In einer kalten, rumänischen Winternacht, in der Armut und Hoffnungslosigkeit allgegenwärtig sind, kämpfen die Geschwister Dorinel, Thoma und Lacrima ums Überleben. Dieses Buch entführt den Leser in eine Welt, in der die Liebe zur Familie und die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft die grössten Schätze sind. Dorinel, der älteste Bruder, trägt die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister und versucht, ihnen trotz der widrigen Umstände ein Stück Kindheit zu bewahren. Ihre Mutter, von einem gewalttätigen Ehemann verlassen, opfert sich auf, um ihren Kindern ein bescheidenes Zuhause zu bieten, während sie von einer besseren Zukunft träumt. Der tägliche Kampf ums Überleben auf den Strassen von Sibiu, zwischen bettelnden Kindern, korrupten Lehrern und der allgegenwärtigen Armut, wird eindrücklich geschildert. Doch inmitten dieser Dunkelheit gibt es auch Momente der Wärme, der Zuneigung und der unerschütterlichen Hoffnung. Die Geschwister finden Trost in den Geschichten ihrer Mutter, in den einfachen Freuden des Zusammenseins und in ihren Träumen von einer Welt, in der sie ihren Wünschen nachgehen können. Als eine Tragödie die Familie trifft, wird ihre Liebe und ihr Zusammenhalt auf eine harte Probe gestellt. Werden sie die Kraft finden, die Schicksalsschläge zu überwinden und ihren Traum von einer besseren Zukunft zu verwirklichen? Eine bewegende Geschichte über Familie, Armut, Hoffnung und die unzerbrechliche Kraft des menschlichen Geistes im herzzerreißenden Rumänien der Nachkriegszeit, ideal für Leser von historischer Literatur und sozialkritischen Romanen. Die Suche nach Nächstenliebe und Gerechtigkeit prägt diese Coming-of-Age Geschichte, die soziale Ungleichheit und familiären Zusammenhalt thematisiert. Entdecken Sie eine inspirierende Geschichte über Resilienz und die Bedeutung von Träumen in einer Welt voller Entbehrungen. Tauchen Sie ein in das authentische Rumänien und erleben Sie eine unvergessliche Reise in die Herzen einer Familie, die niemals aufgibt. Ein literarisches Meisterwerk, das soziale Probleme aufgreift und die Kraft der Hoffnung feiert, ideal für Leser, die tiefgründige Geschichten mit starken Charakteren suchen. Ein fesselnder Roman, der emotionale Tiefe und gesellschaftliche Relevanz vereint.
„Wir hätten uns einen anderen Platz aussuchen sollen.” „Weshalb?” „Dachtest du, wenn man vor einer orthodoxen Kathedrale bettelt wären die Menschen andern Muts? In ihr fallen sie auf die Knie und bitten um Vergebung, um danach gleich wieder ihr verabscheutes Leben zu führen. Aber man kann Gott nicht um etwas bitten. Verstehst du? Es wird sich nie etwas verändern, solange sie nicht in der Lage sind, aus ihrer kleinen und beschränkten Welt zu erwachen. Dabei würden mir 10’000 Lei genügen, doch sie gehen erhobenen Hauptes an mir vorbei.”
„Du, Kleiner! Ich würde gerne auf dein Geschwafel verzichten”, sprach ein Mann mit einem unausgeglichenen Unterton, als ob seine Mutter ihn nie etwas anderes gelehrt hätte. Er streckte die Lei Dorinel direkt unter die Nase.
„Nimm deine 10’000 und verschwinde!”
Dorinel schielte auf das Geld und gleichzeitig in die Augen seines Gegenübers. Er liess sich das Geld geben, dachte aber im selben Augenblick darüber nach, ob er dem Mann nun dankbar sein sollte oder nicht. „Komm. Lass uns gehen.”
Dorinel nahm seinen Bruder bei der Hand.
„Du hast recht. Schliesslich müssen wir noch auf den Markt.”
Sie schlenderten davon, die Metropolilei entlang. Zwischen den siebenbürgischen Häusern waren Rumänen und Zigeuner auf den Strassen. Es trieb sie der Hunger, weniger die Kälte, obwohl ihre Kleider etwas spärlich ihre Körper bedeckten. Thoma schien mit seinem Schritt zu zögern, bis er vor einer Glasscheibe stehen blieb und sich die Nase an ihr plattdrückte, wie es alle kleinen Kinder tun, weil sie noch träumen dürfen. „Thoma! Es ist doch wirklich immer dasselbe mit dir.”
„Aber sieh doch...”
„Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Wir haben nun einmal nicht das Geld dazu.”
