Benno Werlens handlungszentrierte Sozialgeographie. Konsequenzen für die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen


Examensarbeit, 2020

87 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Kernidee der Sozialgeographie
2.1. Menschliches Handeln im Raum
2.2. Erkenntnistheoretischer Kontext
2.2.1. Kritischer Rationalismus
2.2.2. Die Phänomenologie
2.3. Wissenschaftliches Handeln - sozialwissenschaftliche Leitlinien
2.4. Sozialgeographie als raumorientierte Handlungswissenschaft
2.5. Handlungszentrierte Sozialgeographie
2.6. Eine kritische Ergänzung zu Benno Werlens Thesen

3. Ontologische Grundlagen
3.1. Ontologie gesellschaftlicher Tatsachen
3.2. Gesellschaften
3.2.1. Traditionelle Gesellschaften
3.2.2. Moderne / spätmoderne Gesellschaften
3.3. Raumontologie
3.3.1. Prämoderner Raum
3.3.2. Moderner Raum
3.4. Kritik der ontologischen Grundlagen
3.4.1. Methodologischer Individualismus in der Kritik
3.4.2. Was ist die Moderne und wann begann sie wo?
3.4.3. Gesellschaftsformen oder Gesellschaftsprozesse?
3.4.4. Raumkritik

4. Konsequenzen für die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen
4.1. Region und Regionalisierung
4.2. Typen von Regionalisierungen
4.2.1. Produktiv-konsumtive Regionalisierungen
4.2.2. Normativ-politische Regionalisierungen
4.2.3. Informativ-signifikative Regionalisierungen
4.3. Alltägliche Regionalisierungen in der Kritik

5. Diskussion

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Modellhafte Rekonstruktion des Handlungsablaufs

Abb. 2: Weltbezüge des Handelns im Sinne Karl Poppers

Abb. 3: Drei-Welten Modell und Weltbezüge des menschlichen Handelns im Sinne Schütz‘

Abb. 4: Verhaltensmodell behavioristischer Sozialgeographie

Abb. 5: Handlungszentrierte Sozialgeographie

Abb. 6: Raumkonzepte der Geographie

Abb. 7: Geographie - Wissenschaft von Aktivitäten zwischen Sinn und Materie, sowie zwischen Sein und Sollen

Abb. 8: Regeln und Ressourcen

Abb. 9: Institutionelle Dimensionen der Moderne

Abb. 10: Typen von Regionalisierungen nach Werlen

Abb. 11: Für die handlungszentrierte Sozialgeographie verwendete Theorien

Abb. 12: Schematischer Gesellschaftsprozess

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Differenzierungskategorien zwischen Prä- und Spätmoderne

Tab. 2: Merkmale traditioneller Gemeinschaften

Tab. 3: Merkmale spätmoderner Gesellschaften

Tab. 4: Prämoderne - moderne Raumkonzeption

Tab. 5: Werlens sechs Thesen

Tab. 6: Vor- und Nachteile des Gesamtkonzepts der Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen

1. Einleitung

Benno Werlens handlungszentrierte Sozialgeographie und ihre Konsequenzen für die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen beinhalten wichtige Gedanken, die eine ausführliche Auseinandersetzung erfordern. Vor allem, weil eine raumorientierte Handlungswissenschaft angestrebt wird. Die Kernfrage lautet daher: Was bedeutet dies für die Sozialgeographie und wie kann es gelingen, der Handlung zugrunde liegende Gegebenheiten zu analysieren? Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, das Konzept kritisch zu diskutieren und ihren Mehrwert für die Sozialgeographie auszuarbeiten.

Im zweiten Kapitel werden die Kernidee der Sozialgeographie in Erinnerung gerufen und darauf aufbauend die Thesen Werlens erläutert. Anschließend werden die Metatheorien einer Kritik unterzogen und nach möglichen Ergänzungen gefragt.

Das dritte Kapitel arbeitet die ontologischen Grundlagen aus, die Werlen in Anlehnung an Giddens‘ Strukturationstheorie vornimmt. In der Kritik werden hier die polarisierenden Gedanken ausgearbeitet und danach gefragt, wie das Handeln der Menschen analysiert werden kann, indem alle der Handlung konstitutiven Elemente berücksichtigt werden können.

Im vierten Teil werden aus den vorherigen Kapiteln die Konsequenzen für die Sozialgeographie alltäglicher Geographie ausgearbeitet und die vielfältigen Forschungsbereiche, die den Regionalisierungstypen zugrunde liegen, betont. Im Kritikteil werden die Gedanken Werlens kritisch beleuchtet.

Im fünften Teil werden die Ergebnisse diskutiert und die Kritikpunkte weitergedacht, sodass der Mehrwert der handlungszentrierten Sozialgeographie erst mit den ergänzenden Gedanken sichtbar wird, weil die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen gesellschaftsrelevante Debatten anstoßen kann und als interdisziplinäres Fach ein großes Potential hat, um gesellschaftliche Prozesse aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Dies ist in diesen Zeiten umso wichtiger, weil die Analyse des alltäglichen Geographie-Machens globale Wechselwirkungen aufdecken und sich entsprechend für ein nachhaltiges Handeln stark machen kann. In diesem Sinne wird dem Wunsch nach problemlösungsorientierter Forschung Rechnung getragen.

Die Arbeit wird mit einem Fazit abgeschlossen.

2. Die Kernidee der Sozialgeographie

Werlen stellt in seinem Einführungswerk „Sozialgeographie“ (Werlen 2000) die Kernidee der Disziplin vor. Dabei steht die wissenschaftliche Erforschung des Verhältnisses von Gesellschaft und (Erd-)Raum im Vordergrund. Die Kernfragen „Wie organisieren sich Gesellschaften in räumlicher Hinsicht? Welche Rolle spielen die räumlichen Bedingungen für das Zusammenleben in einer Gesellschaft?“ (Werlen/Lippuner 2016: 688) verdeutlichen die unterschiedlichen Theoriehorizonte und ein breit gefächertes Themenfeld, welche die Geographie mit der Soziologie verbinden.

Während Geographen*innen erdoberflächliche Erscheinungsformen beschreiben und erklären, analysieren Soziologen*innen die gesellschaftlichen Dimensionen menschlicher Lebensformen. Rückblickend hat die allgemeine Geographie die physisch-materiellen Daten überbetont. Anders die Soziologie, die sich weitgehend auf die sozialen Verhältnisse konzentriert und physisch-materiellen Bedingungen weitgehend ausgeklammert bzw. als bloße „Daten, mit denen zu rechnen ist“ (Weber 1980: 3) betrachtet hat (Werlen 2000). Die Sozialgeographie bildet „die Schnittstelle der Erkenntnisinteressen“ (Werlen 2000: 19) zwischen beiden Disziplinen und vereint geographische und soziologische Themen. Werlen verortet die Sozialgeographie damit als sozialwissenschaftlichen Teilbereich der Geographie. Er ist zwar nicht der erste, der ein Umdenken fordert, aber der erste, der in diesem Bereich grundlegende Ideen weitergedacht hat (Werlen 2000).

