Elemente der polis im Kommunitarismus


Seminararbeit, 2001

12 Seiten, Note: Gut (2,0)


Leseprobe


Gliederung

Einleitung

I. Die Polis bei Aristoteles

II. Der Kommunitarismus
1. Der Ausgangskonflikt
2. Die Gemeinschaft bei den Kommunitariern
a) Charles Taylor
b) Alasdair MacIntyre

III. Schlußfolgerungen

Literatur

Einleitung

Spielt die antike politische Philosophie in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion eine Rolle? Orientieren sich die Vertreter bestimmter Strömungen hieran?

Diese Frage soll hier für die sogenannten Kommunitarier im Bezug auf die aristotelesche Polis erörtert werden, die laut Reese-Schäfer 1 nicht vor „philosophischen Dinosauriern“ - zu denen hiernach auch Aristoteles gehört- zurückschrecken, um ihre Ansichten argumentativ zu untermauern. Eine Rolle kann der Kommunitarismus auch in aktueller politischer Diskussion spielen2.

Die Darstellung erfordert demnach zunächst die kurze Definition der idealen aris- toteleschen Polis im Hinblick auf die für die Fragestellung zentralen Gesichtspunkte. Dabei wird es nicht darum gehen können, die Konzeption Aristoteles ‘ von Widersprüchen zu befreien und eine umfassende, geschlossene Darstellung zu erarbeiten. Hierauf folgend wird der Kommunitarismus auf Positionen hin untersucht, in denen die Polis als Ideal aufgegriffen wird. Einleitend wird dem eine Einführung in den Kommunitarismus und den zugrundeliegenden Konflikt mit dem Liberalismus vorangestellt. Hierbei ist es nötig, die Unterschiede innerhalb der beiden Gegenpositionen zu übergehen und exemplarisch zu arbeiten. Eine umfassende Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Positionen innerhalb des Kommunitarismus würde in seriösem Umfang enzyklopädische Ausmaße annehmen. Entscheidend ist aber, daß es für die hier verfolgte Fragestellung lediglich auf die allgemeinen gemeinsamen Aussagen der als Kommunitarier bezeichneten Autoren zum Holismus im Gegensatz zum Atomismus, also der Rückbesinnung auf ein gemeinschaftliches Wertesystem, ankommt. Die Auswahl der Quellen wird auf die in der von Honneth herausgegebenen Sammlung „Kommunitarismus“ (1993) vertretenen Beiträge beschränkt. Im Laufe der Darstellung wird sich zeigen, daß Charles Taylor und

Alasdair MacIntyre die fruchtbarsten, weil plakativsten Äußerungen hierzu von sich geben.

Endlich geht es im Abschnitt „Schlußfolgerungen“ (IV.) darum, sich von den Ausgangspunkten Polis einerseits und Kommunitarismus andererseits, so weit folgerichtig zu lösen, daß ein Vergleich gezogen werden kann. Geht die Abstrakti- on nicht weit genug, besteht die Gefahr, daß zeitgenössische Besonderheiten über- bewertet, und voreilige (Zirkel-)Schlüsse von geringem Erkenntnisgewinn beför- dert werden. Hierunter würde etwa die Erörterung der Rolle der Frauen (und ggf. Sklaven - fraglich ist, wem diese Rolle heute in diesem Sinne zukäme) im Ver- gleich zur heutigen Situation fallen. Das erübrigt sich, wenn vom allgemeinen Standpunkt Aristoteles ‘ ausgegangen wird3.

