen jene einmaligen Grundtatsachen verbunden sind." (O. Cullmann, Urchristentum und Gottesdienst, 1962, 55). L. Morris kommt im Kapitel " History and Theology" seines Kommentars zu dem Schluß: " From all this it appears that we ought not to think of John as a writer who is not at all interested in history. He is certainly a theologian, but he has a reverence for the facts. There is no real reason for thinking that he composed edifying stories and discourses that had theological meaning but bore little relationship to what actually happened." (The Gospel according to John, 1995, 40).

10 E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, 1980, 12.

11 Daß dieses Verständnis das naheliegenste ist, wird auch von Forschern bestätigt, die dessen inhaltliche Richtigkeit im übrigen verneinen. So schreibt W. Schmithals: " In Joh 21,24 heißt es unmißverständlich, daß das JohEv von einem Augenzeugen verfaßt worden sei." (Johannesevangelium und Johannesbriefe, 1992, 16). Einwände gegen die Richtigkeit können aus
dem Nachtragscharakter von Joh 21,24f bzw. des gesamten 21. Kapitels abgeleitet werden. Außerdem fehlt es nicht an Versuchen, Joh 21,24 anders zu verstehen. So gibt es den Vorschlag [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] kausativ zu verstehen (= er hat aufschreiben lassen). Danach wäre der Lieblingsjünger nicht der Autor, sondern lediglich der Gewährsmann. R. Schnackenburg spricht von einer " gewissen Tendenz" , " daß die Redaktion das Ev unter die Autorität jenes Jüngers stellen will" und vergleicht diese Zuweisungsart mit der Zuweisung der Deuteropaulinen an Paulus (Das Johannesevangelium, HThK III, 454). W. G. Kümmel behauptet eine Fehlidentifizierung des Evangelisten mit dem " Jünger" durch die Redaktion, die die auf Augenzeugenschaft bezogenen Stellen in Joh 1-20 falsch interpretiere (Einleitung in das Neue Testament, 1983, 201). Treffend scheint mir jedoch das Urteil von Th. Zahn: " Für die Streichung dieses Verses 21,24 ist bis heute nur der illegitime Wunsch, ihn loszuwerden, als Grund geltend gemacht worden." (RE IX (1901) 280). Methodisch scheint es mir richtiger zu sein, das Zeugnis der johanneischen Gemeinde anzuerkennen und zunächst alle Möglichkeiten zu erkunden, die zahlreichen Probleme des vierten Evangeliums auf dieser Grundlage zu lösen. Die direkte oder indirekte Zurückführung des Evangeliums nach Johannes auf einen Augenzeugen ist jedenfalls nach wie vor eine mögliche und gut begründbare Option: " My con- clusion is that there is good evidence that the testimony of an eyewitness underlies the Fourth Gospel. As far as I am able I have seriously considered the objections raised. It is clear that there are difficulties, whichever view we finally adopt. But the balance seems clearly in favor of the eyewitness." (L. Morris, Studies in the Fourth Gospel, 1969, 213f).

12 Die Situation in Großbritannien und Amerika beschreibt L. Morris so: " Continental scholars have for the most part long since abandoned the idea that this Gospel was written by the Apostle John, whereas in Great Britain and Amerika scholarship has been much more hospitable to the idea. Most British and American scholars have traditionally thought either that John wrote the Gospel or that he was closely associated with it in some way - for example, he may have been the witbess behind it. In recent years there has been quite a shift of opinion so that most British and American scholars, other than conservative evangelicals, would not now hold that the author was the Apostle John. A large number would still maintain that his witness is behind the Gospel, but opinion is now much more akin to that on the Continent." (The Gospel according to John, 1995, 4f).

13 So zum Beispiel W. Schmithals, Johannesevangelium und Johannesbriefe: Forschungsgeschichte und Analyse, 1992, 16; E. Lohse, Die Entstehung des Neuen Testaments, 1979, 111. Nach dieser Sichtweise ist freilich jedes Zeugnis ein Selbstzeugnis.

14 Für den Lieblingsjünger als eine fiktive Gestalt haben vor allem zwei Exegeten argumentiert. Nach Bultmann verstehe ihn der Evangelist als Symbol für das Heidenchristentum. Nach Kragerud ist er eine Symbolfigur für urchristlichen Prophetismus im Gegensatz zu Petrus, der das Gemeindeamt vertritt . Weitere Vertreter nennt W. G. Kümmel, Einleitung in das NT, 1980, 203.

