Wie verstehen Kinder heutzutage die Bibel?

Forschungen und Studien zur Bibeldidaktik


Hausarbeit, 2021

36 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die heutige Bibeldidaktik. Ein Überblick
2.1 Was ist Bibeldidaktik?
2.2 Begründung biblischen Lernens und Zeitgemäßheit der Bibel
2.3 Im Fokus: Die Vielfalt der Leser/innen
2.4 Entwicklungspsychologie und Genderforschung

3. Forschungen und Studien zur Bibeldidaktik
3.1 Forschungsstand (bis 2000)
3.2 Hanisch und Bucher über die biblischen Kenntnisse von Kindern (2002)
3.3 Gennerich und Zimmermann über Bibelwissen und Bibelverständnis von Kindern und Jugendlichen (2020)

4. Didaktische Konkretionen
4.1 Wie Kinder die Schöpfungsgeschichte auslegen
4.2 Mit Kindern über die Sintflut Geschichte nachdenken
4.3 Das Gleichnis vom verlorenen Schaf

5. Fazit und Ausblick
5.1 Ergebnisse
5.2 Bibeldidaktische Konsequenzen

6. Literatur

1. Einleitung

Die Bibel ist die konstitutive Glaubensurkunde des Christentums, weshalb sie im Religionsunterricht nicht fehlen darf. Aus diesem Grund entstand die Bibeldidaktik, welche nach Lehr- und Lernprozessen mit der Bibel fragt.1 Die Bibeldidaktik hat in den letzten Jahrzehnten jedoch keinen einfachen Stand. Sie verliert massiv an Bedeutung und immer wieder wird die Sinnhaftigkeit dessen bezweifelt, Kinder im Religionsunterricht mit den alten und oftmals schweren Texten der Bibel zu konfrontieren. So sagte schon 1993 Horst Klaus Berg: „Die Bibel gehört zu den unbeliebtesten Inhalten des Religionsunterrichts - das weiß wahrscheinlich jeder Lehrer aus eigener Anschau- ung.“2 Aus diesem Grund entstand eine kontroverse Debatte um die religionspädagogische Relevanz der Bibel: Wie kann man die Notwendigkeit biblischen Lernens begründen? Inwieweit können Kinder noch etwas mit der Bibel anfangen? Ist die Bibel überhaupt wahr?3 So betonte zum Beispiel Ronald Goldman 1964, dass „die Bibel kein Buch für Kinder sei.“4 Doch stimmt das? Sind Kinder im Grundschulalter wirklich nicht in der Lage die Bibel zu verstehen und ist sie im Kindesalter wirklich so unbeliebt?

Um diese Fragen beantworten zu können ist es von besonderer Bedeutung den Fokus auf die Kinder selbst zu setzen. Denn erst wenn man weiß, wie Kinder die Bibel lesen, was sie ihnen bedeutet und wie sie die Bibel verstehen, kann man aufgrund der gewonnenen Kenntnisse eine Bibeldidaktik entwerfen. Leider gibt es einen erheblichen Nachholbedarf an empirischen Studien zu dem Thema, weshalb viele Fragen noch nicht eindeutig geklärt werden konnten. Offene Fragen sind zum Beispiel: Sind Kinder kognitiv dazu fähig, den symbolischen Gehalt der Bibel zu erfassen? Halten Kinder die Bibel buchstäblich für wahr? An welche biblischen Geschichten erinnern sich Kinder?

Zu Klärung der Fragen soll zunächst ein Überblick über die heutige Bibeldidaktik verhelfen. Dort wird die Begründung biblischen Lernens erläutert und die Zeitgemäßheit der Bibel diskutiert. Danach wird der Fokus auf die Kinder gesetzt und in ersten Ansätzen erläutert, wie Grundschulkinder denken und welche Geschlechterunterschiede deutlich werden. Im nächsten Schritt werden empirische Untersuchungen zu dem Thema dargelegt, damit eine begründete Stellungnahme erfolgen kann. Um die empirischen Untersuchungen zu untermauern oder auch zu widerlegen, werden außerdem didaktische Konkretionen aufgeführt. Dazu werden drei Unterrichtsstunden in verschiedenen Grundschulen mit verschiedenen biblischen Themen analysiert. Den Abschluss dieser Arbeit bildet dann ein Resümee, in dem die eben genannten Fragen beantwortet und die Ergebnisse ausblickhaft zusammengefasst werden. Zudem werden aufgrund der gewonnenen Kenntnisse bibeldidaktische Konsequenzen formuliert.

