Repräsentationen von Männlichkeit in der französischen Literatur. Erläuterung anhand verschiedener Beispiele aus Literatur und Musik


Hausarbeit, 2021

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

1. Junge Liebe und Geschlechterrollen in MC Solaars La Belle et le Bad Boy
Rap poetiqué als Ausdrucksform
Die Darstellung von Junge und Mädchen und ihr Verhältnis zueinander
Bibliographie

2. Vaterschaft und Jugend in dem Song Laisse pas traîner ton fils von Suprême NTM
Hardcore-Rap und Rap engagé
Das Vater und Sohn Verhältnis
Bibliographie

3. Homophobie und Geschlechterrollen in Èdouard Louis' En finir avec Eddy Bellegueule
Homophobie in der Provinz
Geschlechterrollen im Dorf
Bibliographie

4. Toxische Männlichkeit in Marie NDiayes Trois femmes puisssantes
Patriarchat und Familie
Männliche Toxizität und Irrwege des Patriarchats
Bibliographie

1. Junge Liebe und Geschlechterrollen in MC Solaars La Belle et le Bad Boy

Der Rapper MC Solaar wurde in Dakar, der Hauptstadt von Sénégal am 5. März 1969 geboren. Sein Lied La Belle et le Bad Boy ist im Jahr 2001 auf dem Album Cinquième As e rschienen. Zweifellos gilt MC Solaar als einer der populärsten und erfolgreichsten Vertreter des französischen Rap. „Die senegalesischen Rapper setzen sich inhaltlich bewusst vom Gangsterrap der USA ab und beziehen zu den brennenden Problemen in ihrer Heimat Stellung“ (Heinrich, 2007: S. 124). Seine zahlreichen Wort- und Reimspiele, sowie seine stark ausgeprägte Sozialkritik zeichnen ihn besonders aus. Die Musik MC Solaars, bürgerlich Claude M'Barali, behandelt Themen wie Arbeitslosigkeit, Jugendkultur, Geschlechterrollen, Politik, Urbanität und Gesellschaft. Viele seiner Songtexte sprechen die Problematik herrschender sozialer Missstände, Konflikte und Ungerechtigkeit an.

Der Track La Belle et le Bad Boy beschreibt und erzählt die Romantik eines risikofreudigen Jungen und eines introvertierten und gleichzeitig faszinierten Mädchens. In der Schule treffen sie sich und der Junge verliebt sich in das Mädchen. Sie wird von ihrem rebellischen Freund schnell in die Welt des Verbrechens hineingezogen. Damit eröffnet sich die Fragestellung, inwiefern MC Solaar in seinem Song die junge Liebesbeziehung zwischen dem Mädchen und dem Jungen repräsentiert und dadurch soziale Geschlechterrollen in Frage stellt.

Rap poetiqué als Ausdrucksform

Im Gegensatz zum Gangster Rap ist die Herangehensweise und der Anspruch an den Hip Hop bei MC Solaar eine andere; nämlich eine verspielte, sanfte und humorvolle Art und Weise, welche sich selbst nicht immer ernst nehmen muss. Hierbei ist durchaus, entgegen des traditionellen Männlichkeitsideals von Stärke und Macht, auch eine „weiche“ Seite erkennbar. Es geht also nicht nur um Vorurteile und Party machen, sondern ebenso um Emotionen, Liebe, Lyrik, Tiefgründigkeit und verbale Kreativität. Seine Texte zeichnen sich durch häufige Anwendung von verschiedenen rhetorischen Mitteln und ein breites Spektrum an poetischen Wortspielen aus.

Dabei kommt beim Rap poetiqué der literarischen Komponente besondere Bedeutung zu, da die Themengebiete rhetorisch äußerst kunstvoll vermittelt werden. Unter anderem sind Metaphern und Wortspiele literarisch wertvolle Faktoren, welche die Texte MC Solaars auszeichnen. Innerhalb der Fangemeinde wird er für seine komplexen und lyrischen Texte, sowie seine Authentizität gefeiert. Nicht zuletzt ist Rapmusik innerhalb der jungen Bevölkerung so beliebt, da sie sich in den Botschaften der Lieder repräsentiert und verstanden fühlen. In einem ärmlichen und perspektivlosen Leben gibt die Kunst des Reimens Rappern eine gute Möglichkeit ihre Frustration und ihren Unmut äußern zu können.