„Nie kann ich jemandem eine Freude bereiten. Ich bin nicht so unvernünftig, wie du immer denkst. Nein. Und ich würde nun einmal gerne meiner Schwester etwas anderes als Nelken zum Geburtstag schenken, nur weil es zu dieser Jahreszeit nur Nelken gibt und wir darüber hinaus kein Geld haben. Sie wünscht sich nichts mehr, als diese Ballerina. Hast du nie in ihre grossen Kulleraugen geschaut, die noch grösser werden, wenn man die Schatulle öffnet und diese wunderbare Musik erklingt? Kinderlachen. Gibt es etwas schöneres auf dieser Welt?”
„Hör zu! Es ist für mich nicht weniger bitter. Ich spür’s doch auch jeden Tag in meiner Kehle, einen Geschmack, den ich nicht loswerden kann. Nur werde ich davon auch nicht satt.”
Der Markt ist im Winter ausgesprochen trostlos. Das Essen billig, ohne Qualität. Aber wen kümmert’s? Aus Restholz bestanden die Stände. Manchmal war ein Blechdach darüber. Kleider wurden angeboten, die bereits getragen wurden. Spielsachen, Gummibälle, Plastikautos und andere Dinge. Unechte Silberketten, Rosenkränze. Und natürlich Früchte und Blumen.
Eine alte Frau sass da, klein und grauköpfig, Wortlos riss sie mit ihren Zähnen ein Bündel Stoff in gleichmässige Streifen. Mit einer Pfeife, die sie sich wohl zuvor gestopft hatte, sass sie einfach da. Diese hing ihr im Mundwinkel und sie fing zu nähen an. Ein verschrumpeltes Kind.
Weihnachten war schon längst vorbei. In den Gesichtern standen noch die Überbleibsel der Glückseligkeit geschrieben. Dorinel und Thoma betrachteten daneben das Getümmel von greifenden und gestikulierenden Menschen. Sie sehen ihnen nach und die Fremden ihnen auch. Ohne die Früchte, den farbenfrohen, wäre das Bild in Grau und Schwarz ertrunken. Die Kleider waren schon etwas verwaschen, das Rot nicht mehr leuchtend, sondern blass. Die secondhand Geschäfte hatten zu diesem Preis eben nichts besseres anzubieten. Sie bezahlten ein Brot, purpelten daran herum und assen die Krümel. Gurrende Tauben bedeckten die Lanzen der Sonne und eine Briese streifte beider Haare.
Thoma betrachtete lange seinen Bruder. Ihm schien das Gesicht unheimlich süss in der Dämmerung. Die Gesichtszüge waren weich, mehr, als am helllichten Tage. Dorinel war für ihn das Liebste, was er hatte. Eine Zielstrebigkeit und zugleich eine Ruhe und Wärme gingen von Dorinel aus. Zwei Jahre war er älter. „Na du Tagträumer? Wir sollten langsam nach Hause gehen. Die Sonne wirft schon ihre Glut auf die Karpaten. Mam wird das Essen zubereitet haben.”
Sie liessen den Markt hinter sich. Über den Sibin führte eine schmale Brücke, die auf ein Feld mündete, worauf man einen Tag lang laufen konnte und es immer noch kein Ende gab.
Oft sass Dorinel da, auf dem Felde und suchte die Antworten in ein bisschen Wasser oder in dem einen Schrei eines Schmetterlings. Und immer, wenn er nach Hause zurückkehrte, stand er einfach nur da, mit seinem lieblichen Gesicht und alle wussten, dass er hinter seinem Rücken Blumen für seine Mutter in der Hand hielt, die er zuvor gepflückt hatte. Er behielt das Glück nie für sich alleine. Er teilte es mit seinen Geschwistern und seiner Mutter.
„Setzt euch.”
Auf dem Tisch stand feinsäuberlich eine angerichtete Suppe. Der Geruch von Hühnerfleisch, Reis, Gemüse und selbstgesammelten Pilzen stieg Thoma und Dorinel in die Nase.
„Wo wart ihr denn die ganze Zeit?”
„Sieh mal. Wir haben dir ein Brot mitgebracht.”
Rumänen essen nie eine Mahlzeit ohne Brot müsst ihr wissen. Fehlt das Brot, stimmt etwas nicht. „Wir waren in der Stadt, Strassenmusikanten spielten auf der Promenade.” Die Mutter stellte vor jeden einen Teller.
„Sie spielten von Spanien und ihren Festen. Von Italien, mit seiner Weite und der Sonne die sich auf deiner Haut niederlässt, dem endlosen Meer, mit seinen Geschichten über Dämonen, Wind und Wogen, dem Gischt, der gegen die Brüstung schlägt. Von Gesten und Worten. Und als wir gingen, waren die Klänge noch weit in den Strassen, zwischen den Gassen, an den Häusern. Sie versteckten sich dazwischen...” „Schade, dass ich nicht dabei sein durfte.”