Der Fokus dieser Arbeit wird auf Grundschulkinder gelegt. Jugendliche werden lediglich als Referenz betrachtet.

2. Die heutige Bibeldidaktik. Ein Überblick

2.1 Was ist Bibeldidaktik?

Bibeldidaktik setzt sich aus den Wörtern Bibel und Didaktik zusammen, weshalb wir uns erstmal der Definition von Didaktik annähern wollen. Nach dem Bibeldidaktiker Ingo Baldermann ist Didaktik der „Versuch, auf die Herausforderungen, die das Leben der neuen Generation bedrohten [...], eine Antwort zu finden. Die didaktische Frage ist im Kern die Frage nach dem für die kommende Generation Notwendigen.“5

Bibeldidaktik beschäftigt sich im Allgemeinen mit der Frage, wie Schüler/innen und die Bibel miteinander in Kommunikation treten. Wenn man nun die Definition Baldermanns darauf anwendet wird deutlich, dass es um den Dialog mit den Lebensbedeutungen heutiger Menschen geht. Zudem impliziert das Wort Dialog mehr als reine Vermittlung von Wissensbeständen. Es geht um das Wahrnehmen, sich Auseinandersetzten und Aneignen, mit dem Ziel einen Zustand zu erreichen, indem man Verantwortung übernehmen kann. 6 Das heißt, biblisches Lernen beinhaltet nicht nur die Texte als literarisch und historisch interessante Schriften zu erkunden. Sondern Bibeldidaktik sucht nach einer Erschließung biblischer Texte für die Menschen heute, sodass diese ihre eigene Position auf ihre christlich religiöse Verantwortung und über die eigene existenzielle Lebensbedeutung entwickeln können. Diese Sichtweise findet sich auch in den Lehrplänen wieder.7 Im Niedersächsischen Kerncurriculum für die Grundschule im Fach evangelische Religion wird deutlich, dass der konfessionell bestimmte Religionsunterricht die Aufgabe besitzt, die Identitätsbildung zu fördern und den Menschen zu einem Leben in Verantwortung zu befähigen. 8 Dieses geschieht auf der Grundlage von biblischen Texten, welche exemplarisch für jedes Thema angegeben werden. Die biblische Didaktik soll außerdem dem Prinzip der wechselseitigen Erschließung folgen. Biblisch-christliche Erfahrungen werden dabei mit den lebensweltlichen Erfahrungen und Biografien der Schüler/innen in Zusammenhang gebracht. 9

Zur Veranschaulichung, wie Leser/innen und die Bibel zueinanderkommen, gibt es das „Dreieck der Bibeldidaktik“ von Mirjam und Ruben Zimmermann:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1:Zimmermann/Zimmermann: Handbuch Bibeldidaktik, S. 7.

Hier werden die Bibel und der/die Rezipient/in durch eine Brücke verbunden. Die Brücke stellt die Methoden dar, welche den/die Rezipient/in und die Bibel in Verbindung bringt. 10 Um dem Rahmen dieser Arbeit gerecht zu werden, bedarf es der Einschränkung, dass die Methoden nicht umfassend betrachtet werden können.