Die Darstellung von Junge und Mädchen und ihr Verhältnis zueinander

„Fußball ist männlich. Männer spielen Fußball, Männer gucken Fußball, Männer sprechen über Fußball. Seit jeher scheint Männlichkeit der Inbegriff der weltweit beliebten Ballsportart zu sein“ (Körner, 2014: S. 138). Demnach scheint Fußball in unserer Gesellschaft ein größtenteils männlich konnotiertes Phänomen zu sein. Das Mädchen in MC Solaars Lied widersetzt sich dieser sozialen Konstruktion der Geschlechter, indem sie als weibliche Figur Interesse an Fußball zeigt. „C'était une f ille f un f ana de f ootball“ (MC Solaar, 2001: 0:26-0:28). Anhand dieser Alliteration wird deutlich, dass Jungs sie „fun“ und interessant finden, aufgrund ihrer untypischen Attribute. Sie kann als ein Mädchen gesehen werden, welches sich behauptet und keine Hemmungen davor zeigt, sich dort aufzuhalten, wo überwiegend Jungs vertreten sind und somit die binären Geschlechterrollen durch ihr Wesen und Auftreten widerlegt.

Betrachten wir den Titel des Liedes La Belle et le Bad Boy ist dieser offensichtlich ein Verweis auf eines der romantischsten und bekanntesten französischen Volksmärchen La Belle et le Bête. Bereits im Titel wird deutlich, dass dieses Märchen von einer Schönen und einem Biest handelt, die bedeutsamen Charaktere sind somit von Beginn an deutlich herausgestellt; der Titel des Liedes bezieht sich auf das rein äußerliche Erscheinungsbild des Mädchens, während die männliche Komponente mit „schlechten“ Charakterzügen beschrieben wird. Doch inwiefern lässt sich das Phänomen des Bad Boys erklären? Es existieren hierzu mehrere Kategorien, entscheidend für vorliegende Analyse ist allerdings besonders ein gemeinsames Merkmal, welches allen Bad Boy Typen innewohnt: die Rolle des Befreiers (vgl. FFC, 2014: S. 42). Im Text agiert der Junge rebellisch, indem er durch seine kriminellen Aktivitäten gegen das System handelt, dies kann als Akt des Widerstandes oder der Rebellion gegen die Gesellschaft gesehen werden. Schon früh in der Menschengeschichte wurden Männern Attribute zur Jagd oder Kriegsführung zugesprochen (vgl. Brockhaus, 2006: S. 613), dies ist möglicherweise ein Faktor für die im Volksmund typisch männlichen charakteristischen Eigenschaften wie Stärke, Tapferkeit, Dominanz, Kraft und Durchsetzungsvermögen. Männliche (und natürlich auch weibliche) Eigenschaften sind jedoch nicht bedingt und müssen beigebracht und erlernt werden (vgl. Harari, 2018: S. 188).

In der ersten Strophe erfahren wir: „lui ne craignait pas les balles“ (MC Solaar, 2001: 0:28-0:31), dementsprechend weist der Junge keinerlei Ängste vor Bällen auf. Ob dies eine Andeutung auf Fußbälle oder Pistolenkugeln ist, bleibt offen. Letztendlich sind es jedoch die Projektile, „deux balles de 22“ (MC Solaar, 2001: 1:58-2:02), welche zur Folge haben, dass das Mädchen stirbt. Der Junge verspricht ihr Dinge, die er noch nicht erreichen kann, zum Beispiel einen sehr teuren Sportwagen, zusätzlich wird angesprochen, dass er Mopeds klaut (vgl. MC Solaar, 2001: 0:32-0:37), dies impliziert, dass der Junge großen Wert auf materielle Besitztümer legt und er diesen eine hohe Priorität zuspricht.

In dem Songtext tauchen einige Hinweise auf mathematische und geometrische Symbolik auf; welche auf poetische und künstlerische Weise verbildlicht werden. Der erste Verweis stützt sich auf die Mathestunde, in welcher sich die beiden sehen und in diesem semantischen Raum aufeinander treffen (vgl. MC Solaar, 2001: 0:23-0:26). Die Zeile „s'il devenait triangle, elle serait rectangle“ (MC Solaar, 2001: 0:42-0:44) beinhaltet zwei Andeutungen auf geometrische Formen: das Dreieck und das Rechteck. Der Text beschreibt damit ihre junge Liebe als die perfekte Kombination zweier scheinbar unvereinbarer Dinge. Des Weiteren hat ein Dreieck drei Seiten und wir haben an dieser Stelle drei Verweise auf die Mathematik.