Seine Konzeption entwickelt er anhand von sechs Thesen, die im nächsten Kapitel erläutert werden. Diese können als Grundlage seiner Gedanken verstanden werden, auf die er sein Konzept der handlungszentrierten Sozialgeographie aufbaut.

2.1. Menschliches Handeln im Raum

Werlen vertritt die These, dass die Sozialgeographie nur handlungstheoretisch ihr Ziel erlangen kann. Diese These betrifft das Verhältnis zwischen der von Dietrich Bartels (1931-1983) angesprochenen Handlungstheorie und der von Anne Buttimer (1938-2017) vorgeschlagenen Verhaltenstheorie (Werlen 2010: 240). Unter diesem Abschnitt wird versucht, modellhaft einen Handlungsablauf zu rekonstruieren (Abbildung 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Modellhafte Rekonstruktion des Handlungsablaufs.

Quelle: Eigene Darstellung nach Werlen 1998: 89.

Im Sinne der klassischen Handlungstheorie wird „Handeln“ und „Handlung“ als intentionale Tätigkeit beschrieben. Damit ist gemeint, dass es zusätzlich zu dem in den kognitiven Verhaltenstheorien berücksichtigten Aspekt der Reflexivität auch die Intentionalität als konstitutives Element zu berücksichtigen gilt. Handeln kann demnach als eine menschliche Tätigkeit bezeichnet werden, die bewusst und zielorientiert abläuft. Sie ist nicht determiniert, sondern auf ein Ziel hin entworfener Akt, welcher vom Handelnden äußerlich (beobachtbare Muskeltätigkeit), innerlich (geistige Tätigkeit) aktiv herbeigeführt wird. Alfred Schütz (1899-1959), Philosoph und Begründer der phänomenologischen Soziologie, betrachtet das Ergebnis des ablaufenden Prozesses, also das vollzogene Handeln, als Handlung (Schütz 1971a: 77). Die Prozesselemente des Handlungsablaufs werden hier rein analytisch erörtert. Sie helfen, das „alltägliche Handeln beschreib- und analysierbar“ (Werlen 2000: 317) zu machen. In analytischer Hinsicht ist davon auszugehen, dass »Handeln« in Motive, Gründe usw. zerlegt werden kann. Es bedeutet jedoch nicht, dass dies die Art und Weise ist, wie Handelnde ihr Tun erörtern oder unterscheiden.

Abbildung 1 zeigt, dass bei jeder Handlung analytisch vier Prozesssequenzen unterschieden werden. Diese werden in der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur nach verschiedenen theoretischen Interessen thematisiert.

Die Bildung der Intentionalität der Handlung wird als vorbereitende, planende, antizipierende Sequenz des Aktes im Rahmen einer Situation (I) gesehen und als erstes Prozesselement als Handlungsentwurf bezeichnet. Hier ist es wichtig zu wissen, nach welchen Gesichtspunkten Wissenschaftler hypothetische Mittel für bestimmte Zwecke festlegen bzw. eine Entscheidung treffen, die die Handlungsabläufe und die gewünschten Erwartungen/Ziele anderer Gesellschaftsmitglieder berücksichtigen.

Die Situationsdefinition bezeichnet die zielspezifisch interpretative Sequenz, in der die Situation (I) als Situation (I‘) strukturiert wird. Je nach Gesichtspunkt des Wissenschaftlers werden die zielrelevanten und verfügbaren Mittel (physich-materiell-sozial) bestimmt und für die Handlungsverwirklichung ausgewählt. Die nicht verfügbaren zielrelevanten Elemente werden als »Zwänge« des Handelns bzw. der Situation angesehen. Zu berücksichtigen ist die Situationsdefinition, die unter geltende Werte und Normen zu thematisieren ist.

Die durchführende Sequenz des Aktes wird Handlungsrealisierung genannt. Hier wird die Situation (I) umgewandelt, verändert oder bewahrt. Die „technische Komponente (Zweck-Mittel-Relation), die Legitimität des Handelns oder den Konsens/Dissens stiftende Komponente der Handlung“ (Werlen 1997: 39) wird je nach Gesichtspunkt des Wissenschaftlers hervorgehoben.

Die letzte Prozesssequenz (Handlungsresultat) umfasst die beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen der durchgeführten Handlung. Diese Sequenz ist möglichst aus allen Blickwinkeln zu betrachten: Was bedeutet die Handlung für den Handelnden selbst als Situation (II)? Was bedeutet sie für andere Handelnde und für die Situation (I) selbst? Ebenso können Forschende die aus dem Handlungsakt resultierenden, Folgen als neue Voraussetzung für zukünftige Forschungsfragen berücksichtigen. Nach Schütz können diese Sequenzen offenkundig in die äußere Welt gerichtet sein oder verdeckt ablaufen (Werlen 2000: 319; Werlen 1997: 39ff; Schütz 1971: 77).

Diese Sichtweise unterstreicht ein besonderes Verständnis von Gesellschaft und soll kurz erläutert werden. Handlungen sollen demnach als Atome des sozial-kulturellen Universums begriffen werden. Gesellschaft und Kultur werden einerseits als Ergebnis vergangener und andererseits als Bedingung/Mittel zukünftiger Handlungen gesehen. Jede Handlungsweise muss dann ihrerseits als aktueller Ausdruck dieser Zusammenhänge verstanden werden.

Obwohl die Handlungen von Subjekten hervorgebracht werden, geht es hier weder um Individuen noch um Kollektive. In der handlungstheoretischen Sozialwissenschaft geht es also darum, gesellschaftliche Sachverhalte von der Handlung aus zu untersuchen. Festzuhalten ist, dass Handlungen immer nur unter „spezifischen sozial-kulturellen, ökonomischen, psychisch und physisch-materiellen Bedingungen“ (Werlen 2000: 320) vollzogen werden. Gesellschaftliches wird unter diesen Bedingungen über Handlungen und deren beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen in jedem Akt des Handelns produziert und reproduziert. Soziale Strukturen, Positionen und subjektive Intentionen dürfen deshalb nicht als unabhängige Phänomene dargestellt werden. Sie sind der Struktur und sozialen Position nicht äußerlich, sondern vielmehr als Medien der Handlungsorganisation, bzw. als Aspekte der Handlungen zu begreifen (Werlen 2000: 320).

Welches sind Werlens Argumente, die er im Unterschied zur Verhaltenstheorie (Abbildung 4, S. 17) hervorhebt?