„Ja, schade. Es hätte dir bestimmt gefallen.” „Lacrima, willst du noch ein bisschen?” Sie schöpfte.
„Die Kinder sind ein Geschenk Gottes”, vermochte sie immer zu sagen. Sie opferte ihnen ihr Leben. Der Vater hatte längst die Familie verlassen. So lag nun ihre ganze Hoffnung in den Kindern. Er hatte sie oft geschlagen. Manchmal, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. Die Kinder sahen hilflos zu, weinten, schreien. Aber nie hätte er ihnen auch nur ein Haar gekrümmt. Nein, so feige war er nun wirklich nicht. Der Arme bevorzugte sie mit Worten zu prügeln. Worte, die in jedem eine Narbe hinterliessen.
Thoma, Dorinel und Lacrima versteckten sich dann immer. Meist unter dem Tisch im Wohnzimmer. Das Bett lag zu tief, als dass alle drei darunter hätten Schutz suchen können. Sie hielten sich immer fest an den Händen und beteten das Vaterunser, dass die Mutter ihnen beigebracht hatte, wenn sie Abends „Gute Nacht” sagte. Niemals hätten sie dabei die Augen geöffnet. Der Schmerz kam aus den Tiefsten ihres Herzens und aus dem Tiefsten baten sie Gott.
So ging es hin und her, bis auch manchmal die Stille an die Tür klopfte und darum bat, eingelassen zu werden. Die Tränen klebten noch salzig an den Wangen und jeder versprach, dass es das letzte Mal gewesen sei. Doch das wirklich letzte Mal war, als der Vater sich erhängen wollte und die Mutter die Polizei rief. Er verschwand mit ihr und wurde seither nie wieder gesehen, geschweige denn gehört.
Der Hunger, der unersättliche war gestillt. Sie sassen noch beisammen, als Thoma, zum Erstaunen aller, das Geschirr zusammentrug und in die Küche brachte. Die Teller, Gläser, das Besteck wusch er rein. „Thoma, schau bitte, dass noch etwas Warmwasser übrigbleibt, damit wir uns noch waschen können.” „Ist gut Mam!”, schrie er um die Ecke.
Sie lebten einfach, mit Mangel an Warmwasser und ohne Strom, weshalb auch das ganze Haus mit Kerzen geziert war. Und eine brannte immerzu. Das Haus hatte die Mutter mit ihrem Mann, damals in der Zeit, wo noch ein Kommunist das Land regierte, aufgebaut, da ein fester Wohnsitz vorgeschrieben war. Überall entstanden Industriegebiete und darumherum schäbige Wohnblocks. Und warum sollten nicht auch sie ein schäbiges Haus besitzen? Alles wurde in dieser Zeit unterdrückt. Kirchen wurden abgerissen und an sonnigen Sonntagen Schule gegeben. Doch der Glaube konnte nicht verweht werden. Niemand konnte wissen, dass die Gedanken frei bleiben würden. Und über jedem Bett hing ein Spruch, ein Psalm: „Gott behütet uns, was auch geschehen mag.”
„Kinder, es ist schon spät.”
„Mam, du liesst uns doch noch eine Geschichte vor?”
„Bestimmt. Aber erst macht ihr euch für’s Bett fertig. Los, los.”
Und sie liefen in ihre Zimmer. Sie waren schon ganz aufgeregt, weshalb auch Lacrima ihren Schlafanzug
verkehrt herum angezogen hatte. Gleichzeitig drängten sie sich in das Badezimmer. Ihre Gesichter wuschen sie sich. Dann sass Dorinel auf dem Klo, die lange Unterhose über den Knien und die anderen zwei am Zähneputzen.
Die Mutter sass bereits am Kamin. Das Buch aufgeschlagen auf ihrem Schoss, betrachtete sie das flackernde Feuer. Die Kinder versammelten sich um sie herum und setzten sich auf den Boden. „Dieses Geschichte, die ich euch erzählen werde, ist eine Liebesgeschichte...”
Sie brach ab, als ob sie etwas erschreckt hatte und verharrte, als ob es ihr unheimliche Schmerzen bereiten würde. Sie schien auf etwas zu warten. Es verlangte ihrerseits eine Hingabe. Zum letzten Mal, bevor sich das erste Wort lösen und verhallen sollte, schloss sie ihre Augen und nahm einen letzten Atemzug... „Auf einem Stern lebte einst ein Engel. Da er alleine war, schaute er oft, voller Mitleid erfüllt auf die Erde und wünschte allen leidenden Wesen dort unten die Erlösung. Die Sonnenuntergänge stimmten ihn nur noch betrübter. Also beschloss er eines Tages, sich auf die Reise zur Erde zu begeben. Sanft breitete er seine Flügel über den ganzen Stern aus.