Der Vers „mais le contexte est plus fort que le concept“ (MC Solaar, 2001: 0:58-1:00) schildert, dass die Konditionen so hart sind, dass auch ihre junge Liebe sie nicht zu retten vermag. Der Kontext von Gefahr, in welche sich die Liebenden stürzen, überwiegt hiermit der schönen und vollkommenen Liebe. Strophe 1 und Strophe 2 enden jeweils mit den Worten, dass sich ihr Freund in die Flammen wirft und sich damit reinwaschen muss (vgl. MC Solaar, 2001: 1:00-1:11), dies kann sich auf die Verbrechen beziehen, die er begehen musste, um zu überleben, aber auch um „la belle“ zu imponieren. Es trägt den Anschein, als habe er sich inzwischen an diverse kriminelle Machenschaften so sehr gewöhnt, dass ihm die Konsequenzen seines Handelns gleichgültig erscheinen. Im Mittelpunkt steht die unglücklich endende Liebesgeschichte zweier jungen Menschen, während sie von einem guten Leben träumen, überwindet der kriminelle Kontext, in welchem sich beide befinden, diesen Traum. Durch die Verwendung von Wörtern wie „rêve délimité“ und dem vorübergehendem Charakter des „[l]'escale“ (MC Solaar, 2001: 0:39-0:42) gibt der Text uns einen Hinweis auf das tragische Ende dieser Geschichte.

Um auf die Einstiegsfrage zurückzukehren, inwiefern MC Solaar in seinem Song die junge Liebe zwischen Mädchen und Junge darstellt und dadurch eine binäre Geschlechterordnung hinterfragt, ist letztendlich festzuhalten, dass die Darstellung des Mädchens als Fußballfan der sozialen Konstruktion „Fußball ist männlich“ (Körner, 2014: S. 138) widerlegt. Dem entgegen steht der Junge als Bad Boy, welcher stets in Schwierigkeiten gerät. Sie sind Gegensätze wie ein Dreieck und ein Rechteck, dennoch hält ihre zwischenmenschliche Beziehung die beiden zusammen. Als Prognose für das Ende der Geschichte erfahren wir in der Textzeile „et si c'est sanglant, ils plaident devant Dieu ensemble, vu?“ (MC Solaar, 2001: 1:32-1:34), dass die beiden vorhatten, zusammen zu sterben, letztendlich ist es jedoch das Mädchen, welches ihr Leben lässt. Im Text wird ersichtlich, dass der furchtlose Junge das Mädchen überzeugt, einen Weg zu finden, reich zu werden. Beide begehen Verbrechen und er leitet sie an, dass dies der einzige Ausweg ist. Die letzten Zeilen der zweiten Strophe verraten uns, dass beide in Schwierigkeiten mit anderen Kriminellen geraten, woraufhin das Mädchen erschossen wird. Schlussendlich steht der Bad Boy allein da, um mit den Konsequenzen zu leben, die sein Handeln verursacht haben. Er ist dazu gezwungen sich durch die Flammen „reinzuwaschen“. Festzustellen ist, dass MC Solaars Darstellung von Junge und Mädchen binäre Geschlechterrollen in Frage stellt, da sowohl der weibliche Part, als auch der männliche entgegen ihres sozialen Geschlechts agieren.

Bibliographie

Primärquelle:

MC Solaar (2001): < “La Belle et le Bad Boy“ https://www.youtube.com/watch?v=HUO2yMEQKQc > (Zuletzt abgerufen am 03.12.2020).

Sekundärquellen:

Eintrag “männlich” und “Mann” in: Brockhaus (2006). 21., völlig neu bearb. Aufl. Leipzig: F. A. Brockhaus. S. 612 – 617.

Harari, Yuval Noaḥ (2018): Eine kurze Geschichte der Menschheit. 30. Auflage. München: Pantheon.

Hawkins, Peter; Hawkins, Professor Stan; Burns, Professor Lori (2000): Chanson. The French Singer-Songwriter from Aristide Bruant to the Present Day. 1st ed. Florence: Taylor and Francis (Ashgate Popular and Folk Music).