- Soziale Gegebenheiten werden im verhaltenstheoretischen Ansatz mit ihren Bedeutungsgehalten als Umwelt bzw. vorgegebenes Informationsfeld vorausgesetzt. Dabei können sie nur die Reaktion des Individuums auf die vorgegebene soziale Welt thematisieren, jedoch nicht die Konstitution und gezielte Veränderung der sozialen Wirklichkeit. Mit ihr kann eine „Psycho-Geographie des Individuums, nicht aber eine Sozial-Geographie“ (Werlen 1998: 89) begründet werden, da sie die kognitiven Voraussetzungen des Individuums ins Zentrum stellt, aber nicht den Bezug seiner Tätigkeit zu anderen Personen bzw. der sinnhaften Orientierung an deren Aktivitäten. Werlen hebt hervor, dass erst über die intentionale Struktur, der sinnhaften Orientierung der Handelnden, der gesellschaftliche Kontext in seiner historischen Dynamik analysiert werden kann bzw. der Analyse zugänglich gemacht werden kann.
- Aufgrund der Intentionalität der Handlungen können die bewussten Bezugnahmen auf andere Mitglieder der Gesellschaft dargelegt werden. Bei dieser Argumentation bezieht sich Werlen auf Weber (1864-1920) und spricht von sozialen Handlungen. Dabei sind Handlungsentwürfe gemeint, die die Erwartungen eines anderen Akteurs miteinbeziehen (Weber 1980). Von sozialen Beziehungen kann dann gesprochen werden, wenn die Bezugnahme gegenseitig stattfindet. Sie können sich zu verschiedenen Typen sozialer Institutionen wie Politik, Markt ausbilden, wenn sie von gleichen Prinzipien geleitet und regelmäßig auftreten.
- Werlen weist auf die standorttheoretischen Untersuchungen hin und unterstreicht, dass es nicht möglich ist, Entscheidungen in das Verhaltensmodell zu integrieren. Für ihn kann jede Entscheidung nur im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel getroffen und somit nur im Rahmen eines handlungstheoretischen Ansatzes widerspruchslos dargelegt werden (Werlen 1998: 89f).

Mit der handlungstheoretischen Neuorientierung der Sozialgeographie sieht Werlen weit größere Forschungsansätze, die Zugänge zur sozialen Welt eröffnen und die soziale Bedeutung erdräumlicher Anordnungsmuster erklären.

Werlen hat seine handlungszentrierte Sozialgeographie auf zwei metatheoretischen Grundlagen entwickelt und begründet diese mit drei Thesen, die aufeinander aufbauen. Diese werden im Folgenden vorgestellt und bilden den erkenntnistheoretischen Kontext seiner Ideen (Werlen 1998: 90).

2.2. Erkenntnistheoretischer Kontext

In Anlehnung an die angelsächsischen Theorien spatial approach und humanistic geography diskutiert Werlen die Grundlagen zweier Metatheorien.

2.2.1. Kritischer Rationalismus

Zuerst begründet er seine zweite These mit dem kritischen Rationalismus. Diese gebe keine Begründung für die Definition der Sozialgeographie als Raumwissenschaft nach naturwissenschaftlichem Vorbild ab, sondern als Handlungswissenschaft der objektiven Perspektive (Werlen 1998: 90). Seine zweite These baut auf die Drei-Welten-Ontologie Karl Poppers (1902-1994) auf, der sich mit seinem Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ vor allem für offene Diskurse eingesetzt und die Eigenverantwortlichkeit in den Vordergrund gestellt hat. Wie Abbildung 2 zeigt, untergliedert Popper die Welt analytisch in drei ontologisch verschiedene Teilwelten ein. Die Welt 1 bezeichnet die physischen Gegenstände und Zustände. Die Welt 2 die Gegenstände des Bewusstseins des Denkens und die Welt 3 als die Welt der Ideen im objektiven Sinne (3). In der letzten Welt (3) werden Problemsituationen an sich und gesellschaftliche Gegebenheiten, also geistig-kulturelle Tatsachen bezeichnet und betreffen die Welt der Theorien und deren logische Beziehungen. Popper behandelt die Welt 1 und Welt 3 unabhängig von der mentalen Welt (2). Während diese objektiv bestehen, ist die Welt 2 subjektiv definiert und nimmt eine Vermittlungsfunktion ein. In der Situation des Handels kann die Welt 3 nämlich nur über das Bewusstsein des Menschen und seine Handlungen auf die Welt 1 wirken. Das heißt, dass die subjektiv mentale Welt 2 nach Popper keine aktive Rolle in Erkenntnis- und Handlungsprozessen einnimmt. Obwohl die Welt 3 vom Menschen geschaffen ist, ist sie vom Bewusstsein des Handelnden unabhängig und weist wie die Welt 1 wichtige logische Implikationen auf (Werlen 1998: 91).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Weltbezüge des Handelns im Sinne Karl Poppers.

Quelle: Eigene Darstellung nach Werlen 1998: 89.

Obgleich die Gegebenheiten der Welt 1 hinreichende Bedingungen für andere Gegebenheiten sein können, haben die Bestandteile der Welt 3 nur den Status einer notwendigen Bedingung. „Eine kausale Implikation können demnach nur jene Erklärungen aufweisen, die sich auf Gegebenheiten und Probleme in der physischen Welt beziehen, nicht aber jene, die sich auf die soziale Welt beziehen bzw. auf die Welt des menschlichen Handelns und dessen unbeabsichtigte Nebenfolgen“ (Werlen 1997: 101f). Der Unterschied zwischen Welt 1 und Welt 3 ist das Vorhandensein von Kausalgesetzen in der Welt 1. Anders soziale Phänomene und Gesellschaften, die sich nicht mit naturwissenschaftlichen Kausalgesetzen erklären lassen. Die Gültigkeit von Kausalgesetzen ist nur vorhanden, sofern die Wenn-Komponente für die Dann-Komponente hinreichende Bedingungen darstellt. Diese können aber nur über die physische Welt (1) formuliert werden. Eine sinnvollere Zugangsmöglichkeit ergibt sich deshalb durch die Betrachtung der Handlungen. Dies bedeutet, dass die Elemente der Welt 3 als Handlungsfolgen aufgefasst werden und je nach Situation unterschiedlich zu betrachten sind. Daher schlägt Popper für die Sozialwissenschaften eine Situationsanalyse vor. Verfahren der Situationsanalyse sollen nämlich helfen, empirische Forschungen nach den wissenschaftstheoretischen Leitlinien des kritischen Rationalismus durchzuführen. Hervorzuheben ist, dass die Forschungskonzeption die objektive Struktur für die Handlungen entscheidender betrachtet als deren Ziele. Mit Poppers Argumentation revidiert Werlen Bartels Vorschlag einer „handlungsorientierten Raumwissenschaft“ und schlägt dafür die Bezeichnung „raumorientierte Handlungswissenschaft“ vor. Damit sollen erdräumliche Gesamtmuster als objektive Strukturen der Handlungsfolgen betrachtet werden und davon ausgehend eine handlungstheoretische Gesellschaftsforschung in objektiver Perspektive geleistet werden (Werlen 1997: 101f; 1998: 92).

