Zur Authentifizierung von Kunstwerken. Die Flora-Büste im Berliner Bode-Museum


Masterarbeit, 2018

67 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die Wachsbüste einer Flora im Berliner Bode-Museum

2. Forschungsfrage
2.1. Warum ist die Authentifizierung eines Kunstwerkes überhaupt relevant?
2.2. Das Beispiel der Flora-Büste

3. Provenienzder Flora-Büste

4. Zuschreibungen der Büste durch vergleichende Stilanalyse
4.1. Vergleich mit Flora-Gemälden aus Leonardos Umkreis
4.2. Vergleich mit Gemälden Leonardo da Vincis

5. Zuschreibungen der Büste durch naturwissenschaftliche Untersuchungen
5.1. Naturwissenschaftliche Untersuchungen der Flora-Büste 1909-1911
5.1.1. Röntgen-Aufnahmen
5.1.2. Öffnung der Büste
5.1.3. Photogrammatischer Befund
5.1.3. Untersuchungen der Farben der Büste
5.1.4. Untersuchungen des Wachses
5.2. Naturwissenschaftliche Untersuchungen der Flora-Büste nach 1911
5.2.1 Radiocarbonmethode
5.2.2. Untersuchungen des Wachses

6. Subjektivität in der Bewertung von Forschungsergebnissen
6.1. Subjektivität in der Kunstkennerschaft
6.2. Subjektivität bei naturwissenschaftlichen Untersuchungen

7. Weitere Flora-Büsten?

8. Fazit

9. Abbildungen

10. Abbildungsverzeichnis

11. Literaturverzeichnis

1. Die Wachsbüste einer Flora im Berliner Bode-Museum

ln einem Raum des Berliner Bode-Museums steht hinter geschlossenen Türen und damit von den meisten Besuchern unentdeckt die Wachsbüste einer Flora. Im selben Raum finden sich Bronze- und Marmorskulpturen aus dem 19. Jahrhundert, hölzerne Chorgestühle des 15. Jahrhunderts, Kruzifixe, Tonplastiken, ein marmornes Sakramentshäuschen und weitere Werke verschiedenster Epochen. In dieser Zusammenstellung wirkt der Raum leicht ungeordnet, den Werken gemein ist lediglich eine ehemals falsche oder noch ungeklärte Zuordnung zu einem Künstler und/oder einer bestimmten Zeit. Der Wachsbüste, an einem unscheinbaren Platz direkt neben der Tür aufgestellt, sieht man insofern nicht sofort etwas an über ihre bewegte Geschichte, über die Diskussionen, die ihre Herkunft auslöste, über die unzähligen Zeitungsartikel, Witze und Karikaturen, die vor über 100 Jahren über sie veröffentlicht worden. Lediglich eine Beschriftung gibt eine knappe Information über die vermutliche Herkunft.

Wilhelm Bode, damals Generaldirektor des Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin, erwarb diese Wachsbüste in Gestalt einer Flora im Frühsommer 1909 in England bei dem Londoner Antiquar Murray Marks [Abb. 1], Sie war etwa lebensgroß, zeigte eine nur durch ein Tuch bedeckte nackte weibliche Figur und sollte über die ersten Jahre noch für viel Aufruhr sorgen. Einige Monate zuvor gab es zwischen dem Antikhändler und Bode bereits einen Briefwechsel, der unter anderem die Büste betraf.1 Noch vor ihrem Verkauf nach Berlin wurde sie im Mai 1909 zum ersten Mal öffentlich im englischen Burlington Magazine abgebildet [Abb. 2] und als Werk mit leonardeskem Typus beschrieben. Die Bilder erschienen dort im Zusammenhang mit verschiedenen Flora-Gemälden, die dem Umkreis und Schülern von Leonardo da Vinci zugeordnet wurden.2 Daraufhin beschaute der Kunsthistoriker Max J. Friedländer die Büste vor Ort und riet Bode zum Kauf, da sie im Original einen noch viel bedeutenderen Eindruck mache.3 Am 17. Juli 1909 wurde der Ankauf von der Berliner Sachverständigenkommission offiziell bestätigt, und als „eine der hervorragendsten Bereicherungen unserer Sammlung“ und „vielleicht von Leonardo“ beschrieben.4 So schien es zunächst, als habe Wilhelm Bode das Berliner Museum um ein Renaissance-Werk bereichert, was bereits daher große Beachtung fand. Mit der Zuschreibung zu Leonardo oder dessen Umfeld und der außerordentlichen Materialität, Wachs, würde die Büste darüber hinaus eine Alleinstellung in der Kunstgeschichte einnehmen.

Bereits im Oktober desselben Jahres erschien jedoch eine andere Version der Herkunft der Flora- Büste in der englischen Times: Demnach sollte sie von dem englischen Bildhauer Richard Cockle Lucas stammen, der das Werk nach Vorbild eines Gemäldes um 1846 modelliert habe.5 Der Streit über die Herkunft des Werkes, der daraufhin unter Fachleuten und in der Öffentlichkeit einsetzte, manifestierte sich allein im Zeitraum von 1909 bis 1911 unter anderem in über 700 Zeitungsartikeln in der nationalen und internationalen Presse.6 Die Abstände zwischen den publizierten Aufsätzen zum Thema wurden danach zwar größer, die Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Alters und der Herkunft der Büste halten sich jedoch bis heute, was unter anderem an der stetig wechselnden Beschriftung der Büste im Bode-Museum ablesbar ist. Im Jahr 1994 bestätigte Josef Riederer, damals Direktor des an die Berliner Museen angegliederten Forschungslabors, dass die Flora nicht zur Zeit der Renaissance entstanden sei, aber dennoch „auch heute noch mit der falschen Bezeichnung in Berlin im Museum steht“7. Zur Neueröffnung des Bode-Museums im Oktober 2006 wies die Beschriftung der Büste mehr Fragezeichen auf als konkrete Informationen zu liefern: „England?, 19. Jh.? Sowohl Leonardo da Vinci bzw. seinem Umkreis zugeschrieben als auch als Fälschung des 19. Jahrhunderts betrachtet“8. Heute wird sie laut Beschriftung dort dem englischen Bildhauer Richard Cockle Lucas zugeschrieben und als Werk des 19. Jahrhunderts deklariert, mit dem Hinweis, dass Wilhelm Bode die Büste einst als Werk Leonardos ankaufte.9 In anderen, auch neueren Veröffentlichungen zum Thema werden immer wieder verschiedene oder gar keine Entscheidungen zur Herkunft der Flora gefällt.10 Obwohl verschiedenste Methoden unterschiedlicher Wissenschaftler zur Bestimmung der Herkunft und des Alters der Flora-Büste ausgeführt worden sind, kann eine sichere Authentifizierung bei diesem Werk nicht als abgeschlossen betrachtet werden.