15 J. Becker schreibt: " Da Petrus sicherlich im Joh nicht rein symbolisch verstanden werden kann, kann auch die ihm zugeordnete Gestalt von L nicht Symbol allein sein." (Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 11-21, 1984, 436).

16 Grundlegend ist R. A. Culpepper, The Johannine School: An Evaluation of the Johannine-School Hypothesis Based on an Investigation of the Nature of Ancient Schools (SBL.DS 26), 1975.

17 Eine übersichtliche Zusammenstellung der " Kriterien für die Existenz einer johanneischen Schule" bietet U. Schnelle, Antidoketische Christologie im Johannesevangelium: Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule, 1987, 53-59.

18 E. Ruckstuhl und P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium: die johanneischen Sprachmerkmale auf dem Hintergrund des Neuen Testaments und des zeitgenössischen hellenistischen Schrifttums, 1991, 248. Ähnlich äußert sich im Blick auf alle Evangelien Dirk Frickenschmidt: " Der heutige Stand der Forschung läßt deshalb nichts wahrscheinlicher erscheinen, als daß es sich bei den Evangelien um Schriften handelt, die von je einem frühchristlichen Autor im Vollsinn des Wortes verfaßt wurden, auch wenn viele Exegeten vor diesem inzwischen ungewohnten Gedanken immer noch zurückschrecken mögen." (D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie, 1997, 25).

19 Diesen Erklärungsversuch schließen Ruckstuhl / Dschulnigg jedoch aus: " Daß unser Joh und alle 3 Johbr. von demselben Verfasser stammen, ist vom Standpunkt ihrer gemeinsamen Theologie wie ihrer gemeinsamen Sprache der gegenteiligen Annahme verschiedener Verfasser vorzuziehen. Die letztere kommt auch ohne die zusätzliche Annahme einer joh. Schule, aus der die verschiedenen joh. Schriften hervorgegangen wären, nicht aus. Diese Vermutung könnte zwar deren gemeinsamen Vorstellungshintergrund und die Gemeinsamkeit ihrer grundlegenden theologischen Aussagen verständlich machen. Sie ist aber außerstande, die Gemeinsamkeiten ihrer Sprache und ihres Stils bis in kleinste Einzelheiten und Nebensächlichkeiten zu erklären. Eine solche durchgeformte Schulsprache gibt es unseres Wissens in der ganzen Antike nirgends." (E. Ruckstuhl und P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium: die johanneischen Sprachmerkmale auf dem Hintergrund des Neuen Testaments und des zeitgenössischen hellenistischen Schriftt ums, 1991, 246). Vgl. auch E. Ruckstuhl, Zur Antithese Ideolekt - Soziolekt im johanneischen Schriftt um: SNTU 12, 1987, 141 - 181. Wenn man für das Johannesevangelium und alle drei Johannesbriefe denselben Verfasser annimmt, dann liegt der Schluß nahe, daß der Lieblingsjünger und der im 2. und 3. Johannesbrief sprechende Presbyter identisch sind.

20 M. Hengel: " Man wagt es derzeit häufig auch kaum mehr, von einem wirklichen Autor des Evangeliums zu reden, sondern bemüht sich eher um eine Vielzahl von Redaktoren und Quellenautoren." (Die johanneische Frage, 1993, 9).