2.2.2. Die Phänomenologie

Weil Karl Poppers objektive Erkenntnisperspektive kein erkennendes Subjekt zulässt, schlägt Werlen mit seiner dritten These die phänomenologische Metatheorie vor. Diese lässt ebenfalls keine verhaltenstheoretische Grundlegung geographischer Forschung zu, sondern eine handlungstheoretische Forschung der subjektiven Perspektive. In der Tradition Edmund Husserl (1859-1938), Begründer der phänomenologischen Erkenntnistheorie, geht es nicht nur darum, „[…] die logische Gültigkeit menschlicher Erkenntnisprozesse nachzuweisen, sondern auch darum, die Voraussetzungen der formalen Logik aufzuhellen“ (Werlen 1997: 112). Alfred Schütz (1899-1959) baut auf Basis Husserls Ideen seine Theorie aus und beide gehen in erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Hinsicht von einer entgegengesetzten These aus. Für sie sind die Bedingungen objektiver Erkenntnis im erkennenden Subjekt begründet: Es gibt keine subjekt-unabhängige Erkenntnis. Alles zu Erkennende ist in seinen Bedeutungen vorerst in intentionalen Bewusstseins- und Handlungsakten zu konstituieren. Schütz, Philosoph und Soziologe, rekonstruiert vor diesem Hintergrund ein Drei-Welten-Modell.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Drei-Welten Modell und Weltbezüge des menschlichen Handelns im Sinne Schütz‘.

Quelle: Eigene Darstellung nach Werlen 1998: 93.

Aus der Abbildung 3 wird ersichtlich, dass die drei Welten jeweils unterschiedliche Konstitutionsvoraussetzungen haben. Die soziale Welt (I2) umfasst alle anderen Handelnden und insbesondere deren Sinnsetzung in Handlungen und Artefakte. Sie und die physisch-materielle Welt (I3) konstituieren sich erst in der Du-bezogenen Lebensform des handelnden Ichs. Ihre Intersubjektivität trifft sich in der unmittelbaren Face-to-face-Situation, die immer eine Reflektion erfordert. Zwischen beiden wird auch der Sozialisationsprozess angesiedelt. Die subjektive Welt (I1) kennzeichnet sich durch ihren Erlebnisstrom und stellt das unaufmerksame Erleben der Welt in ihrer ganzen Fülle dar. Für Schütz gelangen erinnerungsfähige Erlebnisse der reinen Dauer im verfügbaren Wissensvorrat des Handelnden ins Bewusstsein. Das heißt, dass die intentionale Bewusstseinsleistung für die soziale und physische Welt die Bedeutung ihrer Gegebenheiten erhält. Die Konstitution der physischen Welt (I3) ist die Welt der Natur bzw. der physischen Dinge. Sie wirkt über die Erinnerung auf das erlebende Ich ein und widerspiegelt sich auch im unmittelbaren Wirkungsbereich des Handelnden. Der Körper ist demnach als das Bindeglied zwischen der subjektiven und physischen Welt zu begreifen. Zugleich bestimmt er als Träger von Erkenntnis und Handlung das jeweilige Hier und Jetzt (Werlen 1997: 128ff).

Die Konstitution verschiedener Welten und die Weltbezüge des Handelns verdeutlichen, dass Orte an sich keine Sinngehalte aufweisen, sondern handelnde Personen. Sie geben über ihre Erinnerung, ihr Bewusstsein und ihr Wissen den Orten Sinn. Entsprechend der Diversität der handelnden Personen und der unterschiedlichen Handlungssituationen unterscheidet sich der konstituierte Sinngehalt von Orten. Werlen stützt die handlungszentrierte Sozialgeographie auf den phänomenologischen Argumentationskontext und fordert die Erforschung der Gesellschaft in subjektiver Perspektive auszurichten. Sozialgeographen sollen nicht vom Raum, sondern von den subjektiven Sinngehalten der Handlungen ausgehen (Werlen 1998: 94).

Mit seiner vierten These setzt Werlen die phänomenologische Forschungskonzeption ins Verhältnis zum kritischen Rationalismus. Beiden ist gemeinsam, dass sie eine handlungstheoretische Gesellschaftsforschung aus unterschiedlichen Perspektiven bevorzugen. Während Poppers Weltbezüge die objektive Perspektive analysieren, beleuchten Schütz‘ Weltbezüge die subjektive Perspektive der Handelnden. Nach Werlen sind beide Forschungsperspektiven in einem sich ergänzenden Verhältnis zu sehen. Seine vierte These begründet er erstens mit dem absolutem Realismuspostulat, weil die physische wie soziale Wirklichkeit für Popper einen objektiven Status aufweisen, so dass sie falsifiziert werden können. Zweitens mit dem relativen Realismuspostulat, bei dem Schütz davon ausgeht, dass jede Realität für das handelnde Ego nur in der Form relevant ist, wie es in ihren Bedeutungen konstituiert ist. Obwohl die Argumentation beider unterschiedliche Perspektiven beleuchten, schließen sie sich nicht aus. Zumal Schütz die Existenz einer objektiven sozial-kulturellen Wirklichkeit nicht leugnet, sondern sie als das Ergebnis der Erkenntnisleistung der Subjekte sieht und sich fragt, unter welchen Voraussetzungen sie entstehen und bestehen können. Anders Popper, der die Existenz objektiver sozialer Tatsachen unkritisch voraussetzt (Werlen 1998: 93ff).

Seit dem Kieler Geographentag 1969 hat sich die Geographie zum Ziel gesetzt, geographische Themen problemlösend anzugehen und gesellschaftliche Debatten anzuregen. Vor allem für die Humangeographen heißt es, dass wenn sie soziale Probleme lösen möchten, zuerst wissen müssen, in welchen subjektiven und objektiven Sinnzusammenhängen die Handlungen gestanden haben, die dazu führten.

Werlen betont in seiner Dissertation die realistisch-objektivistische Perspektive. Diese sei ausreichend, um soziale Probleme zu erforschen. Zumal ihr Verfahren mit einem geringeren Aufwand verbunden ist. Sollte sich mit dieser Methode kein zufriedenstellendes Ergebnis erzielen, ist nach den phänomenologischen Standards wissenschaftlichen Handelns vorzugehen (Werlen 1997: 56f). Besonders wichtig ist die bewusste Hinwendung zu Problemen der Alltagspraxis, was wiederum eine besondere Verantwortung der Wissenschaftler bedeutet (Werlen 1998: 89f).