Anhand des Kerncurriculums, dem Dreieck der Bibeldidaktik und den Definitionen von Bibeldidaktik lässt sich ein wichtiger Punkt festhalten: Bibeldidaktik muss einen Bezug zu der heutigen Lebenswelt der Leser/innen herstellen. Doch ganz so leicht scheint das nicht zu sein, denn die Relevanz der Bibel im Religionsunterricht wird immer wieder in Frage gestellt. Auf der einen Seite ist die Bibel die konstitutive Glaubensurkunde des Christentums und erfreut sich im Raum der Kirche als Heilige Schrift größter Autorität. Damit ist sie Referenzpunkt in zweifachen Sinn: Sie verweist zum einen auf die historischen Ursprünge und ist zugleich Bezugspunkt einer jeden Generation von Christen für das Fragen nach Gott. Auf der anderen Seite ist die Bibel in der Schule nur ein Buch unter vielen und nimmt die Rolle eines Lehrbuches ein, wodurch sie massiv an Bedeutung verliert.11 Die Bibeldidaktik muss sich deshalb vielen Fragen aussetzten. Besonders häufig kommt die Frage auf, wie sich die Notwendigkeit biblischen Lernens begründen lässt. Hinzu kommt der strittige Punkt, inwieweit Kinder mit biblischen Geschichten noch etwas anfangen können.12 Diese Fragen sollen im Folgenden geklärt werden.

2.2 Begründung biblischen Lernens und Zeitgemäßheit der Bibel

„Wer die Bibel in die Hand nimmt und liest, wird ein Lernender werden. [...] Er oder Sie wird in einen Prozess des Verstehens und Missverstehens, der Ermutigung und Veränderung oder eben mit anderen Worten: in einen Prozess des Lernens hineingezogen.“13

Die Bibel kann also als didaktisches Buch betitelt werden, weshalb sie aus pädagogischer Sicht unverzichtbar für das Lernen im Religionsunterricht ist. Aus theologischer Perspektive ist erstens das ungeschminkte Menschenbild der Bibel bedeutsam, welches die Fülle des Lebens mit allen Höhen und Tiefen zur Sprache bringt. Des Weiteren beschreibt sie nicht nur Realität, sondern ruft zur Hoffnung für diese Welt auf. Sie kann als Wegweiser zum gelingenden Leben verstanden werden, indem sie zu der Suche nach neuen Existenzmöglichkeiten motiviert.14 Außerdem ist die Bibel Gottes Wort in Menschenwort und lädt zu einer heilvollen Begegnung mit Gott ein. Gleichzeitig motiviert der Glaube der Menschen damals die Leser/innen von heute. Dieses impliziert, dass die Bibel keine allgemeine Gültigkeit besitzt, sondern immer kontextabhängig ausgelegt werden muss.15 Aus bildungstheoretischer Sicht sind folgende Aspekte bedeutsam. Biblisches Lernen leistet einen Beitrag zur Allgemeinbildung. Denn die Bibel hat unsere Sprache, Literatur, Kunst, Architektur usw. geprägt, wie keine andere zusammenhängende Überlieferung. Deshalb sind biblische Traditionen eine unabdingbare Voraussetzung, um die Bedeutung der eigenen Kultur erschließen zu können. Zudem spielt die Bibel in gesellschaftlichen Diskursen über aktuelle Themen wie Bewahrung der Schöpfung, Familie, soziale Gerechtigkeit, Migration oder Erhaltung des Friedens eine wichtige Rolle bei der Wertebildung. Des Weiteren gibt sie wichtige Impulse für die ethische Orientierung vor und vermittelt religiöse Sprachfä- higkeit. Dieses ist bedeutsam, weil Sprache ein Schlüssel zur Sozialisierung und Individuation ist. Sie vermittelt deshalb die Kompetenz, durch existenzielle Erschließung der Wirklichkeit auch religiös ausdrucksfähig zu werden. Auch einen wichtigen Beitrag zur Identitätsbildung wird durch die Bibel gegeben, indem sie Fragen wie „Wer bin ich?“ und „Welchen Sinn hat mein Leben?“ thematisiert. Schließlich besitzt die Bibel ein kritisch-utopisches Potenzial, das die bestehenden Verhältnisse kritisch hinterfragt und noch nicht wirkliche Möglichkeiten individuellen wie auch gesellschaftlichen Lebens einklagt. Dieses ist insofern bedeutsam, da die Schule ebenfalls einen Beitrag zur Veränderung im Sinne eines humaneren Lebens leisten will.1617