21 M. Hengel, Die johanneische Frage, 1993, 236ff.

22 M. Hengel, a.a.O., 245.

23 Schon in der alten Kirche wurde darüber gestritten, ob das Johannesevangelium gnostisch oder antignostisch zu verstehen sei. Aus neuerer Zeit sei auf den Dissens zwischen Bultmann und seinem Schüler Käsemann hingewiesen. Hatte Bultmann auf religionsgeschichtlicher Basis das Johannesevangelium antignostisch interpretiert, so entdeckte Käsemann darin einen " naiven Doketismus" und rückte es wieder in die Nähe zur Gnosis. Radikaler als Käsemann hat L. Schottroff geurteilt: " Der gnostische Dualismus bestimmt den johanneischen Entwurf der Christologie und der Soteriologie völlig. Johannes ist das erste uns ausführlicher bekannte System einer Gnosis, die sich christliche Traditionen adaptiert. Mit dem Johannesevangelium ist die gnostische Heilslehre in den Kanon gelangt." (Der Glaubende und die feindliche Welt, 1970, 295). Für H. -M. Schenke und K. M. Fischer stellt " das Vierte Evangelium ein Produkt christlicher Gnosis" (188) dar. Das Gnostische dieses Evangeliums gehört ihrer Meinung nach nicht zum Entstehungsprozess der Gnosis, " sondern ist der Stumpf einer voll entwickelten Gnosis, der man, um sie in einen christlichen Rahmen zu spannen, Wurzeln und Äste abgeschlagen hat. Das ist bekanntlich am deutlichsten daran zu sehen, daß Jesus im Vierten Evangelium immer wieder verspricht, zu offenbaren, was er beim Vater gesehen und gehört hat, ohne dies Versprechen jemals zu erfüllen." (188f). Zum Verfasser erklären Schenke / Fischer " einen prominenten christlichen Gnostiker" (193). (H.-M. Schenke, K. M. Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments II, Die Evangelien und die anderen neutestamentlichen Schriften, 1979).

24 " Nach dem kühnen und konsequenten Vorstoß Odebergs in seinem leider fragmentarisch gebliebenen Kommentar (1929) haben in jüngerer Zeit Forscher wie Meeks, Borgen, de Jonge, Barrett, de la Potterie, Olsson, Harvey, Pancaro, Martyn, Nicol, Charlesworth, Miranda, Bühner u. a. vor dem alttestamentlich-jüdischen Hintergrund des Evangeliums ganz wesentliche Interpretationsfortschritte erzielt" (H. Thyen in: TRE17 (1988) 220).

25 F. Schleiermacher, Das Leben Jesu, 1864. Zitiert nach: A. Schweitzer, Geschichte der Leben Jesu Forschung, 1933, 67.

26 D. F. Strauss, U. von Hutten, 1860, XLIV; in: W. Schmithals, Johannesevangelium und Johannesbriefe, 1992, 92.

27 Das gilt nicht nur hinsichtlich der literarkritischen Ergebnisse, sondern auch hinsichtlich der literarkritischen Methode. U. Schnelle: " Das Problem dieser an einer extensiven Literarkritik orientierten Zugänge zum 4. Evangelium liegt in der Plausibilität ihrer Voraussetzungen und der Logik ihrer Argumentation. Weder einzelne Quellenschriften (z. B. die sog. 'Semeia-Quelle') noch eine durchgehende 'Grundschrift' oder ein 'Grundevangelium' lassen sich methodisch exakt rekonstruieren. Da es keine Parallelüberlieferungen gibt, müssen ausschließlich werkimmanente Anhaltspunkte herangezogen werden. Sprachliche oder theologische Eigentümlichkeiten angeblicher 'Quellen' lassen sich aber nicht überzeugend herausarbeiten, wodurch die subjektive Einschätzung des Exegeten ein methodisch nicht mehr kontrollierbares Gewicht bekommt. Die Annahme sekundärer Überarbeitungsschichten beruht ebenfalls auf Vorentscheidungen der Exegeten, die jeweils bestimmen, was als vereinbar oder widersprüchlich zu gelten hat und wo Redaktoren am Werk waren. Diese methodologischen Insuffizienzen extensiver Literarkritik legen es nahe, den Weg redaktions- und traditionsgeschichtlicher Analysen zur Entschlüsselung der joh. Frage einzuschlagen. Auszugehen ist dabei von der Erkenntnis, daß die vorliegende literarische und theologische Gestalt des Johannesevangeliums nicht das Resultat mehr oder weniger verunglückter Redaktions- und Kombinationsarbeit ist, sondern unmittelbarer Ausdruck eines imposanten theologischen Aussage- und Gestaltungswillens." (U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 1994, 582f).

28 TRE 17 (1988) 203.

29 E. Ruckstuhl, P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium, 1991, 19.

30 TRE 17 (1988) 211. R. Schnackenburg: " Wie die linguistisch-semiotische Arbeitsweise zeigt, sind noch längst nicht alle Möglichkeiten erschöpft, die literarische Gestalt des Joh-Ev schärfer zu erkennen. Von dieser Methode können wir lernen, zunächst die literarische Ebene für sich zu betrachten (synchronisch); die Frage der Entstehung des Werkes (diachronische Blickweise) darf nicht zu schnell eingebracht werden, um fragwürdige Modelle für den literarischen Werdeprozeß zu vermeiden." (R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium 4. Teil, 1984, 30). Ruck- stuhl / Dschnulnigg: " Linguistik und Literaturwissenschaft haben seit geraumer Zeit die Voraussetzungen literarkritischer Arbeit in Frage gestellt. Bevor ein Text aufgrund von Spannungen und Widersprüchen diachron in eine Entstehungsgeschichte aufgelöst werden kann, ist synchron nach seiner formalen Gestalt zu fragen und diese zu erkennen." (E. Ruckstuhl und P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium, 1991, 16f).