2.3. Wissenschaftliches Handeln - sozialwissenschaftliche Leitlinien

Wissenschaftliches Forschen ist nichts anderes als eine menschliche Tätigkeit, die sich strukturell ebenso wenig von anderen Aktivitäten unterscheidet. Wissenschaft ist daher als eine soziale Betätigung zu begreifen und unterscheidet sich von jenen Handlungen, die hier im Speziellen im Gesellschaftsbereich „Wissenschaft“ aktiv ist. Wissenschaftliches Handeln orientiert sich mit unterschiedlicher Auffassung an Handlungsmuster und kann als institutionelles Handeln bezeichnet werden. Ihr Unterschied zu anderen Institutionen einer Gesellschaft wie Politik, Wirtschaft, Bildung, Religion u. a. besteht darin, dass sie eine übergeordnete Zielsetzung hat und sich durch ihre spezifische Orientierung abgrenzt. Dadurch ergeben sich bestimmte Handlungsmuster und Handlungserwartungen, die aus allen Bereichen der Gesellschaft kommen. Der Umfang dieser Arbeit begrenzt die Auseinandersetzung mit der Institution Wissenschaft, und doch ist auf ihre Verantwortung für die Gesellschaft hinzuweisen. Denn ihr kommt eine besondere Rolle zu, weil sie theoretisch und praktisch der Menschheit dienen sollte. Umso wichtiger ist es, dass Wissenschaftler nicht nur ihre Rolle stetig reflektieren sollten, sondern auch ihr wissenschaftliches Handeln. Für das wissenschaftliche Handeln ist neben dem Forschungsziel und der Perspektive, das (Vor-)Wissen, vor allem, das für wahr gehaltene Wissen entscheidend. Im Allgemeinen ist dies die zentrale Bedingung menschlichen Erkennens und Handelns (Werlen 1997: 54ff).

Für die Praxis schlägt Werlen vor, die sozialwissenschaftlichen Grundlagen handlungstheoretischer Sozialgeographie nach einer Ordnung der verschiedenen Handlungstheorien zu klären. Damit soll ein Vergleich und eine Bezugnahme ermöglicht werden. Als Ordnungskriterium soll die soziale Wirklichkeit dienen. Umfassende Zugänge zur sozialen Wirklichkeit eröffnen zweckrationale, norm- und verständigungsorientierte Handlungstheorien. Sie eröffnen nach seiner fünften These unterschiedliche Lösungen: Mit der zweckrationalen Handlungstheorie sind technische Problemaspekte zu analysieren und Mittel für die gegebenen Ziele anzugeben. Die normorientierte Handlungstheorie soll bei der Ziel- und/oder Mittelwahl die soziale Ordnung ins Zentrum stellen. Sie hat bei der Lösung von Problemen die sozialen Normen und kulturellen Werte der Handelnden zu berücksichtigen. Konfliktpotentiale bieten vor allem Verständnisprobleme bei subjektiv unterschiedlichen Sinnkonstitutionen. Diese können mit der verständnisorientierten Handlungstheorie gelöst werden (Werlen 1997: 390; 1998: 95f).

Je nach Forschungsinteresse bieten die Handlungstheorien die Chance, soziale Wirklichkeit umfassend zu thematisieren. Je nach Umfang des Forschungsaufwandes kann zuerst jener Bereich erfasst werden, der hypothesenrelevant ist.

2.4. Sozialgeographie als raumorientierte Handlungswissenschaft

Die Geographie versteht sich traditionellerweise als eine Disziplin, die sich mit räumlichen Sachverhalten befasst. Während die Physische Geographie als der naturwissenschaftliche Ansatz der Geographie verstanden wird, beschäftigt sich die Humangeographie mit dem Verhältnis Mensch und Raum. Theoretisch gibt es kaum ein Thema, mit dem sich Humangeographen nicht befassen könnten. Praktisch ist die breite und vielfältige Themenwahl die größte Herausforderung. Allein Begriffsdiskussionen verdeutlichen die Auseinandersetzung, die noch heute geführt wird: Soll mit räumlichen oder gesellschaftlichen Begriffen geforscht werden?

Spätestens seit Wolfgang Harkte (1908-1997) ist von einem Paradigmawechsel die Rede und Werlen gilt als ihr stärkster Verfechter. Er hat innerhalb der Humangeographie eine Diskussion angeregt und setzt sich unermüdlich für eine raumorientierte Handlungswissenschaft ein. Auch weil er die sozialwissenschaftliche Geographie in der Pflicht sieht, lebenspraktische Probleme zu lösen. Seine Thesen zur handlungszentrierten Sozialgeographie sind auch nur in dieser Pflicht zu verstehen und erfordern, eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand, der Methodologie, der Forschungstechnik und den Fachbegriffen. Vor allem aber sieht er die Sozialgeographie in der Pflicht, mit sozialwissenschaftlichen Methoden zu forschen. Um die Forschungsrichtung auf den Forschungsbereich „Gesellschaft“ zu beziehen, ist es daher ratsam, von raumwissenschaftlichen Begriffen zu weichen (Werlen 1999: 253). Seine Forderung wird dann offensichtlich, wenn man sich vor Augen führt, dass soziale Sinngehalte in der physischen Welt nicht eindeutig lokalisierbar sind. Ebenso ist es unmöglich, sozial-kulturelle Gegebenheiten wie Normen und Werte, einen materiellen Status aufzuzwingen. Für Werlen „nimmt »nur« der Körper des Handelnden einen eindeutig definierbaren Standort ein, nicht aber die Sinngehalte, die seine Tätigkeiten leiten“ (Werlen 2010: 251). Sich auf Popper und Schütz schützend, betont er mit seiner sechsten These, dass die Reduktion des Sozial-kulturellen und seinen subjektiven Interpretationen bzw. Grundlagen erdräumlich zu fixieren, unmöglich ist und fordert für jeden ontologisch differenten Bereich ein eindeutiges Referenzmuster der Lokalisierung.

Mit seinen sechs Thesen führt er sein Hauptanliegen aus und schafft die Voraussetzungen, um die handlungszentrierte Sozialgeographie zu begründen und ihre forschungspraktische Umsetzung zu ermöglichen (Werlen 2010: 251f).

2.5. Handlungszentrierte Sozialgeographie

Kritiker sehen mit der handlungszentrierten Sozialgeographie die Geographie als wissenschaftliche Disziplin in Gefahr. Sie vernachlässigen dabei, dass die Geographie aufgrund ihrer Raumfixierung wenig Anerkennung findet bzw. auf die Physische Geographie beschränkt wird. In diesem Abschnitt wird die handlungszentrierte Sozialgeographie in den Blick genommen und kurz dargestellt, warum Benno Werlen sie als Handlungswissenschaft definiert. Diese klare Definition ist nur im Vergleich zum verhaltenstheoretischen Ansatz der Sozialgeographie zu verstehen.