I. Die Polis bei Aristoteles

Nach Aristoteles ist „Glückseligkeit“ (eudaimonia)4 das erstrebenswerte Endziel des menschlichen Handelns und damit des Daseins5. Das Zusammenleben von Menschen muß demnach so gestaltet werden, daß dieses Ziel erreicht wird. Dies ist für ihn nur in der Polis möglich6, ist der Mensch doch ein zoon politikon 7 . Die Polis ist die höchste Ebene der Gemeinschaft, in der die „Dörfer“ (Singular: kome) zusammengefaßt sind8, die sich wiederum aus mehreren Exemplaren der kleinsten Einheit, dem „Haus“ (oikos / oikia) bildet9. Das Haus wiederum besteht aus der Gemeinschaft von Mann und Frau - zur Erhaltung der Gattung Menschheit durch Fortpflanzung - und derjenigen von Herrn und Sklave zur Deckung des täglichen individuellen Bedarfs („Lebenserhaltung“)10. Systematisch unterscheiden sich Haus und Polis in den Arten der ausgeübten Herrschaft voneinander. Der Hausvor-stand gebietet im Haus alleine - mithin als Monarch - über seine Untergebenen, die Herrschaft in der Polis hingegen würde über seinesgleichen ausgeübt11. Die Polis ist eine Gemeinschaft von Staatsbürgern in einer bestimmten Verfas- sung12. Auf die verschiedenen von Aristoteles erörterten Verfassungen mit ihren Vor- und Nachteilen kommt es im Rahmen dieser Ausführungen indes nicht an, entscheidend ist lediglich der Rahmen, den die „Polis“ für das Leben in der Ge- meinschaft absteckt. Als Polis-Bürger sieht er jeden an, dem die Teilnahme an der beratenden und richtenden Gewalt offensteht13, und der gute Bürger kann sowohl regieren, als auch regiert werden14. Es finden sich keine repräsentativen Elemente, die Teilnahme an der Verwaltung der Polis erfolgt gemeinschaftlich und unmittel- bar durch alle Bürger. Das setzt wiederum voraus, daß eine gewisse geographische Größe und Anzahl an Bürgern nicht überschritten wird. Gigon faßt dies dahinge- hend zusammen, daß die Polis wie ein lebendiger Organismus nicht auf die maxi- male, sondern auf die optimale Größe hin ausgerichtet werden mußte - die ver- schiedenen Bestandteile sollten so groß wie möglich und so überschaubar wie nö- tig sein. Der unmittelbare Kontakt untereinander sollte nicht verhindert werden.15. Die Polis war also durch ihre Gemeinschaft von Bürgern geprägt und über den zum leben notwendigen Raum nicht territorial ausgerichtet16.

II. Der Kommunitarismus

1. Der Ausgangskonflikt

Kommunitarismus ist die Bezeichnung für eine gesellschaftstheoretische Strö- mung, die sich gegen die liberale Annahme wendet, ein allgemeines Prinzip glei- cher Rechte, Freiheiten und Chancen sei der (alleinige) normative Maßstab für die modernen westlichen Demokratien, bzw. die Gerechtigkeit („Das Rechte“) ginge den konkurrierenden Zwecken und Zielen der Menschen oder gar der Gemein- schaft vor. Prominentester Protagonist unserer Zeit der vom Kommunitarismus angegriffenen liberalen Position ist John Rawls, der in „A Theory of Justice“17 die theoretischen Grundlagen hierfür ausgearbeitet hatte. Rawls ging von einem Urzu- stand („original position“18 ) aus, in welchem sich die Individuen über die Grund- lagen des künftigen Miteinanders verständigen müssen19. Niemand soll in dieser Situation wissen, welches Geschlecht oder sonstigen Eigenschaften er und die an- deren besitzen. Die Verknüpfung von bestimmten Eigenschaften mit sozialen Vor- oder Nachteilen gleich welcher Art im Gesellschaftsfundament hat demnach Fol- gen, die das Individuum nicht abschätzen kann. In der (extremen) Konsequenz bedeutet dies: Man riskiert, sich selbst für den Rest seines Lebens in Sklaverei zu begeben, einigt man sich nicht auf das oben genannte allgemeine Prinzip gleicher Rechte, Freiheiten und Chancen, bzw. billigt man nicht allen Teilnehmern die Rechte freier und gleicher Bürger zu. Rawls formulierte hierzu zwei vorläufige Regeln, die in diesem Urzustand Ausgangspunkt für die weiteren Aspekte der „ge- rechten Gesellschaft“ sind:

„1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher rund- freiheiten haben, das mit dem gle ichen System für alle anderen verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positio nen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“20

Die Gegenposition, der Kommunitarismus, begann sich 1982 zu „formieren“. Als Beginn wird die Schrift „Liberalism and the Limits of Justice“21 von Michael J. Sandel angesehen22. Der Kommunitarismus hingegen behauptet, daß der Aus- gangspunkt dieser Theorie nicht den sozialen Tatsachen, insbesondere nicht den historischen Erfahrungen entspricht. Der Mensch sei kein Wesen ohne jede Wert- überzeugung und auch nicht frei von jedweden Einflüssen anderer Menschen. Die liberale Vorstellung vom eigenschaftslosen, ungebundenen isolierten Individuum („the unencumbered self“) ginge deshalb fehl. Problematisch ist in diesem Zu- sammenhang insbesondere das zweite oben genannte Prinzip Rawls ‘, das „Differenzprinzip“23. Unter das Merkmal „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten“ läßt sich ohne weiteres „Vermögen des einzelnen in Geld“ subsumieren. Ein gro- ßes Vermögen kann aber jedermann nur zum Vorteil dienen, wenn es mit ihm (je- dermann) irgendwie geteilt wird. Das setzt aber voraus, daß ein ungebundenes, eigenschaftsloses Selbst die Notwendigkeit bereits im Urzustand sieht, sich oder andere für die Zukunft zu verpflichten, anderen ungebundenen, eigenschaftslosen Selbsts die Teilnahme an den Vorteilen der zufälligen vorteilsbegründenden Ei- genschaften zu verschaffen24. Es ist nicht zu erklären, wie das ohne ein Mindest- maß an Gemeinsinn möglich sein soll, den das ungebundene, eigenschaftslose Selbst definitionsgemäß nicht haben kann. Es fehlt also eine Bezugsgröße, durch die eine Gruppe geschaffen wird, welche die Vorteile des einzelnen als Gemeingut beanspruchen kann. Sandel ist überzeugend, wenn er sich für die Aufrechterha l- tung des zweiten Gerechtigkeitskriteriums auf Kosten des Vorrangs des Rechten entscheidet25: Die Bindungen und Loyalitäten, die aus den persönlichen Verhält- nissen des Individuums und seiner Geschichte herrühren seien es, die den Men- schen ausmachen. Eine im liberalen Sinne bindungslose Person könne nicht als ideal, frei und rational, sondern müsse als charakterlos und ohne moralisches Rückgrat eingestuft we rden.

Hieraus folgt, daß sich die anthropologische Prämisse des ersten Gerechtigkeits- prinzips („der liberale Begriff der Person“26 ) nicht mit dem zweiten (und wohl auch vernünftigen und damit beizubehaltenden) Gerechtigkeitskriterium vereinba- ren läßt27.

2. Die Gemeinschaft bei den Kommunitariern

Wie bereits in der Einleitung ausgeführt wurde, kann die Darstellung an diesem Punkt der Arbeit nur recht oberflächlich ausfallen. Sie wird auf MacIntyre und Taylor beschränkt, da diese Autoren sich für die Holismus Ansätze am besten auswerten lassen.

a) Charles Taylor

In Umkehr der Definition des Atomismus durch Taylor 28 läßt sich Holismus als Erklärungsebene der Struktur des Individuums aus sozialen Handlungen und Be- dingungen und individuelle Güter als Produkte sozialer Güter bezeichnen. Ist das Individuum dort Urheber der Gesellschaft, schafft hier die Gesellschaft das Indivi- duum.