31 Diejenigen Exegeten, die heute noch literarkritisch arbeiten, beschränken sich meist auf einige wenige Phänomene (siehe J. Becker); damit werden sie jedoch der durchgehend brüchigen Natur des Textes auch nicht gerecht.

32 E. Stauffer, Historische Elemente im vierten Evangelium, in: Bekenntnis zur Kirche: Festgabe für E. Sommerlath, 1960, 33 - 51. Ders., Neue Wege der Jesusforschung, in: Gottes ist der Orient. Festschrift O. Eißfeldt, 1959, 161 - 186. Ders., Probleme der Priestertradition, TheolLitZ 1956, 136

33 Vgl. O. Schwankl: " Wenn sich gegenwärtig, namentlich in Philosophie und Sprachtheorie, eine 'Rehabilitierung der Metaphorik' anbahnt, eröffnen sich damit auch der Exegese neue Bahnen." (Die Metaphorik von Licht und Finsternis im johanneischen Schrifttum, in: K. Kertelge, Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, 1990, 135).

34 Vgl. H. Conzelmann: " Der Umfang dessen, was wir als sicheren Tatbestand feststellen können, ist minimal. Das gesicherte Kern-Faktum ist, daß Jesus gekreuzigt wurde … Alles übrige am Ablauf der Ereignisse ist strittig." (Historie und Theologie in den synoptischen Passionsberichten, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, 1974, 74f).

35 Ebenfalls am Beispiel des Kreuzes beschreibt R. Schnackenburg die Eigenart der johanneischen Sichtweise so: " … die joh. 'Sehweise', hier die Neigung, aus dem Kreuzigungsvorgang als

' Erhöhung' ein Symbol zu machen, offenbart ein Denken, das für das 'Hintergründige' des äußeren Geschehens geöffnet ist. Die Worte werden bewußt gewählt und gewinnen einen tieferen Klang." (Das Johannesevangelium, 2. Teil, 1971, 500). Auch J. Blank weist auf den Ausgangspunkt der johanneischen Theologie im Konkret-Sinnlichen hin: " Das Aufrichten des Kreuzesgalgens ist integrierender Bestandteil des Erhöhungsvorgangs, man muß sich die Sache genauso konkret- sinnlich vorstellen. Zugleich ist dies Einsetzung Jesu zum endzeitlichen messianischen Herrscher, in der Herrlichkeit Gottes." (Das Evangelium nach Johannes, Teil 1a, 1981, 254). Das Besondere der johanneischen Theologie besteht darin, daß sie nicht vor dem Gebäude der Geschichte stehen bleibt, sondern in das Innere und Innerste der erinnerten Geschichte eindringen will. Damit entfernt sie sich jedoch nicht von diesem Gebäude, - sondern befindet sich einfach nur im Inneren desselben. Daß dabei allerdings die Fassade aus dem Blickfeld verschwindet, liegt leider in der Natur des Vorgangs.

36 Es gibt aber auch Stimmen außerhalb der narrativen Theologie. O. Cullmann: " Das Johannes- evangelium weist uns … an so zahlreichen Stellen auf die Notwendigkeit eines Dop- pelverständnisses hin, daß es nicht nur Recht, sondern Pflicht des Exegeten ist, dieser Absicht des Verfassers auch dort nachzugehen, wo sie nicht direkt ausgesprochen, sondern nur angedeutet ist." (K. Fröhlich (Hg.); O. Cullmann: Vorträge und Aufsätze 1925 - 1962; 1966, 177). Ein solches " Doppelverständnis" ist " geradezu johanneische Absicht" und gehört " zum Programm dieses Evangelisten" (O. Cullmann; Urchristentum und Gottesdienst; 1962, 49f). K. Berger: " Die irdische, alltägliche Realität wird immer wieder überschritten in Richtung auf den wichtigeren Teil der Wirklichkeit, der unsichtbar ist. Damit wird allerdings die alltägliche Realität nicht beseitigt oder ganz unwichtig. Sie erhält vielmehr den Charakter einer Bildwirklichkeit, die man allerdings richtig verstehen muß, um das darin abgebildete Unsichtbare wirklich zu treffen." (K. Berger, Theologie- geschichte des Urchristentums, 1995, 717). Die vielfach gemachte Beobachtung von zwei Sinnschichten ist natürlich nur eine grundsätzliche und sehr allgemeine. Wenn man sie exegetisch fruchtbar machen will, dann muß sie mit zusätzlichen Annahmen angereichert werden.