Nun kommen wir zur Zeitgemäßheit der Bibel. Sie steht zwischen dem fundamentalen Bezugspunkt christlicher Theologie und existenzieller Belanglosigkeit. Die Bibel ist Fundament christlichen Glaubens, auf das sich jede Theologie und jede christliche Lebenspraxis bezieht. Trotzdem ist die Bibel fremd für nicht wenige Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Der „garstige breite Graben“ zwischen den Leser/innen und der Bibel, wie ihn schon Gotthold E. Lessing ausmachte, ist für viele Menschen nicht zu überwinden, weil die Welt der Bibel in die eigenen Lebenswelten nicht mehr hineinreicht. Eine Grundfrage der Bibeldidaktik ist, wie hier Korrelationsprozesse möglich sind. Dieser Herausforderung muss sich die Bibeldidaktik stellen. Die biblischen Lebenstexte müssen als Lebensbedeutung für heute ins Spiel kommen, und zwar so, dass sie minimal zu Bildungsanlässen werden und maximal das eigene Leben vom Wort Gottes gestalten. Eine weitere Grundfrage der Bibeldidaktik formuliert sich angesichts der Enttraditionalisierung. In unserer heutigen Zeit werden Traditionen keine Plausibilität und Gültigkeit mehr zugesprochen, wenn sie sich nicht beweisen können. Dieses gilt vor allem für christliche Traditionen, welche eine immer geringer werdende Rolle spielen. Aber wie ist das bei den Kindern? Sprechen diese der Bibel auch keine Plausibilität zu?18

„Was in der Bibel steht, stimmt doch gar nicht. Abraham konnte nie 175 Jahre alt geworden sein!“19 So ein Einwand von einem 9 Jahre alten Schüler. Eine weitere Grundfrage welche sich die Bibeldidaktik stellen muss lautet: Ist die Bibel wahr? Wenn Schüler/innen von Wahrheit sprechen, meinen sie die Übereinstimmung von Gegenstand und Begriff im aristotelisch-scholastischen Sinne. Der Aussagegehalt der Bibel muss also unmittelbar mit historischen Tatsachen, welche sachlich und logisch sind, übereinstimmen. Die Aufgabe der Bibeldidaktik ist es deshalb, dass eng begrenzte Wahrheitsverständnis der Lernenden zu „entgrenzen“ um die Wahrheit der Bibel neu zu entdecken. Des Weiteren existiert Wahrheit weder als absolutes, zeitloses Dogma, noch als empirisch oder historisch nachweisbare Objektivität. Es gibt also keine eindeutige Wahrheit, weshalb ein komplexes und nicht immer eindeutiges Bild vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeit entstehen muss. Ferner kommt es immer auf die sprachliche Form und Gattung einer Texteinheit an, welche über ein entscheidendes Maß über Inhalt und Sinn des Textes entscheidet. Die Schüler/innen sollten also erkennen, dass kein historisches Ereignis absolut richtig dargestellt werden kann, weil es weder einen neutralen Beobachter noch objektive Methoden gibt.20

2.3 Im Fokus: Die Vielfalt der Leser/innen

„Biblische Texte sind „abhängig“ von den Leserinnen und Lesern.“21 Denn ein schriftlicher Text entfaltet seinen Sinn erst dadurch, dass er gelesen wird. Schüler/in- nen sollen demnach lernen, dass der Sinn immer nur von ihnen selbst erlebt werden kann.22 Diesen Beitrag leistete die Rezeptionsästhetik, welche sich mit der Begegnung zwischen Leser/innen und dem Text beschäftigt. Sie hebt die Vieldeutigkeit und den dialogischen Charakter eines Textes hervor.23 Auf diese Weise wird jede Deutung von den Schüler/innen wahr und ernst genommen, welches auch ein Bildungsbeitrag im Kerncurriculum widerspiegelt: Ausgangspunkt des gemeinsamen Lernens und Lebens in der Grundschule ist die vorhandene Vielfalt an Bedürfnissen und Fragen, welche je eigene Deutungen und individuelle Handlungsoptionen unterliegen.24 Dieses stellt einen Bruch zur traditionellen Bibeldidaktik dar, welche eher Lehrer/innen orientiert war. Hier vermittelte die Lehrkraft den Sinn des Textes, welcher für alle Schüler/innen gleichermaßen war. Die heutige Bibeldidaktik hält die Fragen und Deutungen der Kinder für zentral. Denn durch das Wahrnehmen der kindlichen Beiträge wird die Welt der Kinder nicht nur greifbarer, sondern die biblischen Texte sprechen durch die Kinderäußerungen auf neue Weise, welches bereichernd sein kann.25