Dass die Herkunft und das Alter der Flora-Büste auch über einhundert Jahren nach ihrem Ankauf nach Berlin noch immer nicht einheitlich geklärt sind, mag daran liegen, dass es für alle Positionen diverse Argumente gibt; zu einem großen Teil wird zudem der Verlauf der damaligen Diskussion ausschlaggebend sein. Diese verlagerte sich sehr schnell von einer sachlichen Ebene um die Herkunft und Entstehung der Büste zu einer erhitzten Debatte, die nicht selten auf eine persönliche Ebene umschlug. Aber nicht nur die Kennerschaft und ihr Stellenwert in der Kunstgeschichte, die zu dieser Zeit noch an den Anfängen stand und die Aufgabe hatte sich zu etablieren, standen zur Diskussion. Auch die Verlässlichkeit naturwissenschaftlicher Methoden bzw. deren korrekte Ausführung wurde debattiert. Mit beiden Punkten und ihrer Rolle in der Authentifizierung von Kunstwerken werde ich mich in dieser Arbeit genauer befassen.

Die Büste der weiblichen Figur ist 67,5 cm hoch11, und damit fast lebensgroß, ihre Kopfhöhe beträgt 22,5 cm.12 Sie ist aus mehreren Schichten Wachs gegossen und im Inneren mit diversen Materialien zur Stabilisation gefüllt. Die Büste stand auf einer aus einem Achteck konstruierten schwarzen Basis, die ebenfalls aus Wachs gearbeitet war. Heute wird sie ohne die Basis gezeigt. Die Rückseite ist nicht vollständig ausgearbeitet, sondern von den Schultern abwärts angeschrägt [Abb. 3], Sie hält ihren Kopf sanft lächelnd leicht nach links unten geneigt. In dem Zustand, in dem sie sich zur Zeit ihres Ankaufes nach Berlin befand, waren beide Unterarme abgebrochen, jedoch der Ansatz noch erhalten, sodass sich deren Haltung andeutungsweise trotzdem erschließen lässt. Der linke Oberarm ist etwas nach vorne geführt, sodass die Bruchstelle des Armes unterhalb der Brust, vor dem Bauch der Büste liegt. Der rechte Arm ist weiter hinten gehalten und die noch erhaltene Partie des Ellenbogens nach oben angewinkelt [Abb. 4], Ob die Unterarme und Hände überhaupt jemals ausgearbeitet waren, werde ich im weiteren Verlauf der Arbeit noch einmal thematisieren. Über die rechte Schulter und unter ihrem linken Arm nach vorn verläuft ein blaues, ebenfalls aus Wachs und teilweise aus Gips gebildetes Gewand, das den Busen entblößt lässt. An einzelnen Stellen ist darunter ein weiteres weißes, aus Gips gefertigtes Tuch zu sehen. Auf dem ganzen Körper und am Gewand verlaufen Risse und sind einzelne Teile der Wachsschichten abgebrochen. Das Gesicht der Büste weist nur sehr feine Risse und keine Fehlstellen im Wachs auf. Die gelockten Haare sind nach hinten in einen kleinen Knoten zusammengeführt und werden oben durch einen mit verschiedenen Blumen und Blättern verzierten Haarreif gehalten. Durch eben jene Blumen, die Bildung der rotbraunen Haare und der nur durch ein Gewand kaum verdeckten Blöße wird die Figur im Allgemeinen mit einer Flora-Darstellung assoziiert. Die Bemalung der Flora wird im Kapitel 5.1.3. noch eingehender behandelt. Heute scheint die freiliegende Haut farblich unbehandelt, also nur aus Wachs gebildet zu sein. Das Gewand ist blau, ebenso wie vereinzelte kleinere Blüten im Haarkranz. Dieser bildet mit seinen grünen Blättern einen leichten farblichen Kontrast zu den rötlich gefärbten Haaren.

Einzeln, aber wohl zur Büste gehörend, wurde kurz nach dem Ankauf des Werkes nach Berlin über den früheren Besitzer Walter Long noch ein Fragment einer Hand erstanden, ebenfalls aus Wachs gefertigt [Abb. 5 und 6],13 Dieses ist in einem so ruinösen Zustand, dass zwar die Finger einer Hand erkennbar sind, es jedoch zunächst, vor allem in seiner momentanen Position liegend vor der Büste, nach einem Undefinierten möglicherweise gerade erst abgebrochenen Teil von Wachs aussieht. Einem Foto der Büste von I860 nach könnte die Hand auf Höhe der rechten Schulter angebracht gewesen sein.

2. Forschungsfrage

Die Untersuchung und Authentifizierung von Kunstwerken stützt sich im Allgemeinen auf drei Säulen: die Provenienzforschung, die Stilanalyse und naturwissenschaftliche Untersuchungen14. Diese drei sollten im besten Fall Zusammenarbeiten und ineinandergreifen. In welcher Gewichtung den Gebieten jedoch Bedeutung und Entscheidungskraft zugesprochen wird, darin gehen die Meinungen auseinander.

In meiner Arbeit möchte ich ausgehend von der Berliner Flora-Büste den Prozess der Authentifizierung eines Kunstwerkes beleuchten und dabei die Bedeutung und die Fehlerquellen der Kunstkennerschaft zum einen und der naturwissenschaftlichen Untersuchungen zum anderen thematisieren. Der Einschätzung und Interpretation von sowohl naturwissenschaftlichen als auch kunstwissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen fällt immer auch eine subjektive Tendenz anheim. Ob und wie solche Tendenzen in der Beurteilung der Flora-Büste eine Rolle gespielt haben und heute noch spielen, möchte ich im weiteren Verlaufder Arbeit klären.

Um auch die zeitliche Abfolge der Forschungen zur Florabüste nachvollziehen zu können, werde ich im Allgemeinen chronologisch vorgehen. Dazu betrachte ich zunächst, wie es überhaupt zu verschiedenen Zuschreibungen für die Büste kam. Ich werde daher kurz auf die Provenienz der Flora-Büste eingehen, die recht unsicher ist und nur über einen kurzen Zeitraum aufklären kann. Daraufhin betrachte ich die Einordnung der Flora auf Grund von Stilanalysen verschiedener Autoren. Um ihre Zuschreibungen zu stützen, oder aber um lautgewordene Zweifel an der Herkunft zu konkretisieren, wurden bald darauf diverse naturwissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt. Diese werde ich kurz zusammenfassen und vor allem deren Ergebnisse und den Einfluss der Untersuchungen und der Ergebnisse auf die weitere Diskussion betrachten. Das Ziel ist es, einen Überblick über die Personen und Prozesse, die bei der Authentifizierung der FloraBüste eine Rolle gespielt haben und spielen, zu erstellen und aus diesem Ergebnis heraus eventuell auf allgemeine Problematiken bei der Authentifizierung von Kunstwerken zu schließen.