37 J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 158.

38 J. Zumstein, a.a.O., 168.

39 J. Zumstein, a.a.O., 92.

40 P. Ricoeur, Die Interpretation: Ein Versuch über Freud, 1969, 29.

41 P. Ricoeur, a.a.O., 30.

42 P. Ricoeur, a.a.O., 54.

43 J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 159.

44 J. Zumstein, a.a.O., 159.

45 H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1975, 323. H. Thyen schreibt in diesem Sinne: " Ein literarisches Werk ist nicht von der Art einer mathematischen Gleichung, die nur richtige und

falsche Lösungen zuläßt." Texte " sind wie eine Partitur, die eine unabsehbare Fülle möglicher Realisierungen erlaubt. Texte sind also die Klasse aller ihrer Interpretationen. Es gibt freilich auch unmögliche, nämlich durch historische Enzyklopädie, Grammatik oder Lexikon ausschließbare Deutungen. Nach der Partitur von Beethovens Neunter kann Schuberts Unvollendete unmöglich gespielt werden. Es gibt also mögliche und unter ihnen mehr oder weniger plausible, sowie unmögliche Deutungen literarischer Werke. Aber die richtige Interpretation gibt es nicht nur vorläufig, sondern vielmehr prinzipiell überhaupt nicht. Kurz und gut, ich schlage vor, den Streit um die richtige Auslegung des Johannes-Evangeliums als gegenstandslos zu beenden, und es dafür als ein Buch zum Lesen neu zu entdecken, als ein gutes, vielschichtiges und hochsymbolisches Buch, mit dessen Lektüre man nie zu Ende kommt, weil sie ständig neue Möglichkeiten eröffnet." (Das Johannes-Evangelium als literarisches Werk, 113; in: D. Neuhaus (Hrsg.), Teufelskinder oder Heilbringer - die Juden im Johannes-Evangelium, 1993).

46 J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 160.

47 Vgl. J. Blank: " Jesus selbst ist durch sein Reden und Handeln die 'Auslegung Gottes' in der Welt. An seiner Gestalt wird sichtbar, wer Gott ist. Er ist die geglückte Interpretation Gottes, die Übersetzung Gottes in den Bereich des Menschlichen." (Das Evangelium nach Johannes, Teil 1a, 1981, 99). Nach R. Schnackenburg schlägt 1,18 " eine Brücke vom Logoshymnus zur Ev- Darstellung." (256). " V 18 … führt genau zu dem Punkt, bei dem das Ev mit seiner Botschaft einsetzen kann: der Offenbarungstätigkeit des inkarnierten Logos … Der Prolog schließt mit einem Satz, der pointiert die alleinige geschichtliche (Aorist) Offenbarung durch den einzigen Gottesohn aussagt." (Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 200).

48 Vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 94f.

49 " The etymology of the word 'symbol' suggests its function. [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] is from [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], which means to 'put together'. By nature, and in John consistently, a symbol is 'a connecting link betw een two different spheres.'" (Harry Levin, Contexts of Criticism, 1957, 200; zitiert nach: R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, 1983, 182).

50 " Trotz aller verwirrenden Divergenzen stimmen die vielen metaphorologischen Konzeptionen darin überein, daß in der Metapher zwei Größen zusammenwirken, die freilich sehr vielfältig bestimmt werden; am häufigsten als zwei Wortbedeutungen oder Sinnbezirke, als zwei semnatische Felder, Ebenen oder Sphären, näherhin etwa als wörtliche und übertragene oder eigentliche und uneigentliche Bedeutung, als Bild und Sache, Bildspender und Bildempfänger, Wort und konterdeterminierender Kontext, Referenz ersten und zweiten Grades, Fokus und Rahmen, vehicle und tenor und vieles andere, in Kurzformel: ' two ideas for one'" (O. Schwankl, Die Metaphorik von Licht und Finsternis im johanneischen Schrifttum, in: K. Kertelge, Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, 1990, 136f).