Heinrich, Hans-Jörg (2007): Rapper im Senegal. Die Botschaft der Straße. In: Karin Bock, Stefan Meier, Gunter Süß (Hg.): HipHop meets Academia. Globale Spuren eines lokalen Kulturphänomens. Bielefeld: transcript.

Körner, Franziska (2014): Fußball als moderner Zufluchtsort traditioneller Männlichkeit: Eine Analyse des sozialen Feldes Fußball unter dem Aspekt der Männlichkeit, in: Bulletin Texte / Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien / Humboldt-Universität zu Berlin; Nr. 41, 138-151.

FFC 100.12, Writing Collective (2014) "The Bad Boy: A Cultural Phenomenon," e-Research: A Journal of Undergraduate Work: Vol. 3: No. 1, Article 7.

2. Vaterschaft und Jugend in dem Song Laisse pas traîner ton fils von Suprême NTM

Der vorliegende wissenschaftliche Artikel untersucht die Darstellung des Vater-Sohn-Verhältnisses in Suprême NTMs Hip Hop Stück Laisse pas traîner ton fils. Im April 1998 wurde genannter Track auf ihrem vierten Studioalbum Suprême NTM veröffentlicht. Das Hip Hop Duo setzt sich zusammen aus den zwei Rappern Joey Starr und Kool Shen, mit bürgerlichen Namen Didier Morville und Bruno Lopes. NTM gilt als Inbegriff der Auflehnung gegen Autoritäten wie Polizei, Staat und Justiz. Ihre Texte sind sozialkritisch und prangern diverse Missstände innerhalb der französischen Gesellschaft und Politik an. Die beiden Künstler sind in Frankreich bekannt für ihre aggressive als auch provokante Ausdrucksweise. Ihre Themenpalette reicht von Rassismus über Polizeigewalt, Drogen und Kriminalität bis hin zur prekären Situation der Banlieues. Die Musik Suprême NTMs richtet sich gegen Diskriminierung und soziale Ungleichheit und steht einer Klassengesellschaft dementsprechend kritisch gegenüber. Der Hip Hop Gruppe wurde bereits mehrfach die Verherrlichung und der Einsatz von Gewalt vorgeworfen (vgl. Maierhofer-Lischka, 2013: S. 83).

In ihrem Stück Laisse pas traîner ton fils richtet sich das Rapper Duo an die Bewohner der Vororte, welche sowohl die Verantwortlichen als auch die Opfer der schwierigen Situation auf der Straße darstellen. Das Lied dient als ausdrückliche Warnung an die Eltern, die die Bildung und Fürsorge ihres Kindes vernachlässigen. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht hierbei die Frage, inwiefern das spezielle Verhältnis zwischen Vater und Sohn im Songtext dargestellt wird und wie das (Familien-)Leben in den Banlieues aus Perspektive des Heranwachsenden wahrgenommen wird.

Hardcore-Rap und Rap engagé

Im Vergleich zur verspielten und sanften Art des Rap poetiqué ist die Ausdrucksform beim Hardcore-Rap sehr viel rauer, aggressiver und härter. Dessen Inhalte befassen sich mit Drogen, Waffen, Macht und Kriminalität. „Mit Künstlern wie Kaaris etablierte sich der Straßen- oder Hardcore-Rap, der politisch viel Aufmerksamkeit erregte“ (Bech, 2019). Der Musikstil Suprême NTMs lässt sich dementsprechend im Gangster- und Hardcore-Rap einordnen. Ihre Texte sind düster und implizieren häufig gewalttätige Aspekte. Gewisse Merkmale des Hardcore Raps, wie Aggression, Autorität, Stärke und Gewalt, lassen sich stereotypisch dem maskulinen Geschlecht zuordnen. Jedoch ist noch wichtig anzumerken, dass jeder der beiden Rapper einen anderen Stil repräsentiert. Während Joey Starr provokante, harte und schonungslose Texte verkörpert, welche sich aus traditioneller Sicht in männlichen Werten einreihen, sind die Zeilen Kool Shens von Melancholie, Tiefgründigkeit und Humor geprägt. Beide Künstler stehen im Kontrast und spiegeln zwei unterschiedliche Seiten wider; zum einen die aggressive, dominante, unabhängige und ehrgeizige, zum anderen die sensible, melancholische, fürsorgliche und teilnahmsvolle Seite. Hiermit ist sowohl eine harte und maskuline, als auch eine weiche und feminine Komponente vertreten.