2.1. Warum ist die Authentifizierung eines Kunstwerkes überhaupt relevant?

Ein Kunstwerk zu authentifizieren heißt, es auf seine Echtheit zu untersuchen. An dieser Stelle möchte ich eine rechtliche Definition anführen: „Echt ist ein Kunstwerk immer dann, wenn die herkunftsspezifischen Zuordnungskategorien, denen das Werk zugewiesen ist, mit seiner wirklichen Herkunft übereinstimmen.“15 „Die insoweit relevanten Zuordnungskategorien betreffen die Zuordnung des Kunstwerks zu einem bestimmten Künstler, einer bestimmten Epoche, einem bestimmten Künstlerkreis oder einer bestimmten Kunstlandschaft.“16 Wenn in dem Flora-Streit also von der Echtheit die Rede ist, so ist damit die Zuordnung zu Leonardo da Vinci oder seinem Umfeld oder seiner Zeit gemeint, da der Stil der Büste diese Zugehörigkeit suggeriert und sie als solche spätestens von Bode 190917 der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Die Echtheit eines Werkes bestimmt dessen Wert, nicht nur den monetären, sondern ebenso den der kunsthistorischen Bedeutsamkeit. Diese Einschätzungen können sich im Auge des Betrachters stark ändern, sobald sich die Autorenschaft des Werkes „ändert“. Die Rezeption eines Kunstwerkes durch den Betrachter hängt also auch stark von den dazu gelieferten Informationen zum Werk ab18, wie die des Künstlers oder der Entstehungszeit; und diese Einschätzung bestimmt wiederum den Marktwert. Nach Friedländer hat „jedes Kunstwerk [...] einen Geldwert, der vom Urteil in Bezug auf die Autorenschaft in hohem Grade abhängt. Er hängt auch von dem Kunstwert ab, der schwer wägbar ist und jedenfalls durch den Richtspruch des Kenners beträchtlich hinaufoder herabgesetzt werden kann.“19 Der Einfluss von „Kunstkennern“ spielt also bei der Authentifizierung von Kunstwerken und davon ausgehend auch bei deren öffentlichen Rezeption eine große Rolle, worauf ich in den folgenden Kapiteln nochmals genauer eingehen werde.

Im Fall der Flora-Büste zieht die Zuschreibung zu Leonardo noch einen weiteren, auch wenig greifbaren, aber für den Betrachter wichtigen, nämlich spirituellen Wert nach sich. Hans Ost beschreibt die Echtheitsfrage der Büste gar als „eigentlich ziemlich gegenstandslos, wenn nicht die Kunstgeschichte weiterhin am Fetischcharakter einer Wachsruine festhielte, welche angeblich von der Idee oder sogar von den Händen des Meisters geheiligt worden sei.“20 Die Zuschreibung der Büste zu Leonardo macht sie demzufolge zu einer Art von Heiligen-Reliquie; es geht in der Wertschätzung nicht nur um ihre formale Ausführung, sondern auch um ihre Aura, um eine übersinnliche Nähe zum großen Meister21, um eine „Geisterbegegnung“22. Wird diese Nähe aufgrund einer anderen Herkunft, also eines anderen Künstlers negiert, verschwindet auch der spirituelle Wert. Um diese Einschätzung zur übersinnlichen Ausstrahlung zu verdeutlichen, sei hier noch ein Zitat von Edmund Hildebrandt angeführt, der 1927 zur Büste schrieb: „Die innere Größe und ruhige Gelassenheit des Floramotivs trägt die Spuren des Leonardischen Genius auf der Stirn.“23

Zusammengefasst geht es bei der Authentifizierung eines Kunstwerkes also um dessen genauere Einordnung in eine bestimmte Zeit, zu einem bestimmten Künstler, und im Zuge dessen meist um die Bestätigung oder Ablehnung einer vorher vermuteten Zuschreibung und der Echtheit des Werkes. Die Ergebnisse sind allerdings nicht nur rein informativ zu betrachten, sondern bestimmen sowohl den finanziellen Wert, wie auch den der kunstgeschichtlichen Bedeutsamkeit, und damit manchmal auch einen für den einzelnen Betrachter wesentlichen spirituellen Wert. Die kunsthistorische Bedeutung hat weiterhin Auswirkungen auf die Beurteilung des Oeuvres des jeweiligen Künstlers: Wird ein falsch zugeschriebenes Werk im Gesamtwerk eines Künstlers verzeichnet, so könnten davon ausgehend auf weitere Kunstwerke falsche Schlüsse gezogen werden. Die Authentifizierung eines Werkes kann daher auch ausschlaggebend für spätere Zuschreibungen sein.

2.2. Das Beispiel der Flora-Büste

Wie bereits erwähnt, kann die Diskussion um die Herkunft der Flora-Büste trotz der Bearbeitung aller drei Bereiche der Authentifizierung noch nicht als abgeschlossen angesehen werden, weshalb sie eine große Menge verschiedener Meinungen über einen langen Zeitraum aufzuweisen hat und daher als Beispielobjekt für meine Fragestellung besonders geeignet ist. Auf Grund dessen liegen uns in diesem Fall nicht nur Veröffentlichungen aus der Hochphase des Flora-Streits vor, sprich von 1909 bis 1911, sondern eine durchgehende Bearbeitung des Themas bis heute, sowohl aus kunsthistorischer, wie aus naturwissenschaftlicher Sicht. Daher lassen sich am Beispiel der Büste nicht nur die Untersuchungsmöglichkeiten um 1909 darstellen, sondern können auch neuere Erkenntnisse mit einfließen und eventuell ein Wandel in der Bedeutung oder im Umgang der Authentifizierung von Kunstwerken betrachtet werden.

Mit dem Beginn des Flora-Streits zu Anfang des 20. Jahrhunderts fällt diese konkrete Diskussion um die Herkunft der Büste zeitlich mit dem allgemeinen Diskurs über interdisziplinäre Arbeit zusammen. Mit den neuen Erkenntnissen in den chemischen und physikalischen Fachgebieten, wie den 1896 entdeckten Röntgenstrahlen und den seit dem 18 Jahrhundert bekannten chemischen Grundgesetzen, die die Grundlage für chemische Analysen boten, ergaben sich auch in der Authentifizierung von Kunstwerken neue Untersuchungsmöglichkeiten.24 Diese wurden jedoch nicht nur positiv aufgenommen, sondern brachten ebenso Skepsis und Ablehnung hervor. Ohne viel Referenzmaterial oder offizielle Leitfäden zur Untersuchung von Kunstwerken mussten sich die Naturwissenschaften als Beihilfe in der Kunstwelt ihre Stellung erst erarbeiten. Auch dieser Disput über den Stellenwert der einzelnen Disziplinen spielte in der Authentifizierung der Flora- Büste eine Rolle. Denn auch die Kunstgeschichte als eigenständiges Fach musste sich erst etablieren und ihre Methoden und Werkzeuge und im weiteren Sinne ihren gesellschaftlichen Nutzen legitimieren. Besonders die Rolle der Kunstkenner, und in diesem Fall speziell Wilhelm Bode und dessen Reputation, wurden während der Diskussion um die Flora-Büste ausführlich besprochen; dazu mehr in Kapitel 6.1.