Lange flog er zwischen funkelnden Sternen und roten Planeten. Schon bald hatte er die Erde erreicht. Hilflos stand er vor der Menge, denn ein Keiner wollte seine Hilfe annehmen. Zu lange waren sie schon in ihrem Leid.
Der Engel wollte schon aufgeben, als er unverhofft einem Mädchen begegnete, mit goldenen Locken, die im Winde die Weite zu verzaubern schienen. Auch sie wünschte sich eine andere Welt. Und sie reichten sich die Hand.
Gemeinsam zogen sie durch’s Land. Jedes Kind, dass keine Familie besass, ging mit ihnen, bis die Schlange die halbe Welt bedeckte und es keine Tränen mehr gab.”
Geschichten sind dazu da, in Träumen, die facettenartig aufsteigen, sich selbst wiederzuerkennen. Ein Raum mit Spiegelungen, in deren Augen man gleichzeitig blicken muss...
Die Kinder waren eingeschlafen. Die Glut färbte ihre Gesichter und die Mutter am weinen. Sie trug eins nach dem anderen in die Zimmer und bedeckte die zerbrechlichen Körper mit der noch kalten Decke. Zum Abschied gab sie jedem einen Kuss auf die Stirn und fuhr mit der Hand durch ihre Haare und über die mondmilchigen Gesichter.
Im eigenen Gemach sass sie noch lange in der durchdrungenen Stille. Und als die Kerze niedergebrannt war, holte auch sie der Schlaf ein. Und sie doch wusste, dass Morgen wieder ein Tag kommen wird. „Lacrima, Dorinel, Thoma aufstehen. Wir haben alle verschlafen. Ihr müsst zur Schule.” „Was?”
Allesamt sprangen sie aus den Betten. Noch halb schlaftrunken vor Müdigkeit, taumelten sie in’s Wohnzimmer. Die Mutter bestrich noch das letzte Brot mit Senf.
„Hier. Damit ihr mir in der Schule nicht verhungert,” Die Brote wurden in den Ranzen gesteckt.
„Bis heute Mittag. Kommt nicht zu spät nach Hause zurück.”
Sie verschwanden durch die Tür. Nur konnten sie nicht ahnen, dass die Mutter noch lange ihnen nachblickte, bis der Horizont sie verschlang. Sie machte sich allemal zu viele Sorgen um die Kinder. Auch wollte sie der Nachbarschaft nicht zeigen, wie es um ihre Familie stand, obwohl es bei weitem ärmere Haushalte gab. Nämlich solche, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken konnten, weil sie auch keinen Sinn darin sahen. Und wenn man sie danach fragte, warum sie ihre Tochter nicht zur Schule schicken würden, gaben sie meist zur Antwort: „Du spinnst! Was willst du denn ewig lernen. Du kannst nicht nähen, du kannst nicht kochen, du bist als Frau nichts wert.”
Dann wurden die Kinder auf die Strasse geschickt, um zu betteln, damit der Vater, der Alkoholiker ist, auch bestimmt sein Bier, am Abend bekommt. Ohne Schuhe oder mit Krücken, mit Narben oder Jesusbildern um den Hals sprachen sie immerzu: „Wenn du mir Geld gibst, bitte ich Gott um deine Erlösung. Gesegnet sollst du sein.”
Manche liefen den Touristen nach, küssten deren Hand. Sie hätten alles für Geld getan, aus Angst vor ihren Eltern.
„Woher nehmt ihr euch das Recht zu spät zur Schule zu erscheinen?” „Verzeihung Frau Lehrerin. Wir haben verschlafen.”
„Und euch fällt nichts besseres ein? Ich lasse nicht zu, dass alle anderen Schüler an der Störung des Unterrichts leiden müssen. Geht unverzüglich auf die Knie und beugt euch vor!”
Nun gab es keinen Ausweg mehr. Sünder waren sie in den Augen der Lehrerin. Und Sünde wird bekanntlich vom Priester in der Beichte abgenommen, oder wenn man gerade nicht in der Kirche ist, im Klassenzimmer mit einem Schlagstock ausgetrieben.
„Du zählst die Schläge. Wenn du damit fertig bist, haben deine Geschwister das Vergnügen...” „Eins.”
„...”
„Ich kann dich nicht hören!” „Zwei.”