Die Aufmerksamkeit wird in der Verhaltenswissenschaft auf die subjektive Raumwahrnehmung gerichtet und „[…] die räumliche Umwelt wird nur in der Form verhaltensrelevant, wie sie von den Individuen wahrgenommen wird“ (Werlen/Lippuner 2016: 697). Als Zweig der Sozialgeographie haben die kognitive Verhaltenstheorien eine vielfältige Anwendung erfahren und können als eine Weiterentwicklung des klassischen Behaviorismus aufgefasst werden. Im Verhaltensmodell der behavioristischen Sozialgeographie („behavioral geography“) wird, anders als im klassischen Behaviorismus, das Verhalten nicht mehr im unmittelbaren Reiz-Reaktions-Bezug beschrieben. Reize werden vielmehr über den Aspekt der Reflexivität, des Bewusstseins und der Kognition betrachtet und anschließend als verhaltensrelevant erklärt. Die Abbildung 4 (S. 17) gibt das Argumentationsmuster dieses Forschungsansatzes vereinfacht wieder. Darin wird die kognitive Komponente als „[…] Interpretations- und Perzeptionsfilter von Reizen“ (Werlen 1997: 36f) aufgefasst und als Information bezeichnet. Es zeigt sich deutlich, dass das menschliche Verhalten in diesem Theoriekonzept als Reaktion auf kognitiv zu Informationen verarbeitete, aus der sozialen und der physischen Umwelt selektiv empfangene Stimuli erklärt wird und in erdräumlichen Dimensionen besondere Berücksichtigung findet (Werlen 1997: 37).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Verhaltensmodell behavioristischer Sozialgeographie.

Quelle: Werlen (1998): Thesen zur handlungstheoretischen Neuorientierung sozialgeographischer Forschung. S. 88.

Das zentrale Forschungsthema des verhaltenstheoretischen Ansatzes ist somit die Raumwahrnehmung. Werlen sieht darin den besonderen Mangel, weil in den bisherigen Forschungsergebnissen keine umfassenden Erklärungen der individuellen Verhaltensweisen erreicht wurden. Besonders hervorzuheben ist, dass weder die Gründe für die differenzierten subjektiven Wahrnehmungen noch deren Folgen für die verschiedenen Verhaltensweisen untersucht bzw. miteinander in Beziehung gesetzt werden (Werlen 1997: 37).

Im Schlusswort seiner umfassenden Analyse zu Gesellschaft, Handlung und Raum schlägt Werlen vor, das Forschungsziel der Sozialgeographie handlungstheoretisch zu entwerfen. Hier fordert er die genaue Unterscheidung zwischen den Begriffen Verhalten und Handeln/Handlung. Oben wurde bereits deutlich, dass die Definition von Verhalten im Sinne des klassischen Behaviorismus eine beobachtbare, d.h. sinnlich wahrnehmbare Tätigkeit meint. Im Vergleich zu Verhalten wird Handeln/Handlung als menschliche Tätigkeit, zusätzlich zu den kognitiv-verhaltenstheoretischen Aspekten der Reflexivität, im Sinne eines intentionalen Aktes begriffen. Für die Konstitution des Handelns sind sowohl sozial-kulturelle, subjektive wie auch physisch-materielle Komponenten bedeutsam. Gemäß dieser Auffassung wird die Situation des Handelns von den Subjekten in Bezug auf die Intention definiert (Werlen 2000: 313).

Handeln können demnach nur Menschen, die aufgrund von unterschiedlichen wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen unterschiedliche Ziele verfolgen. Die Zielerreichung hängt auch von den gesellschaftlich auferlegten Umständen ab (Werlen/Lippuner 2016). Die folgende Abbildung 5 unterstützt die Argumentation und verdeutlicht, dass die zentrale Aufgabe handlungszentrierter Sozialgeographie die Analyse der Handlungsweisen ist, die zu bestimmten Anordnungsmustern geführt haben oder führen. Peter Sedlacek sieht darin eine Möglichkeit, die Bedeutung dieser Anordnungsmuster „als Bedingungen weiteren Handelns“ (Sedlacek 1982: 192) erlangen zu können und damit zu erforschen, welche Arten des Handelns sie ermöglichen und welche sie verhindern. Daraus gewonnene Erkenntnisse ermöglichen es, die individuellen und sozialen Konsequenzen dieser Geographien in lokaler und globaler Hinsicht zu erklären.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Handlungszentrierte Sozialgeographie.

Quelle: Werlen (1998): Thesen zur handlungstheoretischen Neuorientierung sozialgeographischer Forschung. S. 89.

Werlen sieht die Aufgabe der handlungszentrierten Sozialgeographie darin, die alltäglichen Formen des Geographie-Machens auf wissenschaftliche Weise zu untersuchen. Nach diesem Ansatz ist nicht nur davon auszugehen, dass Menschen ihre eigene Geographie machen, sondern es muss ebenso analysiert werden, unter welchen Umständen Menschen handeln. Darunter fallen gesellschaftlich auferlegte Bedingungen, wodurch deutlich wird, „[…] dass nicht alle Menschen über dieselbe Macht bzw. dasselbe Gestaltungspotential verfügen“ (Werlen/Lippuner 2016).

Seine Begründung ist für das Konzept der „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ entscheidend und wird im vierten Kapitel vorgestellt (Werlen 2000: 310). Folgend werden die Thesen Werlens kritisch ergänzt.