3. Provenienz der Flora-Büste

Der früheste konkrete Nachweis über die Flora-Büste stammt aus dem Jahr I860. Es handelt sich dabei um eine von dem englischen Bildhauer Richard Cockle Lucas angefertigte Fotografie der Büste, die sich um diesen Zeitpunkt in seinem Besitz befand [Abb. 7],25 Ob sie bereits bedeutend früher existierte oder erst von Lucas geschaffen wurde, ist über die Provenienz nicht eindeutig zu erfahren. In einer eidesstattlichen Erklärung gab Albrecht Dürer Lucas an, als 18-jähriger seinem Vater bei der Herstellung der Büste behilflich gewesen zu sein, wobei es sich um das Jahr 1846 handelte.26 Frühere Nachweise über die Existenz des Werkes gibt es nicht. Allein dieser Umstand gibt Anlass für weitere Schlussfolgerungen, wie sie der Kunsthistoriker Sepp Schüller im Jahr 1965 zog: „Wenn die Verteidiger der Echtheit [der Flora-Büste, Anm. d. Verfasserin] nur die Bearbeitung und Restauration durch Lucas anerkennen, so müßten [sic] sie in fünf Jahrzehnten eine Spur des früheren Vorhandenseins der Büste ausfindig gemacht haben.“27 Nach dem Tod von Lucas blieb die Flora wohl weiterhin in dessen Haus, verwaltet durch seinen Sohn Albrecht Dürer Lucas, und ging mit dem Verkauf um 1888 in den Besitz eines Charles Simpsons über, der jedoch selbst einige Jahre darauf verstarb und dessen Hab und Gut mitsamt der Büste im Juni 1904 versteigert wurde und an den HändlerWilliam Mann in Southampton ging. Dieserverkaufte sie an einen Herrn Walter Long, der die Flora über vier Jahre lang in seinem Besitz hatte, bevor sie innerhalb eines kurzen Zeitraums durch die Hände verschiedenster Händler ging. Long stellte die Büste bei einem Händler namens Sparks zum Verkauf aus, wo sie von einem Mr. Spinks in London erworben wurde.28 Im späten Herbst 1908 wurde sie vom Antiquar Murray Marks angekauft29, der die Flora bald darauf in einem Briefwechsel mit Wilhelm Bode erwähnte30 und später auch für einen Artikel im Burlington Magazine die ersten publizierten Fotos der Büste bereitstellte31. Im Frühsommer 1909 beschaute sich zunächst der Kunsthistoriker Max Friedländer die Büste in London und holte Bode sogleich dazu, der sie schließlich für 8000£ kaufte und nach Berlin bringen lies. Laut dem Protokoll der Sachverständigenkommission der Berliner Museen ist der offizielle Ankauf nach Berlin auf den 17. Juli 1909 datiert.32 Seitdem gab es zwar viele Meinungsverschiedenheiten über die Berliner Flora-Büste, aber keine Eigentumswechsel mehr.

4. Zuschreibungen der Büste durch vergleichende Stilanalyse

Die Stilanalyse ist meist das erste Mittel um ein Kunstwerk, welcher Art auch immer, genauer einzuschätzen. Im Idealfall wird das Werk dadurch nicht nur einer gewissen Epoche, also seiner Entstehungszeit, zugeordnet, sondern auch noch regional eingegrenzt, bis hin zu einem Personenkreis oder gar einem konkreten Künstler. Um eine solche Einordnung vorzunehmen braucht es noch vor der Sichtung des fraglichen Werkes ein großes Konvolut an Vergleichsmöglichkeiten. Max J. Friedländer widmet einen großen Teil seines Buches „Von Kunst und Kennerschaft“ der intuitiven Einordnung von Bildern aufgrund von stilistischen Vergleichen. Dort sagt er unter anderem, dass es sich bei einer ersten Einschätzung zunächst immer nur um eine Hypothese handelt, die man annehmen und untersuchen kann, aber ebenso jederzeit bereit sein muss, sie fallen zu lassen, sollte sich die Annahme als falsch oder unwahrscheinlich erweisen.33 Des Weiteren geht er davon aus, dass die erste Entscheidung über die Einordnung eines Kunstwerkes zwar auf Vergleichen basiert, jedoch nicht mit konkreten Werken, sondern mit einem „Idealbild in der Vorstellung“34. Dieses speist sich optimalerweise aus möglichst vielen, aber guten und gesicherten Schöpfungen eines Künstlers. Eine zu intensive Beschäftigung mit problematischen Werken führt seiner Meinung nach eher zu einem unklaren Idealbild und damit zu ungenauen ersten Eindrücken und Einordnungen. Die „Auffrischung, Gewinnung, Bewahrung und Verfeinerung“ des Idealbildes hält Friedländer zugleich als grundlegend für eine gewissenhafte Urteilsfällung als Kunstkenner. Würde die Berliner Flora-Büste also gesichert Leonardo zugeschrieben und dadurch mit in die Bildung des „Idealbildes“ über diesen Künstler einfließen, könnte das Auswirkungen auf weitere Werke und deren Zuschreibung geben, vor allem im Bezug auf bildhauerische Werke.

Die Berliner Flora-Büste würde schon ausgehend von ihrer Materialität und der fragwürdig lückenhaften Provenienz eine Ausnahme im Werk Leonardos bilden. Sogar der größte Verfechter dieser Annahme selbst, Wilhelm Bode, beschrieb sie als „außerordentliche Kuriosität“35, sah diese Einmaligkeit jedoch eher als wertvoll denn als problematisch an. „Sie ist zugleich ein Kunstwerk allerersten Ranges, ein Monument der Idealplastik der frühesten Hochrenaissance, das auch als solches ein Unikum ist.“36 Bereits vor ihrem Ankauf nach Berlin wurde die Büste im englischen Burlington Magazine als LeonardeskerTypus beschrieben und reihte sich dort in eine Auswahl von Gemälden, die im vorangegangenen Artikel verschiedenen Schülern Leonardos zugeordnet wurden, ein.37 Den Impuls, die Büste Leonardo zuzuschreiben, sprach Bode auch wiederholt jedem Menschen mit einem grundlegenden Kunstverständnis zu: ,,Mr. Marks38 glaubte in der Büste, die er namenlos im Handel fand, das Werk Leonardos zu erkennen; das ist auch der Name, der wohl jedem, wenn er vor die Büste tritt oder auch nur die Nachbildungen sieht, sofort in den Sinn kommt.: so stark ist in der Formbildung, in Bewegung und Ausdruck, vor allem in dem eigentümlichen Lächeln die Eigenart des Meisters ausgesprochen.“39 Noch überzeugter von dieser Zuschreibung schien der damalige Kultusminister August von Trott zu Solz zu sein, der ganz überschwänglich an den Kaiser schrieb: „Es gibt wohl keine plastische Arbeit der Hochrenaissance, außer Michelangelos frühen Marmorskulpturen, von solcher Vollendung und zugleich von solcher Feinheit und keine Skulptur, die Leonardos Kunst so stark und großartig zum Ausdruck bringt.“40 Inwiefern er von Bodes Meinung beeinflusst wurde, der ihm zuvor schrieb, dass die Büste „mit großer Sicherheit“41 von Leonardo stamme, und wie viel Lobpreisung reine Überzeugungstaktik war, um den Kaiser vom Ankauf der Büste und daher um die Ausschüttung des Sonderetats für die Berliner Museen zu überzeugen, ist im Nachhinein nicht genau nachzuvollziehen, sollte aber als Möglichkeit in Betracht gezogen werden.