Prototypisch für eine atomistische Betrachtungsweise sind etwa die Vertragstheo- rien, die Taylor auch ablehnt. Er wendet sich gegen den Ansatz, der Mensch sei im Prinzip ein auf sich allein gestelltes Wesen ohne soziale Bindungen und hätte le- diglich als einzelner Rechte gegen die Allgemeinheit29: Der Mensch benötigt so- wohl eine Sprachgemeinschaft als auch eine gemeinschaftliche Vorstellung von „Gut und Böse“, um zu einem moralischen Wesen werden zu können. Erst in einer Gemeinschaft lassen sich eigene Ziele verfolgen und eigenständiges Handeln be- ginnen. Ferner setzen Ansprüche einen sozialen Zusammenhang, mithin für An- spruchsteller und -gegner eine „Verpflichtung dazuzugehören“ voraus. Die Ge- meinschaft ist hiernach den Individualrechten logisch notwendig vorangestellt. Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ist somit Bedingung und Inhalt der Freiheit - was für die Polis der Ansicht Aristoteles‘ sehr nahe kommt.

Erstaunlich ist für Taylor ferner, daß in einer Gesellschaft, die aufgrund der Spezialisierung der Produktion und Dienstleistung wie noch nie in der Geschichte auf Arbeitsteilung und das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage angewiesen ist, ausgerechnet atomistische Positionen propagiert werden30.

Der Wert eines Gemeinwesens zeigt sich in der Krise, wenn Rechte einzelner oder von Gruppen bedroht werden. Nach Taylor vermögen weder die ökonomische Demokratietheorie Schumpeters noch eine favorisierte Interpretation Rousseaus zu leisten31: Wenn - wie bei Schumpeter hier zugrundegelegt- die gemeinschaftli- chen Ziele nur Reflex der Individualinteressen sind, ist die aktive Beteiligung der (u.U. in ökonomischen Fragen nicht ausreichend kompetenten) Staatsbürger nicht erstrebenswert, ja vielleicht sogar nur störend. Die hieraus drohende geringe Iden- tifikation der Bevölkerung mit dem Gemeinwesen könnte darin münden, daß die- ses nicht nur nicht gepflegt, sondern außerdem seinen „Feinden“ preisgegeben würde.

Die angegriffene Spielart der rousseauschen Theorie betont den Gemeinwillen und den Anspruch der Bürger, sich selbst zu regieren. Darin kann sich das Gemeinwe- sen aber nicht erschöpfen, Konkurrenz, Eifersucht und Streit würden häufig32 schnell als falsch abqualifiziert, eine Einheit um jeden Preis droht. Dabei liefe man Gefahr, das produktive Potential der Lösung von Differenzen zu vernachlässigen. Dialektik und Ambivalenzen gingen verloren und blieben unausgeschöpft.

Taylors bevorzugtes Modell ist der liberale Republikanismus nach Tocqueville und Arendt. Es bietet sowohl den in einer freiheitlichen Gesellschaft notwendigen Raum für Streit als auch einen identitätsstiftenden Bezugspunkt für ein Gemein- wesen. Vorausset zungen für dessen Gelingen sind Solidarität gegenüber dem Ge- meinwesen, Partizipationsmöglichkeiten an den Entscheidungen, gegenseitigen Respekt und eine funktionierende Wirtschaftsordnung. Zum letzten Punkt wird angemerkt, daß Sozialismus und Kapitalismus für eine Demokratie bedrohlich sein können. Für den gegenseitigen Respekt soll vor allem ein (nicht überbordender) Wohlfahrtsstaat notwendig sein, für die Teilnahmemöglichkeiten an Entsche i- dungsfindungen hingegen stellen anonymisierte, entfremdete Massenverfahren die größte Gefahr dar. Besonders wichtig ist aber der erste Punkt, der identitätsstiften- de Bezugspunkt zum Gemeinwesen. Hier wird auf Patriotismus im eigentlichen Sinne, also ohne Berührungspunkte zum sog. Nationalismus abgestellt. Es geht um die freiwillige, positive Identifikation mit einem Gemeinwesen (Taylor spricht hier ausdrücklich von der „Polis“), ohne aggressive Elemente gegenüber anderen Ge- meinwesen außerhalb, „die Überzeugung, daß die politischen Institutionen (...) ein Ausdruck ihrer selbst sind. Die ,Gesetze‘ müssen als etwas angesehen werden, das ihre Würde als Bürger spiegelt und verfestigt... “33.