2.6. Eine kritische Ergänzung zu Benno Werlens Thesen

Mit der Drei-Welten-Ontologie Poppers begründet Werlen seine zweite These, wodurch die Sozialgeographie als Handlungswissenschaft der objektiven Perspektive konzipiert werden müsse. Die Frage bleibt, ob diese Metatheorie des kritischen Rationalismus wissenschaftlich fruchtbar ist, nur weil sie alltagsweltliche Hypostasierungen bewusst werden lässt. Popper deutet die Welt 3 als die Welt der objektiven Ideen, die er zur Unterscheidung benötigt, um die logische Struktur des Problems zu erklären und zu verstehen. Hans Heinrich Blotevogel (geb. 1943) steht diesem „Versuch, die Kulturwissenschaften unter das szientifische Paradigma zu subsumieren“ (Blotevogel 1999: 11) kritisch gegenüber. Anders als bei Werlen habe die Drei-Welten-Ontologie in der Philosophie des 20. Jahrhunderts keine bedeutende Position eingenommen. So ist es verständlich, dass er die Theorie in einem wesentlichen Punkt umdeutet. Wo der Begründer die Welt 3 (objektive geistige Welt) zur Unterscheidung zur Welt 2 (geistige Welt der psychischen Erlebnisse) differenziert, vernachlässigt Werlen dies und deutet die Welt 3 um in eine soziale Welt „vom Menschen geschaffen“ (Werlen 1998: 91). Dies erlaubt ihm die „ontologische Klassifikation mit weitreichenden präskriptiven methodologischen Schlussfolgerungen“ (Blotevogel 1999: 11). Mit der Drei-Welten-Ontologie wird versucht, die mentale Seinsweise (Welt 2) von der physischen Seinsweise (Welt 1) und der sozialen Seinsweise (Welt 3) zu trennen. Alle drei Welten sind Phänomene, die aufeinander bezogen sind. Eine Trennung birgt nicht nur erhebliche Schwierigkeiten, sondern blendet auch wichtige Zusammenhänge aus. Die Trennung erlaubt es jedoch, den „Raum“ auf den materiell-physischen Raum der Erdoberfläche zu beschränken und dies ist das wichtigste Argument Werlens. Denn damit wird Soziales, Kulturelles und Mentales „unräumlich“ (Blotevogel 1999: 13) gedacht und hier stellt sich die Frage, ob die Reduktion nötig ist. Auch wenn eine Trennung methodologisch sinnvoll erscheint, wirft Werlen einen zentralen Begriff der Humangeographie (Raum) aus der Sozialgeographie heraus und möchte damit einen Geodeterminismus vermeiden und sich auf die Handlungen der Subjekte konzentrieren.

Insgesamt wird bei der Interpretation der Drei-Welten-Ontologie in der innergeographischen Diskussion vor allem die strenge Differenzierung zwischen den drei Welten besprochen (Weichhart 1999: 70; Zierhofer 1999: 165ff). Die Diskussion zeigt, dass die verschiedenen Seinsbereiche einen unterschiedlichen ontologischen Status aufweisen. Während Werlen keine Zusammenhänge sehen möchte, können Peter Weichhart und Wolfgang Zierhofer diese nicht leugnen. Tatsache ist, dass Popper die Zusammenhänge selbst nicht leugnete und diese Schwierigkeit erkannte. Heute bleibt die Frage offen, wie man den Zusammenhang zwischen „Sinn und Materie“ (Zierhofer 1999:164) aufdecken kann, ohne in einem Geodeterminismus zu verfallen? Popper beantwortete die Frage damit, dass unsere psychischen Zustände einige unserer physischen Bewegungen steuern und diese wohl eine Wechselwirkung aufweisen (Weichhart 1999: 70f). Damit bestätigt sich sowohl Weichharts als auch Zierhofers Kritik des Raumexorzismus, was mit dem ontologischen Pluralismus bezweckt werden soll (Weichhart 1999: 72f; Zierhofer 1999: 168). Dies spricht aber gegen die von Giddens vorgeschlagene Handlungstheorie. Handeln wird demnach „durch Intentionalität und die Fähigkeit definiert, Veränderungen in den Welten 1, 2 und/oder 3 zu bewirken“ (Weichhart 1999: 73). Seiner Begründung kann nur zugestimmt werden, weil in vielen Handlungsakten die Elemente der Welt 1 involviert sind. Denn sie bilden eine materielle Basis der Handlungen und müssen mit analytischen Werkzeugen in der physisch-materiellen Welt lokalisiert werden. Weil die physisch-materiellen Gegebenheiten erdräumlich unterschiedlich verteilt sind, ist die „Kategorie der immobilen materiellen Artefakte von besonderer Bedeutung“ (Weichhart 1999: 73). Denn sie strukturieren sowohl die physisch-materielle Welt als auch die soziale Welt in ihren erdräumlichen Dimensionen (Weichhart 1999: 73; Werlen 1997: 180ff).

Das bedeutet, dass methodische Instrumente nötig sind, die sozialwissenschaftlich verträgliche Raumkonzepte erlauben. Darauf haben Geographen verschiedene Antworten. Wesentlich ist, dass ihre Antworten sich auch in den Begriffsdefinitionen unterscheiden. Hierbei handelt es sich um den Begriff „Raum“ als das zentrale Erkenntnisinteresse des Faches. Obwohl dieser als der Schlüsselbegriff der Geographie angesehen wird, gibt es keine eindeutige Begriffsdefinition. Weichhart rät von der Pragmatik der Sprache auszugehen und stützt sich dabei auf die analytische Sprachphilosophie. Anstatt metaphysisch zu spekulieren, rät er, nach dem Zweck zu fragen (Weichhart 1999: 74). Die Zwecksetzung meint in diesem Zusammenhang die pragmatischen Aspekte der Sprache und besagt, dass jede sprachliche Kommunikation das Verhalten der Gesprächsteilnehmer beeinflusst. Auf diese Gedanken stützend unternimmt er eine Bestandsaufnahme und listet die verschiedenen Verwendungsweisen des Wortes „Raum“ auf, die sich in der Geographie, den Nachbardisziplinen und der Umgangssprache finden. Die Abbildung 6 zeigt die Raumkonzepte in der Geographie.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6: Raumkonzepte der Geographie.

Quelle: Eigene Darstellung nach Weichhart 1998: 76.

Weichhart und Zierhofer betonen, dass der Handlungsbegriff die drei Welten verknüpft und theoretisch keinen Geodeterminismus zulässt. Beide Geographen stützen sich auf die analytische Sprachphilosophie und möchten Raumbegriffe als sprachliche Konventionen darstellen. Während Weichhart sich auf die Pragmatik beruft, stützt sich Zierhofer auf die Sprechakte. Weichhart hat Geographie, Germanistik und Philosophie studiert und begründet seine Argumentation mit der Pragmatik, die das Verhältnis von sprachlichen Ausdrücken und ihren spezifischen Verwendungssituationen untersucht. Für ihn wird die Sprache nicht nur verwendet, um Informationen zu transportieren, sondern auch, um Adressaten zu beeinflussen und ihm eine bestimmte Reaktion nahezulegen (Weichhart 1999: 75).