Von dem ersten allgemeinen Eindruck abgesehen, liefern Bode und andere Verfechter der „Echtheit“ der Büste weitere Gründe, die für eine Zuschreibung zu Leonardo sprechen könnten. Da es kein vergleichbares bildhauerisches Werk von Leonardo gibt, bezieht sich die vergleichende Stilanalyse hauptsächlich auf Gemälde, die ein ähnliches Motiv aufweisen.

4.1. Vergleich mit Flora-Gemälden aus Leonardos Umkreis

Die Hauptargumentation bei dem Vergleich mit Flora-Gemälden aus Leonardos Umkreis beläuft sich auf eine Einreihung der Berliner Flora-Büste in ein ganzes Konvolut an Gemälden und Skizzen, die in den Zusammenhang mit Leonardo selbst oder seinen Schülern gebracht werden und das gleiche oder ein ähnliches Motiv wie die Büste aufweisen. Auch Wilhelm Bode griff diese Art der Argumentation für die Zuschreibung der Berliner Büste zu Leonardo auf, und nannte weitere, mit ihm in Verbindung stehende Gemälde, die Ähnlichkeiten mit der Flora aufweisen. So führte er eine Flora-Abbildung vom Leonardo-Schüler Gian Pedrini an, die sich damals in der Galerie zu Hamptoncourt befand [Abb. 8], Heute wird dieses Gemälde Bernadino Luini zugeschrieben und befindet sich im britischen Royal Collection Trust42. Es ist ein Brustbild einer Flora, erkennbar an dem Blumenkranz in den rotbraunen Haaren und den Pflanzen und Blumen, die sie in beiden Händen hält und die weiter über ihre Schulter in den Hintergrund ranken. Sie ist bekleidet mit einem durchsichtigen Gewand, hält ihren Oberkörper leicht zur Seite gedreht, den Kopf und ihren Blick jedoch frontal zum Betrachter. Der rechte Arm ist vor dem Oberkörper lang geführt, der linke etwas darunter und nach hinten versetzt, in beiden Händen hält sie den Blumenbund. Spiegelt man diese Komposition, so ergibt sich eine große Übereinstimmung in der Körperform, Haltung und der Ausarbeitung der Gesichtszüge mit der Berliner Büste [Abb. 9], Im direkten Vergleich wird es denkbar, dass die Berliner Flora zumindest ihren rechten, also vorderen Arm sehr ähnlich hielt wie Luinis Flora. Der linke dagegen scheint beim Gemälde etwas weiter nach hinten eingerückt zu sein. Auch in der Kopfhaltung und anderen Details gibt es leichte Abwandlungen zwischen Büste und Gemälde; eine Beziehung zueinander, wie etwa ein gemeinsames Vorbild, scheint aus rein stilistischen Gründen aber denkbar und naheliegend. Ähnlichkeiten in der Komposition weist auch das Flora-Bild des Leonardo-Schülers Francesco Melzi in der Eremitage St. Petersburg auf [Abb. 10], Hier zeigt der Oberkörper frontal zum Betrachter, der Kopf dagegen ist leicht nach rechts gedreht und geneigt. Typischerweise ist der Hintergrund aus einer pflanzenbewachsenen Grotte gebildet und in den Händen hält diese Flora wiederum einzelne Blumen. Sie trägt eine helle gemusterte Bluse, die eine Brust entblößt lässt, ein blaues Tuch über die rechte Schulter geführt und hält den linken Arm vor dem Oberkörper entlang auf die Beine gelegt. Der rechte ist angewinkelt und führt seitlich entlang des Körpers eine Blume auf Kopfhöhe, sodass der Blick der Flora auf diese einzelne in ihrer Hand gehaltene Blume gerichtet ist. In der Komposition, der Körperhaltung, den Gesichtszügen und dem immer wieder beschriebenen angedeuteten Lächeln, steht auch dieses Gemälde einer Flora der Büste und weiteren Gemälden in dieser Tradition sehr nahe. Ohne auf weitere Beispiele konkret einzugehen, sei an dieser Stelle erwähnt, dass es noch diverse andere Gemälde und Skizzen mit einer ganz ähnlichen Motivik von weiteren Schülern und Künstlern aus dem Umkreis Leonardos gibt. Ein Vorbild im wahrsten Sinne des Wortes ist vom Meister selbst nicht überliefert. Die Vermutung, dass ein solches, zumindest als Skizze oder Studie existiert haben muss, wurde mehrfach geäußert und liegt bei so vielen, sehr ähnlich aufgebauten Gemälden unter seinen Schülern nahe. Mit der Zuschreibung zu Leonardo selbst, würde die Büste eben diese Lücke schließen und als Modell für die nachfolgenden Gemälde gelten können. Dieser konkrete Schluss wird jedoch in der Literatur nicht gezogen. Bode erklärt, dass die Büste den Gemälden zwar sehr nahe steht, jedoch nicht als von ihnen abhängig betrachtet werden muss - weder als Vorbild für die Gemälde, noch als plastische Nachahmung dieser.43

Charles Cooksey, Auktionator und Autor des Times-Artikels, der die Büste als ein Werk von Richard Cockle Lucas aus dem 19. Jahrhundert betitelte, nannte hingegen ein konkretes Werk, nach dem die Büste gefertigt sein sollte. Er schilderte den Ablauf um die Herstellung der Büste als ein Auftragswerk. Demnach gab der Kunsthändler Buchanan ein Gemälde Leonardos - ein Porträt einer Frau, die Blumen in der Hand trägt und nur von einem leichten Gewand kaum bekleidet ist - zu dem Bildhauer Lucas, mit der Frage ob er jenes Motiv in Wachs ausführen könnte, da es dafür einen guten Markt gäbe. Sein Sohn, der Maler Albrecht Dürer Lucas, kopierte das vermeintliche Leonardo-Gemälde.44 Dabei handelte es sich wahrscheinlich um das Bild einer Flora, das heute wiederum der Werkstatt Bernadino Luinis zugeschrieben wird [Abb. 11] und an das weitere, ebenfalls von ihm stammende Flora-Bild erinnert, welches Bode zum Vergleich mit der Büste heranzog. Lucas soll die Wachsbüste nach diesem Auftrag gefertigt haben, woraufhin Buchanan selbst den Handel aber nicht abschließen konnte und nur das Gemälde wieder mitnahm, die Büste jedoch im Besitz von Lucas ließ. Nach dessen Tod kam sie über Umwege zu einer Versteigerung und später in den Kunsthandel in Southhampton, wo sie Murray Marks letztendlich ankaufte. Warum Buchanan den Handel mit der Büste nicht ausführen konnte und warum Lucas sie daraufhin nicht selbst verkaufte, darüber schrieb Cooksey nicht.