b) Alasdair MacIntyre

Ausdrücklich und ausführlich auf die Notwendigkeit von Patriotismus als Tugend und Voraussetzung für moralisches Handeln geht MacIntyre ein. Seine Position bedarf in den Augen des Verfassers einer unmittelbar folgenden Anmerkung. Zunächst definiert er Patriotismus als Loyalität gegenüber einer bestimmten Nati- on, die nur Angehörige dieser Nation haben können. Diese Loyalität bezieht sich nicht pauschal auf die eigene Nation, sondern setzt - in Abgrenzung zum Nationa- lismus - spezifische verehrungswürdige Vorzüge und Eigenschaften der eigenen Nation34. Er zeigt dann weiter, daß die Moral Regeln für das friedvolle Zusammenleben in der Gemeinschaft bietet35. Diese Regeln sind kein Selbstzweck, sondern haben sich durch Gebrauch und Nichtgebrauch entwickelt. Sind sie somit Bestandteil der oben angesprochenen „spezifischen verehrungswürdigen“ Vorzüge des Gemeinwesens, leuchten sie dem Patrioten unmittelbar ein und er wird sich nach ihnen zur Beförderung des Gemeinwesens richten. Ohne diese Gemeinschaft hätte man nach dem Selbstzweckkriterium allerdings keinen Grund moralisch zu handeln.

MacIntyre 36 führt dazu noch weiter aus, daß es a uf eine gewisse Irrationalität und ggf. auch widersprüchliches Verhalten ankommt. Als Beispiel führt er Adam von

Trott an, der zunächst die Nazis unterstützte, um größere Pläne gegen sie nicht zu gefährden. Indes scheinen die weiteren Ausführungen MacIntyres hier redundant, da es auf der Hand liegt, daß direkte und kürzeste Wege bei starken Gegnern nur in den seltensten Fällen zum Ziel führen.

Auch sollte einem denkenden Menschen der Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus unmittelbar einleuchten. Patriotismus als reaktionäre Eigen- schaft abzuqualifizieren, hieße zum einen Nationalisten die Definitionsmacht zu überlassen und zum anderen sich von „engagierten Nichtpatrioten“ Denkverbote auferlegen zu lassen. Die inhaltliche Originalität der Ausführungen MacIntyres mag insofern bezweifelt werden.

III. Schlußfolgerungen

Bezieht sich der Kommunitarismus nun auf die Polis Aristoteles ‘ ? Die Positionen MacIntyres und Taylors nehmen teilweise ausdrücklich Bezug auf die Polis, wenn sie sie synonym für das Gemeinwesen gebrauchen. Deutlich wird aber der personale Einschlag von Polis und Kommunitarismus. Die jeweiligen Gemeinwesen setzen sich aus Bürgern zusammen, die sich über Sprache und Herr- schaftsform verständigen. Es läßt sich vermutlich auch anthropologisch und sozial- psychologisch begründen, daß der Mensch für sein Wohlbefinden einen über- schaubaren Lebensraum benötigt, mit dem er sich verbunden fühlt und den er für beherrschbar hält. Für diesen Raum fühlt er sich idealerweise auch noch (mit-) verantwortlich und sorgt sich um dessen Erhaltung. Aus der Kriminologie ist die sog. Broken-Window-Theorie bekannt, nach der (vereinfacht und überspitzt) ei- nem zerbrochenen und lange nicht reparierten Fenster weitere Schäden folgen, bis eine Nachbarschaft nicht mehr zu bewohnen ist. Die funktionierende Gemein- schaft stoppt diesen Prozeß rechtzeitig.