51 " Das in der Exegese vielumstrittene Begriffspaar Irdisches-Himmlisches" (C. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes, Band 1, 2001, 84) ist grundsätzlich mit dem Dualismus in Verbindung zu bringen. Vgl. J. Blank: 3,12 " greift mit seiner Unterscheidung zwischen den 'irdischen Dingen' und den 'himmlischen Dingen' die Sprache des johanneischen Dualismus auf …" (Das Evangelium nach Johannes, Teil 1a, 1981, 238). Ebenso R. Schnackenburg: " Die Ausdrücke 'irdisch - himmlisch' dürften allgemein mit der joh. 'vertikalen' Blickweise zusammenhängen, die den irdischen und himmlischen Bereich konfrontiert" (Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 391). Die über diese grundsätzliche Einordnung hinausgehende Identifikation der himmlischen Dinge mit dem in 3,13ff Gesagten (vgl. C. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes, Band 1, 2001, 85) überzeugt jedoch nicht. Richtiger scheint es mir zu sein, das Himmlische nicht auf der Textebene suchen zu wollen, sondern die johanneischen Mißverständnisse in die Lösung des Problems einzubeziehen. Dann stellt sich die Vermutung ein, daß das Himmlische die Entdeckung des christologischen Sinnpotentials ist, die die Gemeinde des Geliebten, geleitet durch den Geist der Wahrheit, nach Ostern machte, als sie sich von der bloß irdischen Verstehensweise der Überlieferungen nicht mehr aufhalten ließ.

52 R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, 1983, 151.

53 R. A. Culpepper, a.a.O., 151. " Im Johannesevangelium bemerkt der Leser, daß der Evangelist sehr viel sagt, ohne es tatsächlich zu sagen."

54 R. A. Culpepper, a.a.O., 151.

55 Zur Deutung des Tempels als Leib Jesu: J. Blank sieht einen Zusammenhang des Tempelwortes 2,19.21 mit der Schilderung des himmlischen Jerusalems in der Apokalypse: " Einen Tempel sah ich nicht in ihr. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher des Alls, ist ihr Tempel, und das Lamm" (Apk 21,27), und fährt dann fort: " Der Sinn des Bildwortes ist also nach Johannes: Jesus in seiner Person ist der ' neue Tempel', die Stätte der Gottesgegenwart. Und zwar ist er das als der ' Erhöhte', der Gekreuzigte und Auferstandene." (Das Evangelium nach Johannes, Teil 1a, 1981, 212). Die " Ausdrücke für 'Niederreißen' ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], vgl. 1 Joh 4,3 v. l.) und 'Errichten' ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten])" machen es möglich, unter dem Tempel den Leib zu verstehen, weil sie " sich sowohl auf ein Gebäude als auch auf den Leib Jesu beziehen können; der zweite Terminus ist der geläufige für 'Auferwecken'." (R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 364).

56 R. Schnackenburg wägt das Für und Wider " einer tieferen symbolischen Deutung" ab, wonach die Tempelreinigung " die Überwindung des jüdischen Kultus durch Jesus, seine Person und seine Gemeinde veranschaulichen" soll. Die ekklesiologische Deutung des Leibes Christi tut sich jedoch " nur im Hintergrund auf; die nächste Deutung bleibt die christologische" (Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 370f).

57 R. A. Culpepper, a.a.O., 152. " (1) Jesus macht eine Aussage, die vieldeutig oder metaphorisch ist oder einen zweideutigen Ausdruck enthält; (2) sein Dialogpartner antwortet entweder ent- sprechend der wörtlichen Bedeutung der Aussage Jesu oder mit einer Frage oder einem Protest, der zeigt, daß er oder sie die höhere Bedeutung der Worte Jesu überhört hat; (3) in den meisten Fällen wird dann von Jesus oder (weniger häufig) vom Erzähler eine Erklärung angeboten."