Im Zuge der neuen Hinwendung zum Kind hat sich im Rahmen der Kindertheologie auch eine Bibelauslegung von und mit Kindern etabliert.26 Kindertheologie nimmt die Kinder als Subjekte und Ko-Konstrukteur/innen ihrer Lebenswelt wahr. Sie basiert auf der Annahme, dass Kinder über eigene theologische Kompetenzen verfügen und aufgrund dessen ihre Fragen und Deutungen ernst genommen werden müssen. Eine Theologie von Kindern nimmt deshalb das Kind als Akteur des Denk- und Lernprozesses wahr.27 Die Lehrperson gilt als aufmerksame und interessierte, offene und sensible Gesprächspartner/in, um die Äußerungen der Kinder in ihrem eigenen Sinn wahrnehmen zu können. Von besonderer Bedeutung sind deshalb Schüler/innenfra- gen, da sie Auskunft über das Nachdenken von Kindern geben.28 Die Theologie mit Kindern beschreibt das gemeinsame theologische Fragen und Suchen nach Antwortmöglichkeiten und Lösungen für die theologischen Fragen von Lehrkraft und Kind. Es geht darum ein gemeinsames Gespräch aufzubauen, um religiöse Mündigkeit und Sprachfähigkeit zu fördern.

Die Abhängigkeit der biblischen Texte von ihren Leser/innen und die lebensbezogene Auslegung, bilden eine weitere Herausforderung. Denn die Lebenskontexte der Schü- ler/innen sind sehr unterschiedlich. Gründe dafür sind das Geschlecht, entwicklungspsychologische Stadien, kulturelle und soziale Milieus, sowie das Vorwissen von theologischen und biblischen Themen.29 Bevor wir uns die Entwicklungspsychologie und die Genderforschung genauer angucken, müssen wir unser „Dreieck der Bibeldidaktik“ mit den jetzigen Erkenntnissen aktualisieren. Denn die Bibeldidaktik fragt auch nach der Situation der Leser/innen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Zimmermann/Zimmermann: Handbuch Bibeldidaktik, S. 9.

Hier ist nun deutlich zu erkennen, dass eine Vielfalt von Leser/innen in Betrachtung gezogen wird, welche im weiteren Verlauf, bezogen auf Grundschulkinder, vertieft werden soll.30

2.4 Entwicklungspsychologie und Genderforschung

Von sehr großer Bedeutung sind die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, welche einen Blick über das moralische, kognitive und religiöse Urteil geben. Diese bleiben jedoch für die Theoriebildung und die Unterrichtspraxis oft folgenlos. Dadurch werden zwei zentrale Chancen verschenkt: Zum einen sind die Erkenntnisse unverzichtbar mit Blick auf die Wahrnehmung der Lernenden und auf ihre Lebenswelt, sowie ihre Art des Denkens und Fühlens. Zum anderen stellen diese notwendigen Instrumentarien zur begründeten Unterrichtsplanung dar.30 31