Daß für die Durchsetzung von Individualrechten eine Gemeinschaft von An- spruchstellern und -gegnern notwendig ist, sollte ebenfalls unmittelbar einleuc h- ten. Auf eigene Rechte pochen kann man nur, wenn ein Dritter aus ihnen ver- pflichtet wird und das hat nur einen Sinn, wenn diese Verpflichtung auch durchge- setzt werden kann.

Eine Metapher Michael Walzers bringt die Rolle von identitätsstiftendem Bezug schön auf den Punkt: Ein Zimmer der Hilton Hotels mag praktisch und komforta- bel sein und überall eine vergleichbare Ausstattung haben. Ferner kann es für Ver- triebene, Flüchtlinge oder Exilanten eine Zuflucht bieten. Wohnlich ist es hinge- gen so gut wie gar nicht, wohl und zu Hause wird man sich dort kaum fühlen37. Dem kann ich mich nur anschließen (auch wenn die Metapher auf die luxuriöseren Reisegewohnheiten der Gegner des Kommunitarismus anzuspielen scheint).

Literatur

Aristoteles; Nikomachische Ethik (NE) - übers. und hrsg. von Olof Gigon; München 1991.

ders.; Politik (Pol.) - übers. und hrsg. von Olof Gigon; 8. Aufl., München 1998.

Braun, Eberhard / Heine, Felix / Opolka, Uwe; Politische Philosophie; 7. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2000.

Hansen, Mogens Herman; The Polis as a Citizen-State, in: ders. (Hrsg.) The Ancient Greek City-State - Symposium on the occasion of the 250th Anniversary of The Royal Danish Academy of Sciences and Letters, July, 1-4 1992, Historiskfilosofiske Meddelelser (Hfm) 67 (1993), S. 7ff.

Honneth, Axel (Hrsg.); Kommunitarismus - Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften; Frankfurt a.M., New York 1993.

MacIntyre, Alasdair; Ist Patriotismus eine Tugend?; in: Honneth (Hrsg.), S. 84- 102.

Mann, Golo / Heuß, Alfred (Hrsg.); Propyläen Weltgeschichte, 3. Band - Griechenland; Berlin 1986.

Rawls, John; A Theory of Justice; Cambridge (Mass.) 1971.

ders.; Eine Theorie der Gerechtigkeit; 10. Aufl., Frankfurt a.M. 1998.

Reese-Schäfer, Walter; Was ist Kommunitarismus?; 2. Aufl., Frankfurt a.M., New York 1995.

Sandel, Michael; Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst; in: Honneth (Hrsg.), S. 18-35.

Taylor, Charles; Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus; in: Honneth (Hrsg.), S. 103-130.

Der Tagesspiegel; „Ich bin ein in der Wolle gefärbter Humanist“, Gespräch mit Julian Nida-Rümelin; vom 8. Januar 2000 (Nr. 17 284), Seite 25.

Wesel, Uwe; Geschichte des Rechts; München 1997.

[...]


1 S. 10.

2 Vgl. Der Tagesspiegel vom 8. Januar 2000, S. 25. Allerdings ist Julian Nida-Rümelin Professor für Philosophie in Göttingen und mit seiner (Vor-)Bildung daher nicht repräsentativ für die deut- sche Politik.

3 Als Beispiel sei nur die Definition des Polisbürgers (Pol. III 1, 1275b 18ff.) ausgegangen, unter die heute zwanglos Frauen subsumiert werden können. Braun/Heine/Opolka, S. 53 scheinen mit der Formulierung „heikelster und dunkelster Punkt“ im Bezug auf die Beschränkung der Teilhabe an der Macht auf „erwachsene griechische Männer“ zu sehr die damaligen Verhältnisse zu betonen.

4 Vgl. hier und im folgenden zu den Übersetzungen: Braun/Heine/Opolka, S. 47 und passim.

5 NE I 5, 1097b 14ff.

6 ausdrücklich: Pol. I 1, 1252a 1ff.