Als Rap engagé wird ein Lied bezeichnet, welches zwei Konditionen erfüllt, action und dévoiler (vgl. Maierhofer-Lischka, 2013: S. 88). Die beiden genannten Bedingungen finden sich im Track Laisse pas traîner ton fils deutlich wieder. Der Rapsong bezieht eindeutig Stellung und kritisiert einerseits das Verhalten und Handeln der Vaterfigur, andererseits wird auch der Staat und das System kritisch beurteilt. Obwohl die Gruppe Gewalt und Gesetzeswidrigkeiten in ihren Liedtexten thematisiert, distanziert sie sich gleichzeitig von der Befürwortung und Verherrlichung gewalttätiger Handlungen; so zum Beispiel der Track Pose ton Gun, welcher explizit Gewalttaten kritisiert und an die Menschen appelliert, ihre Waffen niederzulegen und Respekt und Verantwortungsbewusstsein zu zeigen.

Das Vater und Sohn Verhältnis

Betrachten wir zuerst die klare Botschaft des Songtitels , so ist diese offensichtlich an den Vater des Sohnes adressiert. Im Refrain des Liedes erfahren wir: „Laisse pas traîner ton fils. Si tu veux pas qu'il glisse. Qu'il te ramène du vice“ (Suprême NTM, 1998; 0:55-1:15). Diese Zeilen sind polysemantisch zu betrachten. Kool Shen spricht aus kindlicher Perspektive die Figur des Vaters direkt an und legt ihm nahe auf seinen Sohn aufzupassen, damit er nicht auf die schiefe Bahn gerät und sich zu kriminellen Machenschaften verleiten lässt. Auf symbolischer Ebene kann der Vater aber ebenso für das Land Frankreich stehen, während die dargestellte Lebensweise des Sohnes die derzeitige Mentalität der Jugend repräsentiert. Das Stück ist damit einerseits an die Elternschaft gerichtet, ihren Sohn nicht sich selbst zu überlassen, andererseits ist es aber auch ein Vorwurf gegen den französischen Staat und sein System die Jugend im Stich gelassen zu haben.

Zu Beginn der ersten Strophe leitet Kool Shen ein, dass es für die Jugend keine Arbeit mehr gibt und das System untergehen wird. Sowohl verärgert als auch ermüdet von dieser Situation bevorzugen es junge Menschen auf der Straße zu leben und keiner festen Berufstätigkeit nachzugehen. Das lyrische Ich richtet sich fragend an die Vaterfigur: „C'est ça que tu veux pour ton fils ? C'est comme ça que tu veux qu'il grandisse? (Suprême NTM, 1998: 0:44-0:47). Diese Verse sind bewusst in Form einer rhetorischen Frage formuliert und erfüllen einen verstärkenden Effekt; NTM wenden dieses Stilmittel in ihrem Song an, um ihren Aussagen besonderen Nachdruck zu verleihen. Diese gestellte Scheinfrage impliziert die Antwort für den Rezipienten im Grunde selbst: Nein.

In folgenden Zeilen spricht der Vater in betrunkenem Zustand zu seinem Kind: „Putain, c'est en me disant: 'j'ai jamais demandé à t'avoir!'“ (Suprême NTM, 1998: 1:17-1:20). Dieser Satz markiert die tiefe Ablehnung und Entfremdung des Vaters gegenüber seinem Sohn. Um diesen Mangel an väterlicher Zuneigung zu kompensieren, ist für den Jugendlichen der einzig mögliche Ausweg die Straße (vgl. Suprême NTM, 1998: 1:13-1:17). In den anschließenden Versen erzählt uns der Sohn, dass das Verhalten seines Vaters ihm gegenüber dazu beigetragen hat, ihn mit dem Straße als Zufluchtsort vertraut zu machen. Destabilisiert durch die fehlende Zuneigung wendet er sich dem vermeintlich freien Leben auf der Straße zu. Letztendlich ist diese Freiheit aber nur ein Trugbild, da sie direkt in die Kriminalität führt. Rückblickend bemerkt der Heranwachsende, dass alles nur Wunschdenken war und das Straßenleben ihm weder Trost noch Schutz geben kann: „ J'ai eu l'illusion de trouver mieux“ (Suprême NTM, 1998: 1:24-1:28). Letztendlich sehnt sich der Sohn nach väterlicher Beachtung und wünscht sich eine verantwortungsbewusste Vaterfigur.