Zentral für Bibeldidaktische Erkenntnisse ist das Grundmodell des Amerikaners John Fowler. In seiner 1981 veröffentlichte Theorie verfolgte er die Leitfrage: Wie entwickelt sich der religiöse Glaube im Menschen vom Kleinkind bis zum Greis? Seine Ergebnisse fasst er in einem Stufenmodell des Glaubens zusammen, wo es um Voraussetzungen für Glaubensakte geht. Für Kindergarten und frühe Grundschule postuliert er die Phase eines „intuitiv-projektiven Glaubens“32, in der Kinder eigene Gefühle unreflektiert auf ein höheres Wesen übertragen. Unter Bezugnahme auf John Piaget befinden sich Kinder zudem in der Phase des präoperationalen Denkens, was mehr der eigenen Phantasie als der Wirklichkeit folgt. In der Grundschule befinden sich die meisten Kinder nach Fowler in der Phase des „mythisch-wörtlichen Glaubens“33 und nach Piaget in der Phase des konkret-operationalem Denkens.34 Dadurch fehlt Grundschüler/innen eine formal-operationale Denkstruktur, weshalb sie biblische Geschichten wortwörtlich auffassen und damit den symbolischen Gehalt nicht erkennen können. Sie besitzen außerdem keine wirklichen Fähigkeiten zur Perspektivübernahme, weshalb sie Geschichten immer auf sich selbst beziehen. Auch den Weltzusammenhang fassen sie narrativ-dramatisch auf.35 Auf dieser Stufe ist daher Anthropomorphismus zu finden, denn das wörtliche Verstehen symbolischer Texte führt dazu, dass Gott als ein menschliches Wesen aufgefasst wird. Als Stärke der Phase bezeichnet Fowler die Offenheit für den erzählten Sinn, welches gerade in der Bibeldidaktik eine wichtige Voraussetzung darstellt (siehe 2.3). Gattungen einer Geschichte zu erkennen und auch kritisch darüber nachzudenken, ist auf der Stufe noch nicht möglich, weshalb der Wortsinn die Grenze des Verstehens bestimmt.36 37 38 Letztlich war Fowler jedoch davon überzeugt, dass Grundschulkinder die Bibel nicht verstehen können.37, 38 Diese These unterstützt auch Ronald Goldman, welcher 1964 durch eine Untersuchung von 200 Schüler/innen zu der Folgerung kam, dass „die Bibel kein Buch für Kinder sei.“39 Einen weiteren wichtigen Beitrag haben L. Kohlberg, mit der „Psychologie der Moralentwicklung“ und F. Oser, mit den „Stufen der religiösen Entwicklung“ erbracht, welche die Erkenntnisse Fowlers stützen. Grundschüler befindet sich demnach in moralischen und religiösen Dilemmasituationen, die auf einer Tauschgerechtigkeit, welche in ihren Augen „fairen“ Ausgleicht sucht, basiert. Dieses gilt sowohl den Mitmenschen als auch Gott gegenüber.40

[...]


1 Vgl. Zimmermann, Mirjam/ Zimmermann, Ruben: Bibeldidaktik - eine Hinführung und Leseanleitung, in: Zimmermann, Mirjam/ Zimmermann, Ruben (Hg.): Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 22018, S. 1-10, hier: S. 1.

2 Berg, Horst Klaus: Grundriss der Bibeldidaktik. Konzepte - Modelle - Methoden, München/Stuttgart 1993, S. 11.

3 Vgl. Kollmann, Bernd: Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, Stuttgart 2019, S. 1.

4 Goldman, Ronald: Religious Thinking from Childhood to Adolescence, London 1964, S. 2020.

5 Baldermann, Ingo: Einführung in die biblische Didaktik, Darmstadt 1996, S. 9.

6 Vgl. Fricke Michael: „ Was können Schülerinnen und Schüler mit der Bibel lernen? Konturen einer Bibeldidaktik für das 21. Jahrhundert. ", in: Bachmann, Michael/ Woyke, Johannes (Hg.): Erstaunlich lebendig und bestürzend verständlich? Studien und Impulse zur Bibeldidaktik, Neukirchen-Vluyn 2009, S. 69-81, hier: S. 69.

7 Vgl. Scharmbeck sf, Mirjam: Artikel Bibeldidaktik. Grundfragen, in: Wissenschaftlich Religionspädagogisches Lexikon im Internet (www.wirelex.de) 2015, online verfügbar unter: https://www.bibelwissen- schaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedagogische-lexikon/wirelex/sachwort/anzeigen/details/bibel- didaktik-grundfragen/ch/68a972247159346a8513121313eff268/ (abgerufen am 05.12.2020) S. 3.