Auch Bode kommentierte diese Variante der Entstehung der Büste, hielt sie jedoch für nicht plausibel. Er empfand das besagte Gemälde, welches als Vorbild für die Büste gelten sollte als qualitativ weit hinter der Wachs-Flora stehend, sodass er, wenn überhaupt eine Verbindung zwischen beiden Werken bestehen sollte, doch eher die umgekehrte Beeinflussung für denkbar hielt, dass also das Bild nach der Büste geschaffen sei.45 Dass die Flora-Büste zumindest für einen bestimmten Zeitraum in Lucas' Besitz war, zweifelte Bode nicht an. Über den Auftrag von Buchanan an Lucas spekulierte er, dass es sich dabei um eine Restaurierungsarbeit hätte handeln können, bei der es unter anderem um die Ergänzung der Arme der Büste ging, für die wiederum eine Gemäldevorlage zu Hilfe gestanden haben könnte.46 Am Anfang der Diskussion um die Herkunft der Flora, also noch 1909, äußerte Bode des Weiteren die Überlegung, dass es sich bei der Büste, die aufdem um I860 entstandenen Foto von Lucas [Abb. 7] zu sehen ist, um eine sehr genaue Kopie des älteren Originals handle und diese auf Grund der nicht vollständigen Fertigstellung mit einem Tuch bedeckt ist. Diese These musste Bode spätestens zum Jahreswechsel revidieren, nachdem die photogrammatischen Untersuchung durch den Photochemiker Adolf Miethe die Übereinstimmung der Büste auf dem Lucas-Foto und der Berliner Büste ergeben hatte (siehe Kapitel 5.1.3).

4.2. Vergleich mit Gemälden Leonardo da Vincis

Einen konkreten Vergleich zu Gemälden Leonardos zieht Bode zu dessen Schaffensphase in Florenz nach 1501. Dort führt er unter anderem das Gemälde der Anna selbdritt an, auf dem die Maria der Wachsbüste in ihrer Kopfhaltung und Mimik sehr nahe stehe [Abb. 10], Bode sieht die Florabüste weiterhin als plastisches Gegenstück zu dem um 1513 begonnenen Johannes dem Täufer [Abb. 11]:47 In der Armhaltung sind beide sicher voneinander abweichend, in der Neigung des Kopfes und der Mimik, die bei Johannes lediglich durch die vorhandenen Pupillen etwas direkter und kecker wirkt, ist diese Verbindung zunächst nachvollziehbar. Vor allem in dem vielbeschworenen Leonardo-Lächeln, durch das Bode auch eine Verbindung zwischen Flora-Büste und Mona Lisa zieht, sind bei beiden Werken Ähnlichkeiten zu entdecken. Dem pflichtet auch der Kunsthistoriker Edmund Hildebrandt bei, der noch weitere Gemälde Leonardos für Vergleiche heranzieht, die sich in der Grundaussage jedoch wiederholen und keinen weiteren Beweis bringen, als die hier angeführten.48

Hinweise in der Primärliteratur zu dem Zusammenhang zwischen Leonardo und der Flora-Büste lassen sich kaum finden, und doch erwähnen Verfechter dieser Zuschreibung immer wieder einzelne Textstellen, die ihre Aussage untermauern könnten. In seinem Traktat über die Malerei erklärt Leonardo, dass „eine Frau in bescheidener Haltung, mit zusammengelegten Armen, den Kopf nach unten geneigt und etwas zur Seite blickend“ dargestellt werden müsse49. Diese Beschreibung passt zwar wie auf viele andere Gemälde und Kunstwerke, auch auf die FloraBüste, ist aber so allgemein gehalten, dass daraus keine konkrete Aussage oder Zuschreibung zu Leonardo abgeleitet werden kann. Zumindest aber deckt sich diese Textstelle auch mit den stilistischen Vergleichen, die Bode bereits zwischen der Büste und Gemälden des Umkreises von Leonardo und von ihm selbst gezogen hat. Vasari schreibt in diesem Zusammenhang nur von lachenden Frauenköpfen aus Ton, die Leonardo während seiner Jugendzeit geschaffen haben soll. Eine Frauenbüste wie die Flora, noch dazu aus Wachs, bleibt unerwähnt.50 Hildebrandt merkt dagegen an, dass zumindest Orsino Benintendi, der neben Leonardo ebenso Schüler bei Verocchio war, von Vasari als Wachsplastiker erwähnt wurde.51

Die Haltung der Arme der Flora-Büste, die beide etwa zur Hälfte abgebrochen scheinen, sind Inhalt unterschiedlicher Überlegungen und Veröffentlichungen. Zum einen existieren diverse Überlegungen und Skizzen, wie die Unterarme und Handhaltung der Flora ausgearbeitet gewesen sein könnten52, zum anderen geben eben jene nicht mehr vorhandenen Stücke der Büste für Bode einen weiteren Anlass der Zuschreibung zu Leonardo: „Die höchste Meisterschaft hatte der Künstler zweifellos in der Anordnung der Arme und in der Modellierung der Hände bewiesen. Dadurch, daß die Unterarme abgebrochen sind, kann die Büste jetzt leider ihre volle Wirkung nicht mehr ausüben.“53 Ohne einen konkreten Bezug zu nennen geht Bode hier von Gemälden von Leonardo aus, auf denen Arme und Hände komplett ausgearbeitet sind. Dieser hat sich ausführlich mit Gesten und Gebärden in der Malerei auseinandergesetzt und sah sie als sehr wichtigen Punkt in der Darstellung von Personen an. Diese Meisterschaft wiederum ebenso auf ein bildhauerisches Werk zu übertragen, ohne einen weiteren Anhaltspunkt über ihre dortige Ausführung, erscheint vorschnell und überhöht. Bode begründete diesen Gedanken damit, dass die Bildung und Haltung der Hände im Allgemeinen eine Verstärkung des geistigen Inhalts der Werke Leonardos bewirken. Insofern fehle der Büste ein wesentlicher Teil ihrer Gesamtwirkung, so Bode, der aber sogleich zurückrudert und bemerkt, dass die Wirkung des Kopfes und Torsos auch eine ganz hervorstechende sei, und darüber hinaus, dass die ganze fein ausgearbeitete Mimik vielleicht sogar durch die weiter vorstehenden, detailreich gebildeten Hände abgeschwächt werden würde. Er sicherte sich damit sowohl gegen Kritiker ab, denen die Büste nicht „meisterlich“ genug gearbeitet ist, indem er auf den Verlust der Unterarme und Hände hinweist, in denen jeder ganz bestimmt das Handwerk des Meisters hätte sehen können. Gleichzeitig verteidigte er die Büste in ihrem damaligen Zustand zum Ankauf, denn auch darin lasse sich, den Blick auf andere Details wie das Gesicht oder die Haarbehandlung gelenkt, die Arbeit Leonardos erkennen.