In einem Interview mit der Zeitschrift Marie Claire erzählt Joey Starr, dass sein eigener Vater hart, streng und ungeduldig war und zu physischer Gewalt neigte (vgl. Mairesse, in: Marie Claire), demnach weist der Track ebenso autobiografische Züge auf. In dem Songtext beschreibt Joey Starr seine persönlichen Erfahrungen im Umgang mit seiner schwierigen Kindheit. Er repräsentiert das typische Image des Bad Boys, welcher sich selbst kaum beherrschen kann und ständig im Konflikt mit der Justiz und Polizei steht. Das Auftreten als harter Gangster und sein aggressives und maskulines Verhalten decken sich mit den Charakteristika des Hardcore-Raps. Sein Gegenpart Kool Shen agiert hingegen intellektuell und reflektiert und ruft auch im Songtext dazu auf, nicht dem Sog der Kriminalität zu verfallen und aus den Entscheidungen und Fehltritten anderer zu lernen.

Die Fronten des Konflikts von Vater und Sohn scheinen so verhärtet, dass keiner den ersten Schritt wagen möchte: „Aucun d'entre nous n'a voulu recoller les morceaux. Toute tentative nous montrait qu'on avait vraiment trop d'ego“ (Suprême NTM, 1998: 1:44-1:49). Das hier verwendete Wort Ego steht in der Umgangssprache für das eigene Selbstwertgefühl. Während allerdings der Ausdruck Selbstbewusstsein im positiven Sinne gebraucht wird, ist die Benutzung des Terminus Ego meist negativ behaftet. Aus den vorangehenden Versen lässt sich erschließen, dass beide Seiten auf einem Ego-Trip sind und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit ein übersteigertes Selbstbild von sich haben. Keiner möchte dem anderen vergeben und seinen Stolz überwinden, da ihnen ihr jeweiliges mannhaftes Ego im Wege steht. Beide Familienmitglieder verinnerlichen ein starkes Gefühl von Egozentrik und Macht, darauf verweist im Song der Ausdruck „ce putain d'orgueil“ (Suprême NTM, 1998: 2:03-2:06). doch keiner ist bereit über seinen eigenen Schatten zu springen. „Man kann nur etwas herausfinden darüber, was einem Sohn fehlt […], indem man sich zunächst klarmacht, was die Bedeutung eines anwesenden Vaters ist oder sein kann“ (Schon, 2010: S.16). Welche Folgen die Anwesenheit des Vaters für den Sohn hat, erfahren wir am Anfang der letzten Strophe. Dort spricht Kool Shen in der Vergangenheitsform: „Que voulais-tu que ton fils apprenne dans la rue? Quelles vertus croyais-tu qu'on y enseigne?“ (NTM Suprême, 1998: 2:33-2:38), diese Fragen verweisen beinahe vorwurfsvoll auf das tragische Ende der Geschichte; der Sohn sucht Zuflucht im kriminellen Straßenleben und ist in diesem Teufelskreis gefangen. Die Folgen des Verbrecherdaseins offenbaren sich uns in der dritten Strophe, in welcher die Situation in den Banlieues als Überlebenskampf mit seelischen Tiefschlägen und physischen Auseinandersetzungen bezeichnet wird (vgl. Suprême NTM, 1998: 3:05-3:11).

[...]

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Repräsentationen von Männlichkeit in der französischen Literatur. Erläuterung anhand verschiedener Beispiele aus Literatur und Musik
Hochschule
Universität Augsburg
Veranstaltung
Représentations de la masculinité dans la littérature contemporaire en France
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
19
Katalognummer
V1006985
ISBN (eBook)
9783346392312
ISBN (Buch)
9783346392329
Sprache
Deutsch
Schlagworte
repräsentationen, männlichkeit, literatur, erläuterung, beispiele, musik
Arbeit zitieren
Janis Alina Hindelang (Autor:in), 2021, Repräsentationen von Männlichkeit in der französischen Literatur. Erläuterung anhand verschiedener Beispiele aus Literatur und Musik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1006985

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