7 Pol. I 2, 1253a 1ff. Ob die Übersetzung Gigons als „staatenbildendes Wesen“ glücklich ist, mag dahingestellt bleiben, Braun/Heine/Opolka, S. 54 „politisches Lebewesen“ erscheint jedenfalls nur plausibel, wenn „politisch“ als Adjektiv zu „Polis“ verwendet wird.

8 Braun/Heine/Opolka, S. 53 vermuten unter Berufung auf Der kleine Pauly, Lexikon der Antike, Art. „Kome“, 1979, daß Aristoteles das Dorf nur aus historischen Gründen erwähnt, in den späteren Ausführungen geht er hierauf schließlich nicht mehr ein.

9 Pol. I 2, 1252b 25ff. (vom Dorf zur Polis), 5ff. (vom Haus zum Dorf).

10 Pol. I 2, 1252a 25ff.

11 Pol. I 7, 1255b 16ff.

12 Pol. III 1, 1276b 1ff.

13 Pol. III 1, 1275b 18ff. Auf den (vermeintlichen?) Widerspruch zu Pol. I 2, 1253b 1ff. wo er über die Zugehörigkeit etwa der Sklaven zum Haushalt auch zu deren Zugehörigkeit zur Polis gelangt, kommt es für die abstrakte Bestimmung nicht an.

14 Pol. III 4, 1277b 14ff.

15 in: Mann/Heuß(Hrsg.), Propyläen, S. 590.

16 Wesel, Rz. 106. Hansen, in: ders. (Hrsg.), Hfm 67 (1993) S. 7 spricht von einem „citizen-state“.

17 Cambridge (Mass.), 1971. Deutsch zuerst: Eine Theorie der Gerechtigkeit; Frankfurt 1975.

18 Rawls, 1971, S. 17ff. und passim.

19 nach Sandel, S. 24f.

20 Rawls, Theorie, S. 81ff.

21 Cambridge (Mass.), 1982.

22 Honneth, S. 7; Reese-Schäfer, S. 13.

23 Reese-Schäfer, S. 17; Sandel, S. 26.

24 Sandel, S. 25.

25 Sandel, S. 29f.

26 Reese-Schäfer, S. 19.

27 Sandel, S. 26ff. Er geht hier in der Beweisführung sogar noch weiter, indem er konsequent den „Minderprivilegierten“ Ansprüche nicht schon aufgrund weiterer Zufälligkeiten einräumt. Reese Schäfer, S. 18 hält dies indes für „metaphysisches Glatteis“.

28 Taylor, S. 103f.

29 Reese-Schäfer, S. 29ff.; Taylor, S. 112ff.

30 Reese-Schäfer, S. 30f.

31 Reese-Schäfer, S. 35ff.

32 Verwiesen wird hier bei Reese-Schäfer (der wiederum regelmäßig auf Taylor verweist), S. 38, auf Bürgerbewegungen. Hier soll bei Gruppen mit starkem Bewegungscharakter häufig bei denje- nigen Teilnehmern, die sich nicht im Vordergrund aufhalten, bald der Eindruck aufkommen, diese wären undemo kratisch.

33 Vgl. auch die Entwicklung bei Taylor, S. 110ff. unter Verweis auf u.a. Montesquieus „vertu“.

34 MacIntyre, S. 85f.

35 Vgl. zum folgenden MacIntyre, S. 90ff.

36 MacIntyre, S. 94ff.

37 Zitiert nach Reese-Schäfer, S. 125 a.E.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Elemente der polis im Kommunitarismus
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Polis, Reich, Staat
Note
Gut (2,0)
Autor
Jahr
2001
Seiten
12
Katalognummer
V100382
ISBN (eBook)
9783638988087
Dateigröße
358 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Elemente, Kommunitarismus, Polis, Reich, Staat
Arbeit zitieren
Nikolas Eschen (Autor:in), 2001, Elemente der polis im Kommunitarismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100382

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