Die Überlegungen zu Rekonstruktionen der Arme beziehen sich auf verschiedene Einflüsse, die in der Flora-Büste verarbeitet sein könnten. So verwies der Chefrestaurator der Berliner Museen Arthur Kratz 1989 wieder auf die Textstelle in Leonardos Traktat über die Malerei, in der er die Darstellung von Frauen mit züchtigen Gebärden und übereinandergelegten Armen empfiehlt. Er lässt die Büste ihre Arme auf Höhe der Brust auf der linken Körperseite zusammenführen, sodass die linke Hand die rechte umfasst, und in der rechten Hand das Halten eines pflanzlichen Elements wie eines kleinen Blumenstraußes denkbar bleibt [Abb. 12], Im Jahr darauf zeichnete der Historiker Mark Jones für die Ausstellung „Fake“54 eine Rekonstruktion, bei der die linke Hand nach unten abgeknickt ist [Abb. 13], Eine konkrete Vorlage für diese Haltung gibt er nicht, Wolff-Thomsen weist aber darauf hin, dass dies dem Luini-Bild [Abb. 9], das als Vorlage für Lucas gedient haben soll, entspräche.55 In der ganzen Debatte um die Arme der Flora-Büste kommt die Rede interessanterweise selten (und bei den Rekonstruktionen gar nicht) auf das Fragment der Hand, welches im Sommer 1909 erworben wurde und die Originalhand der Büste sein soll. Ob es Zweifel an der Zusammengehörigkeit von Hand und Büste gab oder gibt, die jedoch nie geäußert wurden, oder es an der starken Beschädigung des Teils lag: die Nicht-Thematisierung ist verwunderlich. Zumal, angenommen es handle sich um die Hand der Büste, diese einen starken Beweis für das ehemalige Vorhandensein der Arme liefern würde oder zumindest, auch ohne Ausbildung der Unterarme das Gesamtbild der Büste stark beeinflussen würde. Das ist an dem Lucasschen Foto sichtbar, auf dem die Hand auf Höhe der rechten Schulter angebracht zu sein scheint und das drapierende Tuch hält [Abb. 4],

Als charakteristisch für Leonardo beschreibt Bode dann auch weitere Äußerlichkeiten, wie die Ausführung und Anordnung des rotblonden gewellten Haares der Büste, und der „mit feinstem Geschmack darin angebrachten Rosen und kleineren Blumen“56. Hildebrandt widmet der Ausarbeitung der Haare der Büste, in der auch er die Hand des Meisters erkennen will, gar mehrere Seiten seiner Leonardo-Biographie.57 Doch hier gehen die Meinungen verschiedener Kunstkenner weit auseinander. Der Kunsthistoriker Gustav Pauli kommentiert dazu empört: „Soll dieses grüne Schläuchlein ein Rosenzweig sein, ein von Leonardo modellierter Rosenzweig?? Wenn ein großer Künstler ein plastisches Frauenbild durch einen Kranz als Flora charakterisieren wollte, so hätte er nicht diesen Kranz gebildet.“58

Über die Darstellung der Haare und des Haarschmucks hinaus hält Pauli auch die Gestaltung des Gesichtes, besonders die der Augen, die er als „weitgeöffnet“ und „starr“ mit „scharf umschnittenen Lidern“59 beschreibt, für einen Hinweis gegen die Autorenschaft Leonardos. Er sieht dagegen Gemeinsamkeiten mit den „Schönheiten der späten römischen Antike, die der Zeit um 1500 wenig bedeuteten, um so populärer aber um 1800 waren.“60 Mit dieser Einschätzung reiht er sich weder in die Zuschreibung zu Leonardo oder dessen Umkreis ein, noch zu der Herstellung der Büste durch R. C. Lucas, die dann in der Mitte des 19. Jahrhunderts gelegen hätte. Für die Datierung in das 18. Jahrhundert sprechen neben Paulis stilistischer Auffassung noch weitere Punkte, auf die ich in Kapitel 7 weiter eingehen werde.

Seine Zuschreibung zusammenfassend schreibt Bode: „Nur ein Schüler oder Werkstattgenosse Leonardos hätte so selbstlos und treu die Erfindung seines Meisters zur Ausführung bringen können; unter ihnen ist aber keiner, dessen Können auch nur entfernt an die Meisterschaft des Werkes heranreicht. Wir werden also auch auf diesem Wege wieder auf Leonardo als den Meister unserer Wachsbüste geführt.“61 Genau gegensätzlich schätzte Karl Werckmeister, Inhaber einer Berliner Kunsthandlung, die Nähe der Büste zu anderen Leonardo-Werken ein: „Glaubt wirklich ein auch nur mäßig begabter jüngerer Kunsthistoriker daran, daß Leonardo, wenn er eine Wachsbüste modelliert hätte (wovon sich sicher bei dem schwatzhaften Allerwelts-Vasari eine Überlieferung finden würde), die Ingredenzien und das doch etwas zu deutliche Rezept (das direkt auf eine Restauratorenphantasie weist) dazu aus dreien seiner eigenen Bilder (Mona Lisa mit ihrem vielgestaltigen Lächeln, dem Kopfe der hl. Anna selbdritt, dem Johannes aus dem Louvre) geholt hätte, um sie mit Anklängen an griechische Figuren (z.B. der Klytiabüste) und an griechische Profile (z.B. die kindische Aphrodite) und im Rumpf und Busen an die Aphrodite von Melos zu mischen?“62 Darüber welche Einflüsse oder Anlehnungen in der Flora-Büste zu sehen sind, herrscht also allgemein recht große Einigkeit. Diese ließ jedoch noch eine große Spanne von Interpretationen und Auslegungen zu: Ob die Ähnlichkeiten mit Werken Leonardos und seiner Schüler jedoch auf ebendiese als Erschaffer der Berliner Büste hinwiesen, oder ganz im Gegenteil auf einen späteren Abklatsch hindeuteten, darüber wurde man sich nicht einig.

[...]


1 Wolff-Thomsen,Ulrike: Die Wachsbüste einer Flora in der Berliner Skulpturensammlung und das System Wilhelm Bode, Kiel 2006, S. 144.

2 Cook, Herbert: The newly discovered 'Leonardo', in: The Burlington Magazine, Mai 1909.

3 Bode, Wilhelm: MeinLeben, Berlin, 1930, S.213.

4 Amtliche Berichte aus denköniglichenKunstsammlungen, 31. Jg, Nr. 3, Dez. 1909, S. 73.

5 Cooksey, Charles: Awaxbustby Leonardo da Vinci?, in: Times, London 23.10.1909.

6 Ausführlich bearbeitet in: Wolff-Thomsen 2006.

7 Riederer, Josef: Echt und falsch, Berlin Heidelberg 1994, S291f.

8 Vgl. Börsch-Supan, Helmut: Das wiedereröffnete Bode-Museum in Berlin, in: Kunstchronik 60, 2007, S. 416.

9 Bode-Museum, April2018.

10 Vgl. Wolff-Thomsen2006; Boskovit, Miklos: WilhelmvonBode als Kunstkenner, in: Weppelmann (Hrsg.): Zeremoniell und Raum in der frühen italienischen Malerei, Gemäldegalerie Berlin, Petersberg 2007; Reitz, Manfred: Auf der Fährte der Zeit, Mannheim 2003; etc.