58 J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1-10, 1985, 135.

59 R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, 1983, 167. " Der Leser wird durch die Ironie eingeladen, auf die höhere Ebene zu springen und an der Perspektive des impliziten Autor teilzuhaben." Vgl. auch K. Scholtissek: " Zur Deutung joh Ironien gehört die Berücksichtigung der zwei wesentlichen Kommunikationsebenen: Die Erzählregie des Evangelisten erlaubt es den Lesern und Hörern (Kommunikation durch Erzählung), ironische Verkehrungen mitzuvollziehen, während innertextlich (erzählte Kommunikation) die Erzählfiguren in der Begegnung mit Jesus (a) entweder erst über Mißverständnisse und die Selbstoffenbarung Jesu hinweg wirklich zu ihm finden, (b) die Begegnung zunächst unentschieden und offen bleibt oder (c) die Begegnung mit Jesus scheitert." (Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium, ZNW 89 (1998) 253).

60 Zur Raumeinteilung vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 148-150.

61 " Geht es auf einer ersten Ebene um den von der Welt gegen Jesus angestrengten Prozess, so auf einer tieferen Ebene um den Prozess, den Jesus gegen die Welt führt." (J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 136).

62 Vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium 3. Teil, 1975, 304f. K. Scholtissek, Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium, ZNW 89 (1998), Anm. 60, 248. Für die Annahme, daß die Doppeldeutigkeit in 19,13 gewollt ist, spricht zudem die Beobachtung, daß der angeklagte Jesus auch andernorts im Johannesevangelium die Rollen umkehrt und zum Richter (5,22.27.30) und Ankläger (5,36-44, 7,17-24; 8,12-58) wird.

63 " Die rätselhafte Szene zwischen dem Gekreuzigten, seiner Mutter und dem Lieblingsjünger (19,25-

27) symbolisiert die Gründung der Kirche." (J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 137).

64 Das Wortspiel Semantik / Semeia sei gestattet. Sinnvoll ist es insofern, als das Logosevangelium anhand der Wunder (und der anschließenden Offenbarungsreden) die Bedeutung der Person Jesu darstellen will. Zur Aufhellung des traditionsgeschichtlichen Hintergrundes sind freilich andere Beobachtungen heranzuziehen. So ist Semeia die Septuagintaübersetzung des alttestamentlichen [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (ThWAT I, Sp. 183), und es gibt Gemeinsamkeiten mit den Zeichen des Exodus und den prophetischen Zeichenhandlungen.

65 R. Schnackenburg macht auf eine Strukturähnlichkeit zwischen den johanneischen Zeichen und der Person des inkarnierten Logos aufmerksam: " So hoch der Logoshymnus die Geistigkeit und Göttlichkeit des Logos preist, ebenso hart setzt er daneben die Tatsache seiner 'Fleisch'-Werdung. Ähnlich besitzen die [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] eine materielle ' Erscheinungsform' und verbergen darunter doch einen tief geistigen, näherhin christologischen Sinn." (Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 354).

66 Vgl. auch den Zusammenhang von Zeichen und Werke ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) im Johannesevangelium. Nach der grundsätzlichen Feststellung, daß beide Ausdrücke " von der Sache her einen gemeinsamen Verwendungsbereich" haben, untersucht R. Schnackenburg dann ihre Besonderheiten (Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 347-350). Ausführlich hierzu: W. Wilkens, Zeichen und Werke: Ein Beitrag zur Theologie des 4. Evangeliums in Erzählungs- und Redestoff (AThANT 55), 1969.

67 Zum christologischen Bezug der johanneischen Zeichen: " Alle als [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] bezeichneten Großwunder lenken den Blick mit aller Gewalt auf den, der sie wirkt, und machen die ihm verliehene Hoheit und Heilsmacht transparent." (R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 352). Nach J. Blank haben die Zeichen bei Johannes " klar und deutlich einen christologischen Bezug und symbolischen Charakter" (Das Evangelium nach Johannes, Teil 1a, 1981, 190).

68 R. Schnackenburg nennt die Möglichkeit, " daß der 'dritte Tag' symbolisch auf den Auferstehungsmorgen weist, besonders wenn man die 'Stunde' Jesu auf seine 'Verherrlichung' bezieht und das 'Zeichen' zu Kana als Antizipation und Verheißung dieser wahren Enthüllung seiner 'Herrlichkeit' versteht." (Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 331). Er bleibt ihr gegenüber jedoch skeptisch. Nach U. Schnelle wird diese Interpretation " durch 2,4c.19.20 nahegelegt" (Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, 1987, 88).