Zierhofer wählt Werlens Rekonstruktion Schütz‘ Ontologie des Sozialen als Ausgangspunkt, um seine Argumentation zu begründen. Er stellt fest, dass Werlens Rekonstruktion des Handlungsbegriffs eine Unterscheidung von sozialen Strukturen erzwingt. Auf der einen Seite stehen intersubjektive und auf der anderen Seite gesellschaftliche Sachverhalte. Damit wird Gesellschaft mit sozialen Strukturen gleichgesetzt. Handlung ist jedoch als Vermittlungsinstanz zwischen den drei Welten zu begreifen. Diese umfassen sowohl subjektive als auch physische Sachverhalte. Für die Humangeographie ist diese Erkenntnis entscheidend, denn sie erlaubt ein umfassenderes Gesellschaftsverständnis. Weil weder Schütz noch Werlen die Seinsweisen der verschiedenen Welten genau definieren und ihre Verbindung untereinander nicht aufschlüsseln, füllt Zierhofer diese Lücke. Die Unterscheidung von Sinn, Materie und Soziales ist für das Selbstverständnis denkender Wesen wichtig. Sie erlauben Menschen eine Vorstellung von ihren Aktivitäten zu haben und können die Konsequenzen im Voraus erahnen oder im Anschluss reflektieren. Besonders hervorzuheben ist, dass Zierhofer den Zusammenhang der Welten nicht unbedingt ontologisch begründet haben will, sondern als Möglichkeiten auf verschiedenen Ebenen betrachtet. Denn ontologisch müsste man zwischen einem Monismus, Dualismus oder Pluralismus unterscheiden und diese lassen Zusammenhänge außen vor. Er interpretiert die Schützsche Drei-Welten Ontologie in eine „Quasi-Ontologie“ (Zierhofer 1999: 169) und löst die Schwierigkeiten der metaphysischen oder spekulativen Begründungen durch einen einfachen Monismus auf. Damit gelingt es ihm, einfache Aussagen über die Realität zu machen und die Zusammenhänge pragmatisch zu begründen. Seine sprachpragmatische Konzeption erlaubt es, dass kommunizierende Subjekte in jeder Handlungssituation ihre Repräsentationsweisen wählen. Schütz, und mit ihm auch Werlen, konzipieren die drei Welten als Konstitutionsleistungen sinnverarbeitender Subjekte. Dieses Konzept ist der Bewusstseinsphilosophie zuzurechnen. Die drei Welten werden hierbei als universelle Strukturen der menschlichen Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeit gesehen. Da Zierhofer Handelnde als kommunizierende Subjekte versteht, begründet er seine Argumentation sprachphilosophisch. Materie, Sinn und Soziales werden daher „als ein Produkt und Instrument der Kommunikation“ (Zierhofer 1999: 169) betrachtet (Zierhofer 1999: 164ff).

Für Zierhofer, wie für Werlen, ist die phänomenologische Metatheorie wichtig, da sie, anders als Poppers Drei-Welten-Ontologie, ein erkennendes Subjekt zulässt und deshalb nur handlungstheoretisch begründet werden kann. Anders als Giddens und Werlen denkt er das Drei- Welten-Modell Schütz‘ sprachphilosophisch weiter. Dies ist insofern wichtig, denn die Bedingungen objektiver Perspektive im erkennenden Subjekt begründet liegen, und alles Erkennende in seinen Bedeutungen vorerst in intentionalen Bewusstseins- und Handlungsakten zu konstituieren ist. In dieser Erkenntnis siedelt Zierhofer seine Gedanken an und konzentriert sich auf die soziale Ordnung, die Schütz fasst und erklärt. Die Wissenschaftler sind sich darüber einig, dass eine Handlung für Schütz „eine sinnvolle Einheit von Tätigkeiten eines individuellen Subjektes“ (Zierhofer 1999: 170) ist. Dem liegt zugrunde, dass in der Handlung bzw. mit dem Handlungsvollzug Interaktionen zwischen den Handlungspartnern stattfinden. Verbal oder nonverbal findet Kommunikation statt. Sowohl Interaktion als auch Kommunikation werden in erster Linie als Leistungen des Bewusstseins der Subjekte begriffen. Das Bewusstsein der Subjekte ist immer individuell und daher beschreibt Schütz soziale Ordnungen als Formen der Intersubjektivität. Anders als Schütz sieht Zierhofer Kommunikation nicht nur als wechselseitige Interpretation von Zeichen und Symbolen innerhalb eines Handelnden, sondern als eines zwischen den Handelnden. Er nimmt die Qualität der Beziehungen in den Blick und begründet seine Argumentation mit Jürgen Habermas‘ „Theorie kommunikativen Handelns“, weil dieser die Sprechakttheorie auf die Grundlagen des Schützenschen Handlungsbegriffes stellt. Dies ermöglicht es, aufzuzeigen, dass Sprache Verbindlichkeiten zwischen Kommunizierenden erzeugt und die gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Analyse der Pragmatik der Sprache rekonstruiert werden können. Zierhofer führt sowohl Habermas‘ als auch Werlens Ideen mit der sprachpragmatischen Handlungstheorie fort und sieht darin einen Gewinn für die Sozialgeographie. Im Zentrum seiner Analyse stellt er das Konzept des Sprechaktes von John L. Austin (1911-1960) vor. Ohne ins Detail zu gehen, soll hier erwähnt werden, dass mit Sprechakten das Verhältnis von Reden und Handeln untersucht wird. Eine Handlung wird demnach durch eine Äußerung vollzogen. Wie eine Äußerung verstanden und entsprechend gehandelt wird, ist nicht nur vom Sender, sondern ebenso vom Empfänger abhängig. Dieser Umstand bestätigt, dass Kommunikation und Interaktion für die Strukturierung des Zusammenlebens von Handelnden außerordentlich wichtig ist (Zierhofer 1999: 171).

Hier möchte ich die Argumente Zierhofers weiterdenken. Er begründet Sprechakte in einem wichtigen Punkt für die Sozialwissenschaft. Über die Sprache werden nämlich moralische und technische Normen in ihren Handlungsweisen geregelt. Diese gilt es zu analysieren, um den Legitimationsanspruch normativ geregelter Beziehungen, also die gesellschaftlichen Verhältnisse zu untersuchen. Über die sprachpragmatische Analyse lassen sich Ansatzpunkte im konkreten Umgang mit Wert-, Norm- und Legitimationsproblematiken untersuchen. Mit ihnen lassen sich soziale Verhältnisse hinterfragen. Ebenso lässt dies sowohl für den Sender als auch Empfänger Reflektionen zu. Für die Sozialwissenschaft bedeutet dies, nicht nur Lösungen von Problemen, sondern auch das Aufzeigen von Alternativen, die zumeist über die Reflexionsleistung der Handelnden erkannt werden (Zierhofer 1999: 174).

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Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Benno Werlens handlungszentrierte Sozialgeographie. Konsequenzen für die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Geographisches Institut)
Veranstaltung
Abschlussarbeit
Note
1,5
Autor
Jahr
2020
Seiten
87
Katalognummer
V1003018
ISBN (eBook)
9783346378767
ISBN (Buch)
9783346378774
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialgeographie, Handlungszentrierte Sozialgeographie, Benno Werlen, Alltägliche Regionalisierungen, Kritische Diskussion, Erich Fromm, Strukturationstheorie, Regulationstheorie, Sozialpsychologie, Regionalisierungen, Ontologische Grundlagen, Kritischer Rationalismus, Phänomelogie
Arbeit zitieren
Güllü Kisa (Autor:in), 2020, Benno Werlens handlungszentrierte Sozialgeographie. Konsequenzen für die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1003018

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