Stumm sassen alle Kinder in den Bänken. Nur vereinzelte wagten es, sich dies mitanzusehen. Dorinel hatte sein Gesicht vor Schmerzen verzogen. Immer musste er als erster seinen Hintern hinhalten, da er auch der Älteste war. Obwohl die Schmerzen immer unerträglicher wurden, gab er nicht auf. Allzu sehr liebte er seine Geschwister. Und wenn er einmal seinen Willen wirklich gebrauchte, so war er von dem Gedanken, den ihn durchdrungen hatte, nicht mehr abzubringen.
„Zehn.”
„Elf.”
Die Pausenklingel schellte. Die Lehrerin hielt ein. Schliesslich wollte sie zu ihrem Kaffeekränzchen nicht zu spät erscheinen.
„Vielen Dank Frau Lehrerin. Nur schade, dass die Stunde schon zu Ende ist.” „Wir können es gerne Morgen wiederholen Dorinel!”
Hier zu Lande waren nicht alle Schulen so. Es gab da zum Beispiel eine auf der linken Seite vom Sibin. Für das Kollegium spielten nur die Kinder eine Rolle. Sie scheuten nicht davor zurück, in ihrer Freizeit die Schule zu renovieren. Fenster anstreichen und so. Der Alltag sollte in ihren Augen nicht so trostlos sein, wie die einst grünen Klassenräume, und sie diese Farbe trugen, weil irgendwer in der kommunistischen Herrschaft Ceauçescous, auf die Idee kam, die Zimmer grün anzustreichen, damit die Kinder, die vom Land herkamen, sich wie Zuhause fühlen konnten.
Und nach Weihnachten führten sie das Weihnachtsspiel mit Maria und Joseph und dem noch ungeborenen Jesuskind auf. Sie hatten vielleicht nicht genügend geprobt, waren wie Kinder aufgeregt und unkonzentriert, aber die Aufführung war, trotz des vergessenen Textes und dem erbärmlichen Gesang, ein Fest für die Kinder. Gerade diese freuten sich am meisten und versuchten nach dem Spiel die Wanderungen der Hirten zu imitieren.
Träume. Träume wie Seifenblasen, vom Windhauch gemacht. Damals noch froh über das Geschenk, bis sie bemerkte, dass die Seifenblasen zu sinken begannen. Ganz sachte wiegten sie sich dem Boden entgegen. Und an in dem Augenblick, an dem sie ihre Lider schloss, waren sie zerborsten. Niemand war sich versichert, wo sie sich verloren hatten. Wahrscheinlich irgendwo zwischen Himmel und Hölle auf der Erde. Der Spiegel im Spiegel, ohne Ende, ohne Traum.
Die Hoffnung wurde widerwillig in ihre Seele gebrannt. Die Hoffnung auf die Träume, Sternübersternten Nächten und ihre Kindheit.
Sie lag wach. Ihr Bewusstsein in der wieder grauen Welt. Mühsam rappelte sie sich auf, machte sich einen Kaffee und rauchte lautlos eine Kippe. Schnurrend schlich Felix um ihre Beine.
„Oh! Du hast bestimmt heute noch nichts gegessen. Warte.”
Der Kater sprang auf den Tisch, worauf das Schüsselchen stand. Sie hörte die Tür in’s Schloss fallen. „Seid ihr schon zurück?”
„Die Lehrerin hat Dorinel geschlagen.” „Was? Niemand schlägt mein Kind!” Tränen stiegen ihr vor Wut in die Augen.
„Noch heute werde ich zu ihr gehen und zeigen, wie es ist, geschlagen zu werden!”
„Nein, bitte nicht. Lass es gut sein. Bestimmt wurde sie selbst geschlagen, wuchs gepeinigt auf und glaubt daran, so die Sitte beibehalten zu können. Und ausserdem tut es auch nicht mehr sonderlich weh.” Eine Zeit lang war es still. Keiner wusste, was er sagen sollte. Die Augen der Mutter waren verbittert. Zutiefst hatte sie dies getroffen. Niemand wusste, wo man zu ihr gelangen, wo man sie erreichen konnte. Sie starrte einfach in’s Leere, auf Wände, die keine mehr waren.
Das erste Wort musste der Mutter gebühren...
„Wisst ihr, meine Hoffnung liegt alleine in euch dreien, in jedem einzelnen von euch. Ich möchte, dass ihr mehr Möglichkeiten besitzt, als ich in meiner Jugend. Damals war es bereits entschieden, dass ich heiraten und im Haushalt arbeiten werde.”
Schweigen. Es drang in ihre Köpfe. Langsam schlich es sich an, genauso blutrünstig, wie beim letzten Mal. Und schon hatte es sie erwischt. Die Silben waren verloren. So vieles zu sagen, aber die Zunge war gerade dabei sich zu räuspern. Sie hörten zu, hörten lieber zu.
„Und die Alten werden nur älter. Besitzen tun sie nichts mehr, ausser die Erinnerungen an die vergänglichen Tage, an die Liebe, die einst ungebändigt ihre Herzen erfüllte. Nun gehört euch diese Welt. Ich will euch die meine schenken.”
Die letzten Falten lösten sich von ihrem Gesicht. Sie schloss kurz die Augen, um einen neuen Gedanken gebieren zu lassen.
„Ich hatte Besuch. Angela war bei mir.” „Und? Geht’s ihr gut?”
„Nun ja, sie hatte nicht sonderlich viel Zeit. Vom Markt war sie gekommen und brachte mir Kaffee mit. Erwähnt hat sie nur, dass es ihrer Familie nicht sonderlich gut gehe. Es wäre eben Winter, hat sie gesagt.” „Wir müssen sie besuchen!”
„Heute nicht mehr. Morgen werden wir gehen.”
Etwas abseits von Sibiu lebte die Zigeunerin Angela im Dorf im Tal, diesseits der Hügel. Der Schnee erfüllte die Wintertage. Kristallene Welt.
Sie nahmen den ersten Bus. Während der Fahrt zog Dorinel Bleistift und Papier hervor und zauberte verträumt Worte auf das einst weisse Stück. Sein Kopf ruhte in seinen Händen. Er starrte in die dahineilende Landschaft, weil auch er nicht wusste, wohin er wollte...
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
„Lacrima, wenn du älter bist, wirst du mich verstehen können. Bis dahin halte ich es von dir fern.” „Ich bin doch schon älter.”
„Ha, ha. Sehr witzig. Ich spreche von einem Jahr oder zwei.” Sie schmollte, hob etwas ihren Kopf und drehte ihn zur Seite. „Na, na. Pass bloss auf, dass dein Mund nicht so bleibt.”
Jetzt war es mit der Gutmütigkeit endgültig vorbei. Lacrima versuchte ihre Augenbrauen besonders ernst wirken zu lassen, wobei sie ihren Mund noch weiter verzog. Friedlich lächelte Dorinel vor sich hin. Er war sichtlich vergnügt.
„Sind wir bald da?”
„Es dauert nicht mehr lange.”
Der Bus hielt auf der Sachsenchausée von Rasinari, vor Parohia, dem Pfarrhaus. Unabhängig, welche Anliegen in ihnen hausten, war die der Platz, wo alles geschah.
Der Schnee knarrte unter den Schuhen, als sie die Strasse herunterliefen. Manchmal hatte es auf dem Gehweg gegen jeden mathematischen Grundsatz verstossende Tritte. Auf einer Böschung waren die ersten Häuschen der Zigeuner zu erkennen. Aus manchen Schornsteinen stieg Rauch auf.
„Mam, warum leben sie hier unten und nicht da, wo die Sachsen und Rumänen leben?”
„Sie haben nicht das gleiche Privileg. In der Stadt ist das etwas anders und ausserdem ist das eine längere Geschichte.”
„Die Rumänen beschimpfen uns immer, oder nicht? Ich habe gehört, wie sie leise raunend uns beschimpften. Wir stehlen Kinder und dem lieben Gott den Tag, haben sie gesagt.”
„Papperlapapp! Sei stolz. Sie können es nun einmal nicht ertragen.”
Ein bellendes Gelächter empfing die Familie. Aus allen Ecken und Enden rannten Hunde, so zahlreich wie ein Wespennest, auf sie zu. Zwei Kinder klickerten auf der Strasse lautlos Murmeln und unter einem Nussbaum, vor irgendeinem Holztor, hielt die Mutter plötzlich inne.
„Ist dass das Haus?”
„Ja, oder ich nehme es wenigstens an.” „Also, wer geht als erster?”
„Du bist doch immer so mutig!” „Was ich?”
„Hört sofort damit auf, euch zu streiten!”
Auf dem kleinen Innenhof wehten Kleider auf der Wäscheleine, getrieben vom ewigen Wind aus dem Westen. „T’aven bachtale Angela.”
„Hallo Mihela. Oh, seid ihr aber gross geworden!”
Angela kniff Thoma in die Wange, der errötete. Lacrima und Dorinel zwinkerten sich zu. „Ihr seht ganz verfroren aus. Tretet doch ein.”
Ein etwas säuerlicher Geruch biss den Kindern in der Nase. Es hatte etwas verwesendes an sich, wie überall, wo der Sensenmann unerkannt herumschleicht.
„Setzt euch.”
Sie deutete auf die zwei Betten, worauf ihre zwei Lieblinge vor sich hin dösten, die einzigen Möbel nebst dem Tisch, den drei Stühlen und der Kommode.
„Es tut mir leid, aber ich habe nichts, um es euch anbieten zu können.”
„Ist schon gut. Wo ist denn dein Mann? Heute ist doch Sonntag? Er arbeitet doch nicht etwa?” „Nein, er arbeitet nicht...”
Sie seufzte.
„Wie soll ich bloss anfangen...?” „Was ist geschehen?”
„Ach, er wollte Holzhacken gehen für unseren Ofen, damit wir nicht vor Kälte sterben müssen in unserem
erbärmlichen Lehmhüttchen. Aber etwas ging schief. Die Securitate griff ihn auf. Diese Schweine! Und sie
behalten ihn, bis das neue Jahr vorüber ist, im Gefängnis. Nicht einmal an Weihnachten liessen sie ihn nach
Hause kommen. „Frohes Fest!”, riefen sie. „Schöne Weihnachten!”, als sie ihn wegbrachten.”
Und sie brach in Tränen aus. Noch lange hatten sie darüber diskutiert. Mihela schlug vor, dass Angela doch für die paar Tage zu ihnen kommen könne. Aber Angela wehrte ab.
Manchmal, in gewissen Momenten ist der Stolz wahrlich unangebracht. Doch das Unglaubliche lag darin, dass jeder einzelne in diesem Land den Stolz mit auf den Weg bekommen hatte mit der unermüdlichen Liebe zum Vaterland.
„Nun wird es aber langsam Zeit.”
Angela verschwand im Nebenzimmer, kramte noch irgendwo herum, und stand dann zum Abschied an der Tür mit einem Mistelzweig in der linken Hand, den sie wahrscheinlich aus Dankbarkeit für aller Besorgen, weitergab. Küsse wurden verteilt. Tief in die Augen geschaut.
Lange sah man das Diklo auf Angelas Kopf, das Kopftuch der verheirateten Frauen aus der Ferne alleine zurückbleiben...
„Es war ein anstrengender Tag. Ich gehe schlafen.” „Ich auch.”
„Auch.”
Auch Thoma nickte. Echo. Nacheinander. „Gute Nacht.”
Mihela legte sich auf’s Bett. Und bevor sie noch irgendeinen klaren Gedanken fassen konnte, verfiel sie dem, von Dunkelheit getränkten Schlaf...
Es raschelte. Der Wind liess die Welt erwachen. Er berührte sanft das Leben, entzog sich ihm, um erneut zurückzukehren. Die Landschaft erquickte sich, umschlang den Wind und küsste den einen. Dorinel wendete sich zu seiner Mutter. Stille. Alles horcht. Stille. Ein Auge traf sich im anderen. Beide voller Hoffnung. Sie fuhr mit der Hand über Dorinels Gesicht. Manchmal hat die Zeit ihre Grausamkeit errichtet. Er wird gehen. Von ihr. Und manchmal zieht man mit dem Wind.
Dorinel betrachtete seine Mutter. Sah, wie die Tränen über ihr Gesicht rollten, wie sie auf den Boden fielen. Er nahm sie in seine Arme, ihr Gesicht auf seinen Schultern. Sie küsste ihn. Das Salz blieb auf seinen Lippen. Seine Tränen waren wunderschön. Sie schufen eine Brücke zwischen zwei Welten. Regenbogenfarbene Tränen. Schweissgebadet war Mihela aufgewacht. Die Kinder um ihr Bett.
„Mam, du hast geschrien. Hast du schlecht geträumt?” „Ja...Wo ist Dorinel?”
„Ich bin hier Mam.” „Gut.”
„Wir wollen auf’s Feld, aber...”
„Na dann geht. Ich komme schon alleine zurecht.”
Hätte es im Sommer mehr geregnet, hätte das Land nicht eine solche Dürre erlebt, würden sich die Grashalme noch verneigen. Die Kraft war entzogen. Das Feld schimmerte gelblich vor sich hin. „Was sie wohl geträumt haben mag?”
„Seht mal, wer uns da entgegenkommt.” „Hallo Cucu.”
„Na, ihr?”
„Kommst du mit uns mit?”
„Eigentlich wollte ich zum Sibin. Ein bisschen auf dem Eis laufen gehen.” „Keine schlechte Idee.”
Der Sibin. Eine Art peristaltische Schlange floss unaufhaltsam. Schwarze Buchen rannten in den Abendhimmel. Eine einseitige Allee umgab die schuppigen Steine.
„Das Eis sieht aber nicht sonderlich dick aus.” „Es wäre Selbstmord.”
„Machst du dir in die Hosen Dorinel?” „Nein. Ich meine nur...”
„Du bist ‘ne feige Sau!”
„Niemand nennt mich eine feige Sau!” „Na dann los. Beweise es.”
Dorinel zögerte. Mit seiner Fussspitze tastete er das anliegende Ufer ab.
„Tu’s nicht!”, schrie Thoma, wollte ihn zurückhalten. Seine Fingerspitzen streiften Dorinels Rücken, doch
Dorinel war bereits auf dem Eis. Lacrima schrie wie am Spiess. Ein Schrei, den niemand so schnell wieder
vergessen konnte. Und wenn man ganz leise war und jedem der Atem stecken blieb, so konnte man hören, wie das Eis zu brechen begann. Konnte man sehen, wie sich feine weisse Fäden auf dem Eis bildeten. Und wie das Eis einbrach und Dorinel mit ihm. Sein Mund war weit aufgerissen. Es schien, als ob er lächeln würde und seine Arme schlugen wild umher.
Alle standen da. Dorinel verschwand und tauchte wieder auf. Verschwand und tauchte wieder auf. Und verschwand.
...Dorinel, verzeih mir!
Priester: „Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen mein Sohn?” Cucu: „...”
Priester: „Zehn Vaterunser und fünf Ave Maria.”
Cucu: „Ich verstehe nicht...Das soll meine Strafe sein?!”
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in diesem Text?
Der Text scheint eine literarische Erzählung zu sein, die das Leben einer armen Familie in Rumänien beschreibt. Es geht um Themen wie Armut, Hunger, Glaube, die Beziehung zwischen Geschwistern, die Sehnsucht nach einem besseren Leben und die Härten des Alltags.
Wer sind die Hauptfiguren?
Die Hauptfiguren sind Dorinel, Thoma, Lacrima und ihre Mutter, Mihela. Dorinel ist der ältere Bruder, Thoma und Lacrima sind seine jüngeren Geschwister. Mihela ist die alleinerziehende Mutter.
Welche Probleme hat die Familie?
Die Familie lebt in Armut, hat oft Hunger und muss mit den Nachwirkungen der Gewalterfahrungen mit dem Vater zurechtkommen. Sie haben Schwierigkeiten, sich Essen und Kleidung zu leisten und werden in der Schule ungerecht behandelt.
Welche Rolle spielt der Glaube in ihrem Leben?
Der Glaube spielt eine wichtige Rolle. Sie beten regelmäßig und die Mutter versucht, ihren Kindern Hoffnung zu geben, indem sie ihnen Geschichten erzählt und sie an ihren Glauben erinnert. Ein Psalm hängt über jedem Bett.
Wie ist das Verhältnis der Geschwister zueinander?
Die Geschwister haben ein enges und liebevolles Verhältnis zueinander. Dorinel kümmert sich um seine jüngeren Geschwister und versucht, ihnen Freude zu bereiten. Thoma und Lacrima lieben ihren Bruder und ihre Mutter.
Was passiert am Ende der Geschichte?
Am Ende der Geschichte stirbt Dorinel, als er auf dem Eis einbricht. Die Details, wie es dazu kommt, werden zwar geschildert, aber die emotionale Reaktion der anderen Familienmitglieder steht im Vordergrund.
Wer ist Angela?
Angela ist eine Zigeunerin und eine Freundin der Familie, die ebenfalls in Armut lebt. Die Mutter besucht sie, und diese Begegnung verdeutlicht die verbreitete Armut und soziale Ungleichheit in der Region.
Welche Themen werden im Text behandelt?
Die zentralen Themen sind Armut, Glaube, Familie, soziale Ungerechtigkeit, Gewalt, Hoffnung und Verlust. Der Text schildert das Leben der Familie mitfühlend und zeigt die Auswirkungen von Armut und Gewalt auf die Kinder.
Was symbolisiert die Geschichte, die die Mutter den Kindern erzählt?
Die Geschichte vom Engel, der auf die Erde kommt, um den Leidenden zu helfen, symbolisiert die Hoffnung auf Erlösung und ein besseres Leben. Sie steht im Kontrast zur Realität, die die Kinder erleben.
Welche Bedeutung hat der Tod von Dorinel?
Der Tod von Dorinel ist ein tragischer Wendepunkt, der die Ohnmacht der Familie angesichts ihrer schwierigen Lebensumstände unterstreicht. Es ist der Verlust des Hoffnungsträgers und führt die Zerbrechlichkeit des Lebens in Armut vor Augen.
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- Adrian Moser (Author), 2001, Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100653