11 Wolff-Thomsen 2006, S. 14.

12 Bode: Die Wachsbüste einer Flora im Kaiser-Friedrich-Museum zu Berlin, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen 30, 1909, S. 6.

13 Schüller, Sepp: Fälscher, Händler undExperten, München 1965, S. 69.

14 Genauer auchbei Faude-Nagel, Carolin: Die Fälschungen des Wolfgang Beltracchi, in: Original bis..., Halle 2014, S.205.

15 Brühl, Friederike von: Marktmacht von Kunstexperten als Rechtsproblem, Köln 2008, S. 7f.

16 Brühl 2008, S. 7.

17 Bode in: JahrbuchderKöniglichPreußischen Kunstsammlungen, 30, Berlin 1909.

18 Natürlich bleibtjedem Betrachter ein Spielraum, in dem er einem Werk eine ganz subjektive Bedeutung zuschreiben kann. Nur weil zum Beispiel der finanzielle Wert auf dem Kunstmarkt erheblich durch eine andere Zuschreibung herabgesetzt wird, heißt das nicht, dass das Werk für den Einzelnen nicht noch eine große persönliche, künstlerische oder spirituelle Bedeutung haben kann. Im Allgemeinen istjedoch eine Beeinflussung durch veränderte Zuschreibung zu beobachten. Weiterführend dazu u.a.: Huang, Mengfei; Bridge, Holly; Kemp, Martin J.; Parker, Andrew J. (2011): Human cortical activity evoked by the assignment of authenticity when viewing works of art. In: Frontiers in Human Neuroscience 5.

19 Friedländer, S. 110.

20 Ost, Hans: Falsche Frauen, Köln 1984, S. 32.

21 Vgl. Hildebrandt: Die Berliner Flora: Alte Lügen und neue Wahrheiten, in: Der Kunstwanderer, 13, Berlin 1931/32.

22 Ost 1984, S. 26.

23 Hildebrandt, Edmund: Die Flora-Büste, in: DerKunstwanderer, 9. Berlin, 1927/28, S. 95.

24 Vgl. Riederer, Josef: Archäologie und Chemie, Berlin 1987.

25 Wolff-Thomsen 2006, S.64

26 Eidesstattliche Erklärung, siehe z.B. Wolff-Thomsen 2006, S. 203ff.

27 Schüller, Sepp: Fälscher, Händler undExperten, München 1965, S.79.

28 Wolff-Thomsen 2006, S. 40 & S. 223.

29 Bode: MeinLeben, 1930, S. 213.

30 Wolff-Thomsen 2006, S. f44.

31 TheBurlingtonMagazine, Mai i909, S. 113.

32 Wolff-Thomsen 2006, S.29.

33 Friedländer 1992, S. 105.

34 Friedländer 1992, S. 106.

35 Bode: Die Wachsbüste einer Flora im Kaiser-Friedrich-Museum zu Berlin, in: Jahrbuch der Kgl. Preußischen Kunstsammlungen 30, Berlin 1909, S. 308.

36 Ebd.

37 Cook 1909.

38 Murray Marks, engl. Antiquar und Kunsthändler in dessen Besitz sich die Büste vor Bodes Ankauf befand.

39 Bode in: JahrbuchderKöniglichPreußischen Kunstsammlungen 30, 1909, S. 1.

40 Wolff-Thomsen 2006, S. 192, dort zitiert aus: Kultusminister Trott zu Solz an Kaiser Wilhelm II, Abschrift für das Kgl. Finanzministerium, 20.09.1909.

41 Wolff-Thomsen2006, S. 192, dortzitiertaus: Bode an Minister Trottzu Solz, 3.8.1909.

42 Momentan in konservatorischer Arbeit, ab Ende 2019im Palast des Holyroodhouse, Edinburg, E-Mail-Auskunft von Louise Cooling, Royal Collection Trust, louise.cooling@rct.uk, 28.06.2018.

43 Bode in: Jahrbuch derKöniglichPreußischen Kunstsammlungen 30, 1909, Seite 6.

44 Cooksey 1909.

45 Bode in: JahrbuchderKöniglichPreußischen Kunstsammlungen 30, 1909.

46 Bode in: JahrbuchderKöniglichPreußischenKunstsammlungen 30, 1909, Seite llf.

47 Bode in: Jahrbuch derKöniglichPreußischen Kunstsammlungen 30, 1909, Seite 7.

48 Hildebrandt, Edmund: Leonardo da Vinci, Berlin 1927, S. 288ff.

49 Bode in: Jahrbuch derKöniglichPreußischen Kunstsammlungen 30, 1909, Seite 8, zitiert aus Leonardos Traktat über die Malerei.

50 Vasari, Gioigio: Das Leben von Lionardo da Vinci, Raffael von Urbino und Michelagnolo Buonarotti, Reclam, Stuttgart 1996.

51 Hildebrandt 1927 I, S. 294.

52 Vgl. Wolff-Thomsen 2006, S. 165f.

53 Bode in: Jahrbuch derKöniglichPreußischen Kunstsammlungen 30, 1909, Seite 8.

54 1990 in London, British Museum.

55 Wolff-Thomsen 2006, S. 165f.

56 Bode in: Jahrbuch derKöniglichPreußischen Kunstsammlungen 30, 1909, Seite 7.

57 Hildebrandt 1927 I, S.290f.

58 Pauli, Gustav: Die Wachsbüste der FloraimKaiser-Friedrich-Museum, in: KunstchronikXXI, 1909/10, S. 150.

59 Pauli in: Kunstchronik 1909, S. 149.

60 Ebd.

61 Bode in: JahrbuchderKöniglichPreußischen Kunstsammlungen 30, 1909, Seite 10.

62 Was man in der Flora-Büste fand, in: Rheinisch-Westfälische Zeitung, 26.11.1909, zitiert nach: Wolff-Thomsen 2006, S. 66.

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Zur Authentifizierung von Kunstwerken. Die Flora-Büste im Berliner Bode-Museum
Hochschule
Universität Leipzig  (Kunstgeschichte)
Note
1,1
Autor
Jahr
2018
Seiten
67
Katalognummer
V1006837
ISBN (eBook)
9783346393241
ISBN (Buch)
9783346393258
Sprache
Deutsch
Schlagworte
authentifizierung, kunstwerken, flora-büste, berliner, bode-museum
Arbeit zitieren
Lisa Wossal (Autor:in), 2018, Zur Authentifizierung von Kunstwerken. Die Flora-Büste im Berliner Bode-Museum, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1006837

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