69 Auf diese Inklusion verweist J. Zumstein: " Die Mutter als Handlungsträgerin der Erzählung tritt sowohl bei der ersten als auch bei der letzten Offenbarungshandlung ihres Sohnes auf. Ihre Präsenz signalisiert die [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] und das [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] der Mission des Offenbarers." (Kreative Erinnerung, 1999, 174).

70 In der Forschung wird die Frage diskutiert, ob der geliebte Jünger eine historische oder eine symbolische Figur ist. Gute Gründe sprechen für eine historische Gestalt. Oft wird auf 21,20ff verwiesen, wo der Tod des Lieblingsjüngers vorausgesetzt wird. " 21,20-23 rät dringend davon ab, die historische Individualität dieses Jüngers zu leugnen." (C. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes, Band 2, 2001, 376). " Vor allem aber spricht für eine geschichtliche Gestalt 21,20-24." (J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 11-21, 1991, 519). Auch die Gemeinschaft des Lieblingsjüngers mit Personen, deren Historizität niemand anzweifelt, spricht für die erstgenannte Möglichkeit. " Da Petrus sicherlich im Joh nicht rein symbolisch oder fiktiv verstanden werden kann, kann auch die ihm zugeordnete Gestalt von L nicht Symbol oder Fiktion allein sein." (J. Becker, a.a.O., 519). " In der neueren Forschung zeichnet sich ein breiter Konsens in die Richtung ab, den ' Jünger, den Jesus liebte' als eine historische, nicht als eine nur symbolische Figur aufzufassen. Der Hauptgrund ist Joh 19,25-27. Offenbar gab es Nachrichten über die weitere Biographie der Mutter Jesu, und diese hätte man wohl kaum mit einer nur symbolisch gemeinten Figur verbinden können." (K. Berger, Im Anfang war Johannes, 1997, 96). Hinter dem Lieblingsjünger steht also eine historische Persönlichkeit. Gleichwohl erscheint sie auf der literarischen Ebene des Evangeliums idealisiert, wodurch sie anzeigt, welchen geistigen und nicht primär personellen Ursprung die jo- hanneische Jesusinterpretation hat.

71 Vgl. J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 11-21, 1991, 518.

72 Vgl. J. Becker, a.a.O., 517f.

73 " Kein Leser des Joh kommt ohne vorherige Kenntnis von Joh 13 auf die Idee, in 1,43 den Lieblingsjünger zu sehen. Da umgekehrt auch Joh 13 keine Lesehilfe enthält, die nachträglich 1,43 im Sinne der Lieblings-Jüngertexte verstehen hilft, wird man den unbekannten Jünger in 1,43 ohne Identifikation stehen lassen …" (J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1-10, 1991, 123).

74 K. Berger, Im Anfang war Johannes, 1997, 96 - 106 vertritt diese These. C. Dietzfelbinger hingegen schlägt Philippus vor: " In 6,7f; 12,21f erscheinen Andreas und Philippus als ein Jüngerpaar, und so vermutet man, daß in dem zweiten Jünger von 1,35-40 ursprünglich Philippus zu sehen ist." (Das Evangelium nach Johannes, Band 2, 2001, 374).

75 Die Inscriptio [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ist bereits im Papyrus 66 (Datierung um 200) bezeugt. M. Hengel meint: " Bei allen vier Evangelien geht die Überschrift m. E. bis auf die Verbreitung des uns vorliegenden Textes in den christlichen Gemeinden zurück, andernfalls müßten wir verschiedene Titelvarianten besitzen." (Die johanneische Frage, 1993, 33).

76 Außerdem erhält 10,41 ein Zeugnis, das dem in 21,24 vergleichbar ist. Die Struktur beider Verse ist die folgende: Eine Gruppe stellt einer Einzelperson das Zeugnis aus, daß sie Wahres über Jesus gesagt hat.

77 In Hebr 5,8 ist eine Tradition aufbewahrt, wonach Jesus Gehorsam lernte.

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Das Gesicht des Unsichtbaren. Zur Transparenz des Faktischen im Johannesevangelium
Hochschule
Universität Zürich  (Theologische Fakultät)
Note
gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
100
Katalognummer
V10002
ISBN (eBook)
9783638165686
Dateigröße
734 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Qualifizierte Seminararbeit (Akzessarbeit).
Schlagworte
Johannesevangelium
Arbeit zitieren
Thomas Noack (Autor:in), 2002, Das Gesicht des Unsichtbaren. Zur Transparenz des Faktischen im Johannesevangelium, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10002

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