8 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.): Kerncurriculum für die Grundschule. Schuljahrgänge 1-4. Evangelische Religion, Hannover 2020. Online verfügbar unter: https://www.nibis.de/evangelische-religion-im- primarbereich 11935 (abgerufen am 07.12.2020), S. 5.

9 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.): Kerncurriculum für die Grundschule, S. 10-27.

10 Vgl. Zimmermann/ Zimmermann: Bibeldidaktik- eine Hinführung und Leseanleitung, S. 7.

11 Vgl. Fricke, Michael: Biblische Themen, in: Martin Rothgangel/ Gottfried Adam/ Rainer Lachmann (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium. Göttingen 82013, S. 374-88 hier: S. 374.

12 Vgl. Kollmann: Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, S. 11.

13 Zimmermann/ Zimmermann: Bibeldidaktik- eine Hinführung und Leseanleitung, S. 1.

14 Vgl. Kollmann: Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, S. 11.

15 Vgl. Fri>

16 Vgl. Kollmann: Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, S. 11-12.

17 Vgl. Fri>

18 Vgl. Scharmbeck: Bibeldidaktik, S. 2-10.

19 Zimmermann, Mirjam/ Zimmermann, Ruben: Ist die Bibel wahr? in: Zimmermann, Mirjam/ Zimmermann, Ruben (Hg.): Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 22018, S. 735-738, hier: S. 735.

20 Vgl. Zimmermann/Zimmermann: Ist die Bibel wahr? S. 735-738.

21 Scharmbeck: Bibeldidakti, S. 10.

22 Vgl. Zimmermann/ Zimmermann: Ist die Bibel wahr? S. 738.

23 Vgl. Fri>

24 Vgl. Niedersächsische Kultusministerium: Kerncurriculum für die Grundschule, S. 5.

25 Vgl. Fricke Michael: Rezeptionsästhetische orientierte Bibeldidaktik-mit Kindern und Jugendlichen die Bibel auslegen, in: Bernhard Grümme/Hartmut Lenhard/Manfred L. Pirner (Hg.): Religionsunterricht neu denken: Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2012, S. 210-222, hier: S. 210.

26 Vgl. Büttner, Gerard/ Schreiner, Martin (Hg.): „Man hat immer ein Stück Gott in sich Mit Kindern biblische Geschichten deuten. Jahrbuch für Kindertheologie Sonderband Teil 1: Altes Testament, Stuttgart 2004, S. 7-10.

27 Vgl. Pfister, Stefanie/ Roser, Matthias: Fachdidaktisches Orientierungswissen für den Religionsunterricht, Göttingen 2015, S. 63-65.

28 Vgl. Fri>

29 Vgl. Scharmbeck: Bibeldidaktik, S. 12.

30 Vgl. Zimmermann/Zimmermann: Bibeldidaktik, S. 7-10.

31 Vgl. Langenhorst, Georg: Bibeldidaktik und Entwicklungspsychologie, in: Zimmermann, Mirjam/ Zimmermann, Ruben (Hg.): Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 22018, S. 665-668 S. 665-666.

32 Fowler, James W.: Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 200, engl. 1981, S. 139.

33 Fowler: Stufen des Glaubens, S. 151.

34 Vgl. A. a. O., S. 156-158.

35 Vgl. A. a. O., S. 166.

36 Vgl. A. a. O., S. 168.

37 Vgl. Fri> S. 214.

38 Vgl. Fri>

39 Goldman: Religious Thinking from Childhood to Adolescence, S. 2020.

40 Vgl. Fowler: Stufen des Glaubens, S. 155.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Wie verstehen Kinder heutzutage die Bibel?
Untertitel
Forschungen und Studien zur Bibeldidaktik
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)  (Evangelische Theologie)
Veranstaltung
Seminar
Note
1,0
Jahr
2021
Seiten
36
Katalognummer
V1002019
ISBN (eBook)
9783346379726
ISBN (Buch)
9783346379733
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Bibeldidaktik, Religionspädagogik, Bibel Theologie
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Wie verstehen Kinder heutzutage die Bibel?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1002019

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Wie verstehen Kinder heutzutage die Bibel?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden