Ätiologie und Pathogenese von Diabetes mellitus Typ 1 und dessen Einfluss auf den Schulalltag von Kindern. Eine Untersuchung aus Schüler- und Lehrerperspektive


Bachelorarbeit, 2020

142 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Diabetes mellitus Typ 1 - Ein Überblick
2.1 Epidemiologie
2.2 Ätiologie und Pathogenese
2.2.1 Diabetes mellitus Typ 1
2.2.2.Diabetes mellitus Typ 2
2.2.3 Weitere Diabetesformen
2.3. Symptome und Diagnose
2.4. Behandlung
2.4.1 Diabetesschulung
2.4.2 Spritzentherapie
2.4.3 Insulinpumpentherapie
2.4.4 Sensorunterstützte Pumpentherapie (CGM/FGM-Systeme)
2.5 Komplikationen und Folgeerkrankungen
2.6 Psychosoziale Belastungen

3 Diabetes mellitus Typ 1 im schulischen Umfeld
3.1 Grundsätzliches zum Umgang mit betroffenen Schülerinnen und Schülern
3.2 Rechtliche Rahmenbedingungen
3.2.1 Nachteilsausgleich
3.2.2 Medizinische Interventionen

4 Interviews
4.1 Konzeption des Interviewleitfadens: Forschungsdesign
4.2 Zusammenfassung der Interviews
4.2.1 Probandin 1 (Schülerin)
4.2.2 Proband 2 (Lehrer)
4.2.3 Proband 3 (Schüler)
4.2.4 Probandin 4 (Lehrerin)

5 Diskussion der Ergebnisse
5.1 Limitationen der Arbeit
5.2 Ernährung im Rahmen einer Diabetes-Erkrankung
5.3 Bewertung des Einflusses auf den Schulalltag aus Sicht der Betroffenen

6 Zusammenfassung und Ausblick

7 Literatur- und Quellenverzeichnis

Anhang

Kurzfassung

Die vorliegende Arbeit thematisiert die Ätiologie und Pathogenese von Diabetes mellitus Typ 1 im Kindesalter. Darüber hinaus wird auf Epidemiologie, Klinik, Therapiemöglichkeiten und die psychosozialen Belastungen der Betroffenen eingegangen. Mittels vier Interviews, in denen sowohl an Diabetes erkrankte Schüler, als auch Lehrer, die betroffene Kinder unterrichteten, befragt wurden, soll die Forschungsfrage geklärt werden, wie die Erkrankung den schulischen Alltag beeinflusst, was letztlich auch Auswirkung auf die Lebensqualität der Schüler hat.

Dafür wird die Erkrankung zunächst in wissenschaftlicher Hinsicht theoriebasiert ausführlich erläutert. Die folgenden Kapitel schlagen die Brücke zum pädagogischen Teil der Arbeit. Hier stehen die Auswirkungen der Krankheit auf den Schulalltag im Vordergrund, wobei auch ein Blick auf die Rechtsgrundlagen nicht fehlen darf. Die Interviews und deren Auswertung bilden den praxisorientierten Part der Arbeit. Anhand der Aussagen der Probanden war es möglich, Sachverhalte zu vergleichen und dadurch Kriterien herauszuarbeiten, die für die Beantwortung der Forschungsfrage wichtig sind. Diese Ergebnisse finden sich in der Diskussion sowie in der Zusammenfassung.

In Deutschland sind etwa 31.000 Kinder und junge Erwachsene bis 20 Jahre von Diabetes mellitus Typ 1 betroffen. Insgesamt leiden rund 340.000 Menschen in Deutschland daran. Die Autoimmunerkrankung tritt meist im Kindesalter auf, sodass die Patienten bereits in jungen Jahren vor die Aufgabe gestellt werden, bei der Behandlung mithelfen zu müssen. Auch die Bezugspersonen stellt dies vor enorme Herausforderungen, die mit zunehmendem Alter des Kindes und der damit einhergehenden größeren Selbstständigkeit geringer werden. Da in dieser Arbeit der Fokus auf erkrankten Kindern in der Grundschule liegt, wurden Probleme in der Adoleszenz, die im Zusammenhang mit Diabetes stehen, weitgehend ausgeklammert.

Abstract

The present study deals with the etiology and pathogenesis of diabetes mellitus type 1 in childhood. In addition, the epidemiology, clinic, therapeutic options and the psychosocial burden of the affected persons are discussed. By means of four interviews, in which pupils suffering from diabetes as well as teachers who taught affected children were questioned, the research question is to be clarified how the disease influences everyday school life, which ultimately also has an effect on the pupils' quality of life.

To this end, the disease is first explained in detail from a scientific point of view, based on theory. The following chapters build a bridge to the educational part of the work. Here is the focus on the effects of the disease on everyday school life, whereby a look at the legal bases is also essential. The interviews and their evaluation form the practice-oriented part of the work. On the basis of the statements of the test persons it was possible to compare facts and thus to work out criteria which are important for answering the research question. These results can be found in the discussion and in the summary.

In Germany, around 31,000 children and young adults up to the age of 20 are affected by diabetes mellitus type 1. A total of around 340,000 people in Germany suffer from it. The autoimmune disease usually occurs in childhood, so that patients are confronted with the task of helping with treatment at an early age. This also poses enormous challenges for the caregivers, which decrease as the child grows older and becomes more independent. Since this work focuses on sick children in primary school, problems in adolescence which are related to diabetes have been largely excluded.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Modell zur Blutzuckeregulation [Fokus Biologie BW 7/8 (2016), Cornelsen Schulverlage, S. 134]

Abbildung 2: Age-sex standardised incidence rates (per 100,000 population per annum) of type 1 diabetes in children and adolescents aged 0-14 years [IDF 2019, 47]

Abbildung 3: Patchpumpe OmniPod® (rechts) mit Steuerungseinheit (Personal Diabetes Manager) [Abbott Inc. 2020]

Abbildung 4: CGM System [Pichleritsch 2020]

Abbildung 5: Funktionsweise von FGM [Pichleritsch 2020]

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Differentialdiagnostische Kriterien

Tabelle 2: Anteile von allen befragten Müttern, die ihre beruflichen Pläne nach der Diabetesmanifestation ihres Kindes änderten

1 Einleitung

„Ich meine, ich bin trotzdem ein normales Kind. Ich bin trotzdem ein normales Mädchen. Genauso wie die anderen. Ich hab halt diese kleine Einschränkung, aber das gehört zu meinem Leben und das bin ich. Und wenn manche damit nicht klarkommen, dann ist das nicht mein Problem, sondern ihres!“ [Probandin 1, Z. 275ff.]

Dieses Zitat ist dem Interview mit einer von Diabetes mellitus Typ 11 betroffenen Schülerin entnommen. Es drückt komprimiert ihre Sichtweise aus, nachdem sie seit fünf Jahren mit der Krankheit lebt. DMT1 ist eine Autoimmunkrankheit und die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindesalter [vgl. Bartus, Holder 2015, 11]. Gleichzeitig steigt die Zahl der Betroffenen stetig an, was - aus der Lehrerperspektive betrachtet - die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Kind mit dieser Beeinträchtigung unterrichten zu müssen.

Deshalb gilt das Forschungsinteresse dieser Arbeit der Frage, wie die Erkrankung das Leben und insbesondere den Schulalltag von Kindern und Heranwachsenden beeinflusst. Um dies zu eruieren, wurden jeweils zwei Interviews mit Schülern und Lehrern2 geführt, um beide Perspektiven im schulischen Kontext zu beleuchten. Der Interviewleitfaden wurde dabei so konzipiert, dass Fragen zu verschiedenen Bereichen3, welche von der Krankheit tangiert werden, gestellt wurden. Mit diesem Teil der Arbeit soll der Praxisbezug hergestellt werden, während die ersten Kapitel dazu dienen, den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand theoriebasiert zu erläutern, wobei aufgrund der Limitierung des Umfangs dieser Arbeit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Da der Typ-2-Diabetes und andere Diabetesformen im Kindesalter deutlich seltener auftreten als DMT1, finden deren Merkmale lediglich eine kurze Erwähnung.

Das Kapitel „Diabetes mellitus Typ 1 im schulischen Umfeld“ dient als Bindeglied zwischen dem Theorie- und Praxisteil. Hier werden typische Situationen aufgezeigt, die den Schulalltag beeinflussen. Dazu zählen bestimmte psychosoziale Belastungen, aber auch rechtliche Besonderheiten wie Nachteilsausgleich und Handeln im Notfall.

Die Interviews finden sich in transkribierter Form im Anhang wieder. In der Arbeit selbst wurden sie zusammengefasst und die Kernaussagen im Hinblick auf die Fragestellung herausgearbeitet. In der Diskussion schließt sich die Interpretation der Ergebnisse und die Kritik der eigenen Vorgehensweise an.

Das Ziel der Arbeit ist es somit herauszufinden, in welchem Maße sich die Krankheit des DMT1 auf die betroffenen Personen im schulischen Kontext - also Schüler und Lehrer - auswirkt.

2 Diabetes mellitus Typ 1 - Ein Überblick

Der menschliche Stoffwechsel ist ein komplexes System, bei dem eine Vielzahl chemischer und physikalischer Prozesse unter anderem dafür sorgen, dass Energie aus der Nahrung aufgenommen und verwertet werden kann. Bei diesem Vorgang sind zahlreiche Enzyme und Hormone beteiligt. Die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) hat beim Verdauungsvorgang die Aufgabe, den für das Aufschließen der Nahrung benötigten Pankreassaft herzustellen [vgl. Schlich 2017].

Zusätzlich verfügt die Bauchspeicheldrüse über mehrere Millionen Zellgruppen, die in α- und β- Zellen unterschieden werden. Diese Zellhäufungen wurden nach deren Entdecker, Paul Langerhans, benannt (Langerhans’sche Inseln) [vgl. Hürter et al. 2016, 31f.]. Bei gesunden Menschen produzieren die α-Zellen Glukagon und die β- Zellen dessen Gegenspieler Insulin. Die beiden Hormone sind an der Steuerung des Blutzuckerspiegels maßgeblich beteiligt. Glukagon hebt diesen an, während Insulin ihn senkt [ebd.]. Insulin ist ein Protein, welches aus vielen Aminosäuren zusammengesetzt ist [vgl. ebd., 41].

Da es als einziges Hormon im menschlichen Körper den Blutzuckerspiegel senken kann, kommt diesem eine herausragende Bedeutung im Bezug auf die Funktionsfähigkeit unseres Stoffwechsels zu. „Die Hauptwirkung des Insulins besteht unter anderem in seiner Schlüsselfunktion beim Transport von Zucker (Glukose) aus dem Blut und aus der Gewebsflüssigkeit in das Zellinnere“ [Bartus, Holder 2015, 14].

Glukose zählt als Kohlenhydrat zu den Makronährstoffen und wird als Energielieferant erster Ordnung bezeichnet, weil diese vor Lipiden und Proteinen metabolisiert werden. Kohlenhydrate sind der wichtigste Energieträger, welche aber nur unter Mithilfe des Insulins in die Körperzellen eingeschleust werden können [vgl. Bartus, Holder 2015, 14].

Die folgende vereinfachte Darstellung veranschaulicht diesen Prozess:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Modell zur Blutzuckeregulation [Fokus Biologie BW 7/8 (2016), Cornelsen Schulverlage, S. 134]

Bei DMT1 bekämpft das eigene Immunsystem die β- Zellen in der Bauchspeicheldrüse, sodass diese nach und nach zerstört werden. Das bewirkt, dass immer weniger Insulin vom Körper gebildet werden kann. Die Blutzuckerkonzentration im Blut steigt stetig weiter an, wodurch eine Hyperglykämie entsteht, weil die Glukose durch das fehlende Insulin nicht mehr an seinen Bestimmungsort transportiert werden kann. Ab einer Blutzuckerkonzentration von ca. 160 bis 180 mg/dl4 reagiert der Organismus mit einer erhöhten Urinproduktion (Polyurie), um den überschüssigen Zucker über die Nieren auszuschwemmen. Um den enormen Flüssigkeitsverlust auszugleichen, verspüren die Patienten großen Durst und trinken dementsprechend viel (Polydipsie). Es entsteht ein absoluter Insulinmangel, wodurch es zu einem vermehrten Fettabbau kommt, da der Körper nun seine Reserven angreift. Dabei entstehen Ketonkörper, die über die Nieren - ebenso wie der Zucker - nur teilweise ausgeschieden werden können, weshalb sie sich mit der Zeit im Blut anhäufen. Dieser Vorgang führt zu einer Übersäuerung des Blutes, was zu einer ketoazidotischen Stoffwechsellage führt, wenn keine Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Unterbleiben diese Interventionen (Insulingabe, Ausgleich des Wasser- und Elektrolytehaushalts), droht das diabetische Koma, welches unbehandelt zum Tod führt [vgl. Hien et al. 2013, 32f.; Bartus, Holder 2015, 21f.; Danne et al. 2016, 167f.]. Glücklicherweise tritt dieses früher häufige „Erstmanifestationskoma“ [Pfohl in: Schatz, Pfeiffer 2014, 63] heutzutage selten auf, da „die typischen Diabetesleitsymptome Polyurie und Polydipsie sowohl in der Ärzteschaft als auch in der Allgemeinbevölkerung inzwischen wesentlich aufmerksamer wahrgenommen werden“ [ebd.].

An DMT1 erkrankte Menschen sind somit auf eine lebenslange Substitution des Hormons angewiesen. Würde man es schlucken, würde es von der Magensäure zersetzt. Folglich ist die Verabreichung als subkutane Injektion obligatorisch.

2.1 Epidemiologie

Diabetes mellitus ist eine der am weltweit häufigsten vorkommenden Krankheiten, die in jeder Altersstufe und bei allen ethnischen Gruppen auftreten kann [vgl. Danne et al. 2016, 11]. Etwa 90% entfallen auf den Diabetes Typ-2, dementsprechend nur 10% auf den Typ-1. Kinder und Jugendliche sind fast ausschließlich von DMT1 betroffen5 [vgl. ebd.].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Age-sex standardised incidence rates (per 100,000 population per annum) of type 1 diabetes in children and adolescents aged 0-14 years [IDF 2019, 47]

Die International Diabetes Federation (IDF) weist für Deutschland in ihrer letzten Ausgabe des Diabetes Atlasses [2019, 49] 17.200 an Typ-1-Diabetes erkrankte Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre aus. Erweitert man die Altersgruppe auf 0-20 Jahre, ergibt sich eine Zahl von ca. 31.000 Betroffenen. Die Inzidenz liegt bei rund 2.600 pro Jahr. Dies bedeutet, dass derzeit eines von 670 Kindern an DMT1 erkrankt [vgl. Bartus und Holder 2015, 11f.].

Weltweit leiden über 1,1 Millionen Kinder und Heranwachsende bis 20 Jahren daran, die Zahl der Neuerkrankung wird mit knapp 130.000 angegeben. Europa und das Gebiet Nordamerika/Karibik weisen die höchsten Fallzahlen auf, wobei diese stark von Region zu Region differieren. In Europa tritt die Krankheit beispielweise am häufigsten in Skandinavien (vor allem in Finnland) auf. Allerdings weist Sardinien ähnlich hohe Fallzahlen wie Schweden auf, was die ursprüngliche These vom Nord-Süd-Gefälle bezüglich Prävalenz- und Inzidenzraten widerlegte [vgl. Schulze in: Schatz, Pfeiffer 2014, 2; Danne et al. 2015, 9f.].

Neu und Kollegen [2019, 154] stellen fest, dass sich „[g]egenüber den frühen 1990er-Jahren [..] die Neuerkrankungsrate für 0- bis 14-Jährige zwischenzeitlich verdoppelt [hat]“, wobei der „Inzidenzanstieg insbesondere die jüngeren Altersgruppen [betrifft]“. Danne et al. [2016, 12] konkretisieren: „Die Inzidenz nimmt mit dem Alter zu und erreicht einen kleinen Häufigkeitsgipfel um das 4. Lebensjahr, einen sehr viel ausgeprägteren zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr.“

Vergleicht man die Daten der IDF aus den Jahren 2017 und 2019, so wird deutlich, dass sowohl die Anzahl der Erkrankten als auch die prognostizierte Zahl der Neuerkrankungen gestiegen ist. Für die Zukunft wird weltweit mit einer jährlichen Zunahme von 3% gerechnet, wobei auch hier die teilweise immensen territorialen Unterschiede beachtet werden müssen [vgl. IDF 2019, 46]. Danne et al. [2015, 9] weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Inzidenzhäufigkeit [.] nicht nur zwischen verschiedenen Ländern [variiert] […], sondern auch innerhalb einzelner Länder (z.B. Italien: Lombardei vs. Sardinien)“. Aufgrund dieser Tatsache schlussfolgern sie, dass „[d]ie Inzidenzunterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen [.] auf die Bedeutung der genetischen Disposition bei der Entstehung des Typ-1-Diabetes hin[weist]“ [ebd.].

Die IDF [2019, 14] stellt hingegen fest:

„The incidence of type 1 diabetes is increasing worldwide, but there is considerable variation by country with some regions of the world having much higher incidence than others. The reasons for this are unclear but the rapid increase over time must be due to non-genetic, probably environmental and perhaps lifestyle related changes, such as rapid weight gain and/or inappropriate feeding in infancy.“ (Hervorh. A.M.)

Sie sehen somit Umwelteinflüsse und Änderungen in der Lebensführung als wahrscheinlichere Gründe für den Anstieg der Erkrankungszahlen.

2.2 Ätiologie und Pathogenese

2.2.1 Diabetes mellitus Typ 1

„Der Typ-1-Diabetes ist nach heutiger Auffassung eine schubweise verlaufende Autoimmunkrankheit, durch die es zu einer immunvermittelten Zerstörung der Insulin-produzierenden β- Zellen des Pankreas kommt“ [Danne et al. 2016, 52]. Das bedeutet, dass das Immunsystem Antikörper und T-Lymphozyten gegen die eigenen β-Zellen bildet, was nach und nach zu deren Destruktion führt. Dies mündet zunächst in eine Insulitis. Diese Phase wird auch als Prädiabetes bezeichnet [ebd.]. „Die Insulitis kann während einer längeren Zeit klinisch unauffällig bestehen […], bevor sie sich schließlich, manchmal auch nie, zum manifesten Diabetes6 fortentwickelt“ [ebd., 53].

Die genauen Ursachen für diese Vorgänge sind bis heute unklar. Die IDF konstatiert im „Diabetes Atlas 2019“ 13:

„The causes of this destructive process are not fully understood but a likely explanation is that the combination of genetic susceptibility (conferred by a large number of genes) and an environmental trigger, such as a viral infection, initiate the autoimmune reaction. Toxins or some dietary factors have also been implicated.“

Diese Erkenntnisse werden im Weiteren ausgeführt: Eine genetische Disposition ist Voraussetzung für die Entstehung der Krankheit [vgl. Hürter et al. 2016, 33]. So liegt das Erkrankungsrisiko für die Gesamtbevölkerung bei etwa 0,5%. Das Risiko steigt um das 10- bis 20fache an, wenn ein erstgradiger Verwandter einen DMT1 aufweist, wobei es darauf ankommt, „wer in der Familie erkrankt ist“ [Danne et al. 2016, 47]. So haben monozygote Zwillinge das höchste Erkrankungsrisiko. Bei Geschwistern ist es höher als bei Eltern [vgl. Göke, et al. 2002, 5]. Es ist außerdem bemerkenswert, dass sich bei Kindern von erkrankten Vätern doppelt so häufig (5-6%) ein DMT1 entwickelt als bei betroffenen Müttern [vgl. Danne et al. 2016, 47].

Die IDF erwähnt als Auslöser der Krankheit weiterhin äußere Einflüsse7, zu denen Virusinfektionen gehören. Aufgrund der jahreszeitlichen Häufung im Herbst und Winter geht man von einem kausalen Zusammenhang zwischen der Diabetesmanifestation und Virusinfektionen aus. Dazu zählen bis heute 13 verschiedene Viren, die mit der Entstehung von DMT1 assoziiert werden, z.B. Coxsackie-, Influenza, Mumps-, Röteln- und Zytomegalieviren [vgl. Danne et al. 2016, 55].

Zu den genannten „Giften und Ernährungsfaktoren“, welche als Auslöser diskutiert werden, zählen beispielsweise der frühe Kontakt mit Nahrungsantigenen, „mit denen das noch unreife Immunsystem des Kindes bereits in den ersten Lebensmonaten konfrontiert wird“ [Danne et al. 2016, 58]. „Nahrungsmittel mit einem hohen Gehalt an Nitrat-, Nitrit- und Nitrosaminverbindungen sowie Wasser mit einem hohen Nitratanteil“ [Danne et al. 2016, 58] werden damit in Verbindung gebracht. Weiß [2008, 304] schreibt dazu:

„Nitrat, Nitrit und Nitrosamine unterscheiden sich in der Wirkungsweise im menschlichen Organismus und ihrer Bedeutung als Schadstoffe. Sie sind aber eng miteinander verzahnt, denn Nitrat kann die Vorstufe von Nitrit sein und dieses wiederum in Nitrosamine umgewandelt werden. Während Nitrat und Nitrit […] in üblichen Verzehrsmengen [sic!] für den erwachsenen Menschen unschädlich sind, gelten Nitrosamine als starke Kanzerogene.“

Um zu verhindern, dass insbesondere Säuglinge mit gesundheitsgefährdenden Stoffen im Wasser in Berührung kommen, gibt es in Deutschland die Trinkwasserverordnung. Diese regelt nicht nur, „dass das Trinkwasser keine Krankheitserreger und Stoffe in gesundheitsschädigenden Konzentrationen enthalten darf, sondern auch, dass es "rein und genusstauglich" ist“ [Bundesministerium für Gesundheit 2020]. Die Trinkwasserqualität in Deutschland wird in den veröffentlichten Berichten des Umweltbundesamts und des Gesundheitsministeriums als „gut bis sehr gut“ beschrieben8 [ebd. 2018]. Diese Standards werden aber nicht überall auf der Welt eingehalten, was ein Grund dafür ist, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, Säuglinge in den ersten sechs Lebensmonaten voll zu stillen und erst danach sukzessive eine Beikost einzuführen, wobei das „ergänzende Stillen“ bis zum 2. Lebensjahr beibehalten werden sollte [WHO 2001, 2020]. Danne et al. weisen ebenfalls auf weitere Vorteile des Stillens gegenüber industriell erzeugter Säuglingsnahrung hin:

„[D]ie Stilldauer [ist] von entscheidender Bedeutung, da gestillte Kinder nicht nur das Immunsystem günstig beeinflussende Substanzen aufnehmen, sondern sie erhalten erst zu einem späteren Zeitpunkt Beikost, die potenziell nachteilig wirkende Bestandteile haben kann“ [2016, 58].

Die Nationale Stillkommission, welche die Empfehlung zur Stilldauer in Deutschland abgibt, weicht von jener der WHO teilweise ab. Sie postuliert ebenfalls das ausschließliche Stillen für das erste Lebenshalbjahr, äußert sich zur gesamten Stilldauer jedoch wie folgt:

„Die Nationale Stillkommission gibt keine ausdrückliche Empfehlung, wann endgültig abgestillt werden sollte, weil sich für Deutschland hierzu keine wissenschaftlich begründete Basis finden lässt. Der endgültige Zeitpunkt zum Abstillen sollte nach Auffassung der Kommission eine individuelle Entscheidung sein, die gemeinsam von Mutter und Kind getroffen wird“ [MRI 2020, Hervorh. A.M.].

Die Gründe für diesen Unterschied sind vielschichtig: Zum einen gilt die Empfehlung der WHO für die ganze Welt, in der die Lebensverhältnisse und Ressourcenverteilung sehr heterogen sind; daher muss die Empfehlung möglichst „breit“ formuliert werden. Es kann aus ökonomischen Gründen Sinn machen, ein Kind länger zu stillen. Zum anderen gibt es Länder, in denen keine Alternativen zur Säuglingsernährung zur Verfügung stehen. Für Deutschland, in der viele Frauen nach der Geburt eines Kindes wieder arbeiten, ist die Umsetzung der WHO-Empfehlung schwer umsetzbar. Des Weiteren können Eltern hierzulande auf ein großes und vergleichsweise sicheres Nahrungsmittelangebot für ihre Kinder zugreifen. Letztlich ist auch Muttermilch durch exogene Faktoren mit Toxinen belastet, was die Entscheidung der deutschen Kommission im Hinblick auf die Empfehlung zur Stilldauer beeinflusst: Es muss abgewogen werden, wann der „toxische Effekt den immunologisch positiven Effekt des Stillens“ überwiegt [Schlich 2020]. In dieser Hinsicht besteht offensichtlich ein Forschungsdesiderat.

Schlussendlich gibt es aber bis heute keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse darüber, welche Umweltfaktoren einen DMT1 auslösen bzw. dessen Manifestation fördern. Somit können „Patienten und Angehörigen keine Empfehlungen zum Lebensstil gegeben werden“ [Danne et al 2016, 61].

Neben dieser immunologisch vermittelten Form von DMT1, die am häufigsten auftritt, unterscheidet die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) [2015, 3] noch zwei weitere Gruppen: Den idiopathischen DMT1, welcher auch als DMT1b bezeichnet wird [vgl. Hien et al. 2013, 26] sowie den LADA (Latent Autoimmune Diabetes of Adulthood). Dieser „Typ-1-Diabetes des Erwachsenen“ [Pfohl in: Schatz , Pfeiffer 2014, 62] hat ebenfalls immunogene Ursachen, wird aber häufig aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Patienten als DMT2 fehlinterpretiert.

Neben dem DMT1 existieren weitere Diabetesformen, die im Folgenden kurz angesprochen werden sollen.

2.2.2.Diabetes mellitus Typ 2

Beim DMT2 liegt ein hohes Maß an Vererblichkeit vor. Eine genetische Prädisposition ist also eine Ursache für die Entstehung der Krankheit. Gleichzeitig erhöhen Umweltfaktoren (insbesondere Fehlernährung und Bewegungsmangel) das Risiko an DMT2 zu erkranken [vgl. Hien et al. 2013, 28]. Kasper und Burghardt bezeichnen deshalb die daraus resultierende Adipositas als „Schrittmacher des Diabetes“ [2014, 307], da sie zu „einer reduzierten peripheren Glucoseaufnahme, aber auch zu einer reduzierten Sensitivität der β-Zelle auf Glucose“ führt [ebd.].

Selbst wenn keine Adipositas vorliegt, entwickelt sich beim DMT2 eine Insulinresistenz, welche schließlich mit einer Insulinsekretionsstörung einhergeht. Anfänglich reagiert der Körper auf die Insulinresistenz mit einer Erhöhung der Insulinmenge (regulatorische Hyperinsulinämie). Wenn der Zeitpunkt erreicht in, an dem der Organismus zu dieser Kompensation nicht mehr in der Lage ist, steigt der Blutzuckerspiegel kontinuierlich an, bis sich der Diabetes manifestiert [vgl. Hien et al. 2013, 28].

Im Gegensatz zum DMT1 ist es beim DMT2 nicht immer notwendig, Insulin von außen zuzuführen. Aufgrund der Tatsache, dass diese Patienten noch über insulinproduzierende β-Zellen verfügen, ist in der Regel eine Kombinationstherapie aus oralen Antidiabetika zur Erhöhung der Insulinsensitivität und einer Änderung der eigenen Gewohnheiten angezeigt: Eine Umstellung des Lebensstils, die mit erhöhter körperlicher Aktivität, Gewichtsreduktion und vollwertiger Ernährung einhergeht, verbessert die Stoffwechselführung und kann sogar dazu führen, dass eine medikamentöse Behandlung überflüssig wird. Diese Maßnahmen stellen hohe Anforderungen an die Motivation des Patienten, da sie dauerhaft durchgeführt werden müssen. Wenn sie nicht zum Erfolg führen und/oder die Behandlung in Tablettenform nicht mehr ausreicht, um eine stabile Stoffwechseleinstellung zu gewährleisten, muss Insulin subkutan verabreicht werden [vgl. Hien et al. 2013, 196, 208; Schinner, Roden in: Schatz, Pfeiffer 2014, 173ff.]. In Kapitel 2.3 werden die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen DMT1 und DMT2 komprimiert in Tabellenform dargestellt.

2.2.3 Weitere Diabetesformen

Darüber hinaus existieren noch weitere Ausprägungen des Diabetes, beispielsweise Gestationsdiabetes, welcher in der Schwangerschaft auftritt. Außerdem kann die Zuckerkrankheit bei Erkrankungen des Pankreas, der Leber sowie bei Endokrinopathien (wie z.B. Hyperthyreose) entstehen. Es gibt auch Medikamenteninduzierte Diabeteserkrankungen. Weiterhin tritt die Krankheit gehäuft bei Patienten mit genetischen Defekten der β-Zellfunktion auf; diese Diabetesform wird als MODY (Maturity Onset Diabetes of the Young) bezeichnet. Schließlich existieren genetische Syndrome, die mit Diabetes assoziiert sind, wozu das Down-Syndrom als bekanntester Vertreter zählt [vgl. Derwahl in: Schatz, Pfeiffer 2014, 204ff.; Danne et al. 2016, 8f.].

2.3. Symptome und Diagnose

Zu den Leitsymptomen gehören Polydipsie und Polyurie. Teilweise leiden die Patienten auch unter Nykturie, was zur mehrmaligen Unterbrechung des Nachtschlafes führt. Manche Kinder, die bereits trocken waren, beginnen wieder einzunässen, da sie es nachts nicht rechtzeitig auf die Toilette schaffen. Weitere Anzeichen für einen DMT1 sind körperliche und mentale Leistungsminderung mit Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust, Sehverschlechterungen, Hautveränderungen (z.B. Juckreiz), Infektanfälligkeit, Neuropathien, Appetitlosigkeit, aber auch Polyphagie, psychische Probleme, Übelkeit und Bauchschmerzen [Hien et al. 2013, 2; Pfohl in: Schatz, Pfeiffer 2014, 63; Danne et al. 2016, 167ff.]. Viele dieser Symptome sind unspezifisch, sodass eine Weile vergehen kann, bis der Verdacht auf einen DMT1 fällt.

Die Diagnostik erfolgt gemäß den Praxisempfehlungen für pädiatrische Diabetologie der DDG [vgl. Haak et al. 2019, 154]. Sie basiert auf der klinischen Symptomatik und der Blutzuckermessung. Bartus und Holder [2015, 229] konstatieren: „Wird bei diesen Symptomen dann noch ein Blutzucker von mehr als 200mg % gemessen, ist die Diagnose Diabetes eigentlich gesichert.“ In Zweifelsfällen können weitere Parameter für die Diagnosestellung herangezogen werden. Dazu zählen:

1. Mit Diabetes assoziierte Autoantikörper
2. Ein oraler Glukosetoleranztest
3. Eine HbA1c-Bestimmung.

Zusammenfassend können folgende Unterschiede für DMT1 und DMT2 genannt werden:

Tabelle 1: Differentialdiagnostische Kriterien [DDG 2015, 4f., modifiziert durch A.M.]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.4. Behandlung

2.4.1 Diabetesschulung

Nachdem die gesicherte Diagnose eines DMT1 erfolgt ist, schließt sich an die stationäre Behandlung die Initialschulung im Krankenhaus an, die als wichtigen Schritt bei der Bewältigung der Krankheit bezeichnet werden kann. Diese Erstschulung ist deshalb von immenser Bedeutung, weil mit ihr der Grundstein für eine erfolgreiche Langzeitbehandlung gelegt wird. Menschen mit DMT1 leiden an einer chronischen Erkrankung, die es lebenslang erfordert, „körperliche Besonderheiten und erforderliche Therapien in ihren Alltag zu integrieren“ [Lange, Ernst 2020, 101]. Es stellt eine tägliche Herausforderung dar, Insulinzuführung, Nahrungsaufnahme und Bewegung so aufeinander abzustimmen, dass es weder zur Überzuckerung noch zur Unterzuckerung kommt. Das oberste Therapieziel besteht deshalb darin, den Patienten und seine Eltern zu einer eigenverantwortlichen Stoffwechselführung zu ermächtigen. Um dies zu erreichen, arbeitet ein Team aus Ärzten verschiedener Fachrichtungen, Pflegern, Ernährungsberatern und Psychologen interdisziplinär zusammen. Sie vermitteln Kenntnisse und Fähigkeiten bezüglich der Behandlung (Insulingabe, Dosisanpassung bzw. -korrektur, Blutzuckermessung) sowie der Prävention, Erkennung und Therapie von akuten Komplikationen sowie Folgeerkrankungen. Weiterhin erfolgt die Aufklärung über gesunde Ernährung und das Zusammenspiel zwischen Nahrungsaufnahme und Insulinbedarf. Die Patienten erhalten außerdem Informationen über das angemessene Verhalten in besonderen Situationen (Reisen, Krankheit, usw.). Auch sozialrechtliche Aspekte (Beruf, Führerschein, Schwerbehindertenausweis) werden angesprochen [vgl. Weitgasser, Pfohl in: Schatz, Pfeiffer 2014, 21f.].

In aller Regel werden die Patienten und ihre Angehörigen von der Diagnose vollkommen überrascht. Die Gewissheit, an einer dauerhaften Erkrankung zu leiden, bringt viele Sorgen und Ängste mit sich. Somit ist es enorm wichtig, den Patienten neben der reinen medizinischen Wissensvermittlung über ihren Diabetes auch psychologische Hilfestellung zur Krankheitsbewältigung zur Verfügung zu stellen. Die Leitlinien der IDF und der DDG sehen dazu u.a. ein regelmäßiges Monitoring mittels Fragebögen vor, mit denen beispielsweise die Therapiezufriedenheit und das Wohlbefinden der Patienten abgefragt werden. Hierfür steht exemplarisch der WHO-5-Fragebogen zur Verfügung [vgl. Kulzer in: Schatz, Pfeifer 2014, 25f.]. Der Patient beantwortet fünf positiv formulierte Fragen und ordnet sie auf einer Skala von 1 bis 5 zu (s. Anhang, S.76). Ergibt die Auswertung Hinweise auf Depressionen, sollte vom Diabetologen interveniert werden. In Kapitel 3.1 werden die psychosozialen Belastungen genauer beleuchtet.

Im Hinblick darauf, dass viele DMT1 Patienten sehr jung sind (im Gegensatz zu jenen mit DMT2) ist es von großer Bedeutung, die Informationen altersadäquat zu vermitteln. Außerdem ist es wichtig, dass sie und ihre Eltern lernen, die Erkrankung und die damit einhergehenden Herausforderungen zu akzeptieren. Lange und Ernst [2020, 101] fassen zusammen: „Dabei sollten neben der somatischen Therapie auch die krankheitsbedingten psychosozialen Belastungen und der kognitive und soziale Entwicklungsstand der betroffenen Kinder und Jugendlichen […] berücksichtigt werden“.

2.4.2 Spritzentherapie

Die Behandlung von DMT1 hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Durch den Einsatz neuer Technologien und verbesserter Medikamente, aber auch durch die schnellere Diagnose der Krankheit ist es möglich geworden, „eine dem physiologischen Sekretionsmuster nahe kommende Insulinsubstitution“ [Schatz in: Schatz, Pfeiffer 2014, VII] zu erreichen.

Während es vor 15 bis 20 Jahren noch üblich war, lediglich zweimal am Tag Insulin zu spritzen (morgens und abends)9, ist heute die Intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) Standard bei der Behandlung von Typ-1-Diabetikern. Das bedeutet, dass mindestens vier Injektionen täglich verabreicht werden, was den Vorteil hat, dass diese Vorgehensweise ein deutlich höheres Maß an Flexibilität ermöglicht [ vgl. Bartus, Holder 2015, 47].

Bevor die Therapieform genauer erläutert wird, ist ein kurzer Exkurs zu den verschiedenen Insulinarten nötig. Mitte der 1970er Jahre gelang es, Humaninsulin gentechnisch herzustellen [vgl. Schumm-Drager in: Schatz et al. 2014, 82f.]. Davor wurde das Insulin aus den Bauchspeicheldrüsen von Schlachttieren, insbesondere Schweinen, extrahiert. Die Forschung erzielte große Fortschritte bei der Entwicklung verschiedener Insulinanaloga, die zwar ihrer Wirkung, nicht aber nach ihrem chemischen Aufbau dem menschlichen Insulin entsprechen. Der Aufbau des Insulinmoleküls kann so verändert werden, dass die Wirkung entweder stark verkürzt oder künstlich verlängert wird. Diese Präparate werden als „Turbo-Insuline“ bzw. „Langzeit- oder Basalinsuline“ bezeichnet [Bartus, Holder 2015, 32]. Darüber hinaus existieren das Normalinsulin, welches ein „schnell wirkendes Humaninsulin ohne Verzögerungseffekt“ ist [ebd., 34], sowie NPH-Insuline10. Letztere sind Verzögerungsinsuline, die dazu eingesetzt werden, „den Basalinsulinbedarf des Körpers zu decken“ [ebd., 35].

Die Intensivierte konventionelle Insulintherapie wird synonym als Basis-Bolus-Therapie bezeichnet. Jeder Mensch hat einen mahlzeitenunabhängigen Insulinbedarf, die sogenannte Basalrate. Zusätzlich benötigt der Körper bei Nahrungsaufnahme Insulin. In der Diabetesbehandlung spricht man deshalb von der Abgabe eines Bolus‘, wenn Insulin (prä-)prandial verabreicht wird.

Die Leitlinien der DDG [vgl. Haak et al. 2019, 156] sehen vor, dass Kinder standardmäßig mit der intensivierten Insulintherapie behandelt werden. Dazu gehört, dass sie einen individuellen Therapieplan erhalten, der auf ihre Ausgangssituation und die angestrebten Ziele bezüglich der Blutzuckerwerte abgestimmt ist. Um diese zu erreichen, werden also Humaninsulin oder schnell wirksame Insulinanaloga zur Blutzuckerkorrektur bzw. zu den Mahlzeiten verwendet. Zur basalen Substitution stehen NPH-Insulin sowie lang wirksame Insulinanaloga bereit. Da die verschiedenen Insuline bei pädiatrischen Patienten unterschiedliche Wirkungen hinsichtlich Beginn und Dauer zeigen, ist eine flexible Verwendung angezeigt.

Die intensivierte Insulintherapie (ICT) ist deshalb die Behandlung der Wahl, da sie „das physiologische Insulinsekretionsmuster bei Stoffwechselgesunden“ [Danne et al. 2015, 179] nachahmt. Noch näher daran kommt die Behandlung mittels Insulinpumpen, welche im nächsten Kapitel thematisiert wird.

Die ICT ist im Vergleich zur konventionellen Insulintherapie deutlich aufwendiger, da sie mit häufigen Blutzuckerkontrollen und mehrmaligem Spritzen pro Tag einhergeht. Ein weiterer Nachteil ist das wiederholte Auftreten leichter Hypoglykämien, die auch bei grundsätzlich guter Einstellung vorkommen können. Auf der Habenseite stehen dafür eine bestmögliche Blutzuckereinstellung durch die Selbstbehandlung des geschulten Patienten, weniger Folgeerkrankungen sowie die Ermöglichung eines flexibleren Tagesablaufs. Letzteres beinhaltet beispielsweise, dass Mahlzeiten, sportliche Aktivitäten und der Tag-Nacht-Rhythmus variiert werden können [vgl. Hien et al. 2013, 161].

Insbesondere für aktive Menschen, zu denen Kinder und Jugendliche in aller Regel zählen, sind diese Aspekte wichtig. Die Therapie erlaubt ihnen mehr Freiheit bei der Gestaltung des Tagesablaufs. Mahlzeiten müssen nicht streng vorgeplant werden, die Teilnahme an Schul- und Vereinssport wird ermöglicht. Danne und Sadeghian [in: Reinehr et al. 2012, 253] betonen, dass die Patienten und deren Eltern in der Lage sein müssen, „vor jeder Mahlzeit den Kohlenhydratgehalt und die Blutglucosewirksamkeit der Nahrungsmittel abzuschätzen, um die Insulindosis sachgerecht an die geplante Nahrungszufuhr anzupassen“.

2.4.3 Insulinpumpentherapie

Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnt, hat sich die Therapie von pädiatrischen DMT1-Patienten seit dem neuen Jahrtausend gewandelt - von der konventionellen (CT) zur intensivierten Insulintherapie (ICT). Durch die Entwicklung von Insulinpumpen konnte die ICT nochmals weiterentwickelt werden. Die multiplen Injektionen werden durch die Pumpe ersetzt. Man nennt sie auch CSII (Continuous Subcutaneous Insulin Infusions). Bei der Pumpentherapie wird i.d.R. nur ein schnell wirksames Insulinanalogon verwendet. Die Basalrate wird nach den Bedürfnissen des Trägers einprogrammiert und automatisch kontinuierlich abgegeben. Dadurch ist es möglich, den im Tagesverlauf schwankenden Insulinbedarf nachzuahmen. Vor den Mahlzeiten wird vom Patienten die Kohlenhydratmenge (bzw. die KH-Einheiten) berechnet und der entsprechende Bolus anschließend per Knopfdruck abgegeben [Bartus, Holder 2015, 50; Hürter et al. 2016, 53].

Bartus und Holder [2015, 50] stellen fest, dass „[d]ie Pumpentherapie [.] mit Recht als die Therapieform bezeichnet werden [kann], die der normalen Insulin-Ausschüttung am nächsten kommt.“ Aus diesem Grund werden immer mehr DMT1-Patienten mit einer Insulinpumpe behandelt (ca. 40%, in der Gruppe der Kinder bis 5 Jahre sogar fast 90%) [ebd.]. Die DDG [Neu et al. 2019, 156] empfiehlt bei folgenden Indikationen eine Insulinpumpentherapie:

- kleine Kinder, besonders Neugeborene, Säuglinge und Vorschulkinder,
- Kinder und Jugendliche mit ausgeprägtem Blutzuckeranstieg in den frühen Morgenstunden (Dawn-Phänomen),
- schwere Hypoglykämien, rezidivierende und nächtliche Hypoglykämien (trotz intensivierter konventioneller Therapie = ICT),
- HbA1c-Wert außerhalb des Zielbereichs (trotz ICT),
- große Fluktuationen des Blutzuckers trotz ICT unabhängig vom HbA1c-Wert,
- beginnende mikro- oder makrovaskuläre Folgeerkrankungen,
- Einschränkung der Lebensqualität durch bisherige Insulinbehandlung,
- Kinder mit großer Angst vor Nadeln,
- schwangere Jugendliche (bei geplanter Schwangerschaft, idealerweise präkonzeptionell) sowie
- Leistungssportler.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Patchpumpe OmniPod® (rechts) mit Steuerungseinheit (Personal Diabetes Manager) [Abbott Inc. 2020]

Auf dem deutschen Markt gibt es einige Modelle mit Katheter sowie eine schlauchlose Pumpe, die im Folgenden genauer beschrieben werden soll, da sie auch von den Probanden, die für diese Arbeit interviewt wurden, getragen wird. Die gemeinnützige Organisation „Beyond Type 1“ 2020 vergleicht auf ihrer Homepage diverse Pumpensysteme. Den OmniPod® der Firma Insulet, der auch als „Patchpumpe“ bezeichnet wird, stellt sie folgendermaßen vor: „Eine kleine “Kapsel” wird mittels Klebstoff auf der Haut befestigt. Diese Kapsel enthält eine kleine, automatische Kanüle und bis zu 200 Einheiten Insulin, die der Anwender unmittelbar vor dem Aufbringen der Kapsel injiziert.“

Der mobile „persönliche Diabetes Manager” (PDM) kontrolliert die Injektionen, zeigt die Werte und Daten an, ermöglicht die Einstellung von Warnhinweisen und hat einen eingebauten Glukosemesser (FreeStyle® von Abbott11 ). Der OmniPod® ist wasserdicht und kann deshalb beim Schwimmen oder Baden getragen werden, ohne die Insulinabgabe zu unterbrechen. Die Kanüle wird per Tastendruck in die Haut eingeführt, wobei die Nadel nicht zu sehen ist [vgl. Insulet 2020]. Der Insulinvorrat reicht für drei Tage, dann muss der Pod gewechselt werden.

Hürter et al. [2016, 54] betonen, dass jedoch die beste Technologie nichts nützt, wenn folgende Voraussetzungen für die erfolgreiche Therapie mit Insulinpumpen nicht erfüllt werden:

- Die Patienten müssen zu regelmäßigen12 Blutzuckerkontrollen bereit und motiviert sein.
- Sie bzw. ihre Eltern sollten Erfahrung mit der ICT gesammelt haben und die Insulindosis sicher berechnen können.
- Das System der Pumpe und deren Bedienung müssen verstanden sein.

Die Kosten für eine Behandlung mit einer Insulinpumpe übersteigen jene für eine intensivierte Therapie mit Spritzen deutlich [vgl. Danne et al. 2016, 209f.]. Für gewöhnlich übernehmen die Krankenkassen diese, wenn der behandelnde Arzt die Notwendigkeit ausführlich schriftlich begründet [vgl. Hürter et al. 2016, 56]. Die Entscheidung für eine Therapieform wird generell unter Einbeziehung aller Beteiligten getroffen.

2.4.4 Sensorunterstützte Pumpentherapie (CGM/FGM-Systeme)

Wie bereits im vorhergehenden Kapitel beschrieben, geht eine ICT mit häufigen Blutzuckermessungen einher. Um diesen Prozess zu erleichtern und die Frequenz der kapillären Messung zu reduzieren, können Patienten auf CGM- (Continuous Glucose Monitoring) oder FGM- (Flash Glucose Monitoring) Systeme zugreifen. Die Kombination aus Insulinpumpentherapie und CGM/FGM wird als sensorunterstützte Pumpentherapie (SuP) bezeichnet. Danne et al. [2016, 242] zeigen auf, dass „[z]ahlreiche randomisierte, kontrollierte Studien“ die Überlegenheit der SuP gegenüber der ICT als auch der „klassischen Insulinpumpentherapie (CSII)“ belegt haben. Freckmann [in: Schatz, Pfeiffer 2014, 94] führt weiter aus: „Durch die regelmäßige Nutzung eines CGM-Systems kann eine Senkung des HbA₁c-Wertes und eine Verringerung der Glukosevariabilität ohne Erhöhung der Hypoglykämierate erreicht werden.“

Die Funktionsweise eines CGM-Systems erläutern Hürter et al. [2016, 139f.]:

Hierbei erfolgt die kontinuierliche Messung der Glukosekonzentration in der Gewebsflüssigkeit (nicht im Blut!). Würde man den Blutzucker ständig messen wollen, wäre es notwendig, dass ununterbrochen eine Kanüle oder ein Katheter im Blutgefäß liegt, was im Alltag unmöglich ist. Bei der CGM-Methode liegt daher ein Sensor im Unterhautfettgewebe. Da dieser sehr fein und weniger als 1 cm lang ist, spürt der Träger ihn selbst bei intensiver Bewegung nicht, was zu seiner Alltagstauglichkeit beiträgt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: CGM System [Pichleritsch 2020]

Der Messfühler ist mit einem Transmitter verbunden, welcher die gemessenen Werte in Echtzeit an ein Empfängergerät überträgt. Dies kann die Insulinpumpe, ein Smartphone (mittels App) oder ein separates Gerät sein, auf dessen Display man die Werte ablesen und Trends verfolgen kann, die mit Pfeilen angezeigt werden. Dadurch ist der Patient über den aktuellen Glukoseverlauf informiert und kann aktiv in die Stoffwechseleinstellung eingreifen. Die Vorteile gegenüber der kapillären Messung liegen zum einem in dem deutlich selteneren Stechen, zum anderen in der verbesserten Überwachung der Werte, da diejenigen der „blutigen“ Messung in der Fingerbeere nur eine Momentaufnahme darstellen. Zusätzlich erlauben es die Geräte, individuelle Alarmgrenzen einzustellen, sodass es rechtzeitig zu hohe als auch zu niedrige Zuckerwerte erkennt und dementsprechend warnt [vgl. Bartus, Holder 2015, 57].

Die DDG [Neu et al. 2019, 156] empfiehlt in ihren Leitlinien, dass CGM-Systeme bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes und Insulinpumpentherapie

- zur Senkung der Hypoglykämie-Rate (Häufigkeit, Dauer, Tiefe),
- bei rezidivierenden nächtlichen Hypoglykämien,
- bei fehlender Hypoglykämie-Wahrnehmung,
- bei stattgehabten schweren Hypoglykämien,
- zur Verbesserung der Stoffwechseleinstellung ohne gleichzeitige Zunahme von Hypoglykämien oder
- zur Reduktion ausgeprägter Glukosevariabilität einzusetzen.

FGM-Systeme arbeiten prinzipiell genauso wie CGM-Systeme. Der Unterschied besteht darin, dass die Werte nur dann angezeigt werden, wenn der Sensor mit dem Lesegerät gescannt wird. Die Probanden 1 und 3 tragen beide den OmniPod® mit integriertem FGM-System. Die Patienten, die sich für die SuP entscheiden, müssen folglich zwei Geräte am Körper tragen - den Sensor zur Glukosemessung und die Pumpe selbst.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Funktionsweise von FGM [Pichleritsch 2020]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: FreeStyle Libre Flash Glucose Monitoring System (links: Smartphone mit App, Mitte: Sensor, rechts: Scanner) [Abbott 2020]

Der technische Fortschritt beim Diabetesmanagement schlägt sich auch in absoluten Zahlen nieder. Laut einer aktuellen Umfrage unter Diabetologen nutzen ca. 44% der DTM1-Patienten FGM-, und rund 23% CGM-Systeme. 29% haben eine Insulinpumpe [Heinemann, Kulzer 2020]. Die Werte unterscheiden sich je nach Praxisgröße kaum, was den Schluss zulässt, dass in allen diabetologischen Einrichtungen moderne Technologien angewandt werden. Da Closed-Loop-Systeme im klinischen Alltag bisher eine sehr geringe Rolle spielen (vgl. Abb. 7), wird auf deren Beschreibung an dieser Stelle verzichtet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7: Nutzung neuer Technologien zur Diabetestherapie [nach Heinemann, Kulzer 2020], aufgeschlüsselt nach Anzahl der DMT1-Patienten pro Praxis

2.5 Komplikationen und Folgeerkrankungen

Zu den Komplikationen bei DMT1 zählen Hypo- und Hyperglykämien, die eine sofortige Intervention erfordern. Kurzzeitiger Unter- bzw. Überzucker ist tolerierbar und nicht gänzlich zu vermeiden. Hält dieser Zustand jedoch länger an, ist die Gesundheit ernstlich gefährdet. Die Ketoazidose als Folge einer unbehandelten Hyperglykämie ist beispielsweise „die Hauptursache für die Morbidität und Mortalität von Kindern mit Typ-1-Diabetes“ [Danne in: Schatz, Pfeiffer 2014, 70]. Deshalb ist es wichtig, dass die Patienten intensiv geschult werden, um Anzeichen einer Stoffwechselentgleisung zu erkennen. Bei einer Hypoglykämie sind dies: Kopfschmerzen, Koordinationsstörungen, Reizbarkeit, Schwäche, Müdigkeit, Blässe, Aggressivität, Zittrigkeit, Schläfrigkeit, Schwitzen, verwaschene Sprache, verschwommenes Sehen, Bauchschmerzen, Hunger, eigenartiges Verhalten, Konfusion, Schwindel, Herzklopfen, Krämpfe sowie Bewusstseinstrübung und -verlust [vgl. Danne et al. 2016, 290].

Eine leichte Hypoglykämie kann vom Patienten selbst durch die Zufuhr schnell resorbierbarer Kohlenhydrate (wie Traubenzucker oder Apfelsaft) behoben werden. Beim Übergang zu einer mittelgradigen bis schweren Unterzuckerung ist er hingegen nicht mehr in der Lage, sich selbst zu helfen, da die genannten Symptome dies verhindern. Wenn es nicht möglich ist, dem Patienten Glukose zu verabreichen, weil er bewusstlos ist oder krampft, muss Glukagon gespritzt werden [vgl. Bartus, Holder 2015, 81ff.]. Für den Schulalltag ist es in diesem Zusammenhang wichtig, den Schüler/die Schülerin nicht allein zu lassen und den Notarzt zu verständigen.

Die Gründe für eine Hypoglykämie sind vielfältig [vgl. Bartus, Holder 2015, 85; Danne et al. 2016, 296]:

- Verstärkte Insulinwirkung (Dosierungsfehler, Fehleinschätzung des Insulinbedarfs, fehlerhafte Injektionstechnik, große Hitze (verstärkt die Insulinresorption), Verwechslung von Insulinpräparaten)
- Vermindertes Kohlenhydratangebot (z.B. durch Appetitlosigkeit, Infekte, Nahrungsumstellung)
- Alkoholkonsum
- Intensive körperliche Anstrengung (z.B. Sport)

Da Unterzuckerungen die häufigste Akutkomplikation bei DMT1 darstellen, müssen Eltern und Betreuungspersonen (wie Erzieher, Lehrer) „in der Anwendung der Glukagonspritze sowie weiterer Sofortmaßnahmen unterwiesen werden“ [DDG 2015, 23].

Länger anhaltender Insulinmangel führt zu einer Hyperglykämie. Der Prozess wurde in Kapitel 2 bereits beschrieben, da dieser einer jeden Diabetesdiagnose vorausgeht. Die Symptome wurden an dieser Stelle ebenfalls genannt. Auf eine schwere Stoffwechselentgleisung als Folge einer Hyperglykämie soll nochmals kurz eingegangen werden: Bezüglich der Ketoazidose stellen Haak et al. [2019, 149] fest, dass Patienten mit DMT1 deren Gefährlichkeit erheblich unterschätzen, „da diese – im Vergleich zu der Akutkomplikation in Form einer Hypoglykämie – eher selten auftritt“. Sie können sich oftmals nicht mehr an das Selbstbehandlungschema erinnern, da die jeweilige Schulung, die diese Kenntnisse vermittelte, schon länger zurückliegt. Deshalb plädieren Haak und Kollegen für eine regelmäßige Thematisierung der Anzeichen und Therapieansätze bei den Kontrolluntersuchungen. Ihr Fazit: „In jedem Falle sollen Betroffene wissen, dass eine Ketoazidose medizinisch eine gefährliche Situation darstellt und im Zweifelsfall unverzüglich ärztliche Hilfe über den Rettungsdienst in Anspruch genommen werden soll“ [ebd.].

Folgende Graphik veranschaulicht die Schwankungsbreite des Blutzuckerspiegels bei Diabetes-Patienten im Vergleich zu gesunden Menschen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 8: Spektrum der Blutzuckerschwankungen [Abbott 2020]

Während sich der Blutzucker beim Stoffwechselgesunden in einem bestimmten Korridor bewegt, können bei Diabetikern durch Therapiefehler und Fehleinschätzungen starke Schwankungen desselbigen auftreten, welche wiederum zu Komorbiditäten führen können. Um Folgeerkrankungen zu verhindern, wird eine möglichst stabile Stoffwechseleinstellung angestrebt.

Pädiatrische DMT1-Patienten erkranken häufiger als Stoffwechselgesunde an weiteren Autoimmunerkrankungen. Schilddrüsenerkrankungen gehören zu den häufigsten (25-30%). Zöliakie tritt bei ca. 2-8% dieser Patienten auf [Bartus, Holder 2015, 61f.]. Danne et al. [2015, 377] konstatieren: „Bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ist das Risiko, an einer Autoimmunthyreoiditis oder an einer Zöliakie zu erkranken, 5- 10-mal höher als in der Normalbevölkerung“. Tritt dieser Fall ein, muss die Behandlung auf die des Diabetes abgestimmt werden [vgl. Hürter et al. 2016, 294].

Zu den Spätkomplikationen zählen diabetische Mikroangiopathien (insbesondere Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie) und Makroangiopathien [Bartus und Holder 2015, 64ff.].

Mikroangiopathie bezeichnet die „Erkrankung kleiner und kleinster Arterien“ [Hanser 2000] und können zu Veränderungen an Augen, Nieren und Nerven führen. Im schlimmsten Fall bedeutet dies für die Betroffenen Sehkraftverlust bis zur Erblindung, Nierenversagen und Erkrankungen des Nervensystems (mit sensorischen oder motorischen Störungen) [vgl. Bartus und Holder 2015, 66].

Die Veränderung von großen und größeren Gefäßen wird Makroangiopathie genannt. Zu den wesentlichen daraus resultierenden Krankheiten gehören die koronare Herzkrankheit, der Herzinfarkt, die arterielle Verschlusskrankheit in den Beinen und der Schlaganfall [vgl.ebd.].

Zur Prävention dieser Folgeerkrankungen wird zum einen eine möglichst normoglykämische Stoffwechsellage angestrebt, zum anderen eine Früherkennung durch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen.

2.6 Psychosoziale Belastungen

Die Diagnose stellt die Patienten, deren Sorgeberechtigte und das weitere soziale Umfeld, zu dem die Schule als wichtiger Lebensbereich zweifellos gezählt werden muss, vor große Herausforderungen. Neben den therapeutischen Fertigkeiten wie Blutzucker messen, Insulin zuführen und einer permanenten Kontrolle des eigenen Verhaltens (hinsichtlich Ernährung, Bewegung, etc.) müssen sich die Betroffenen mit den Reaktionen von Freunden, Bekannten sowie Lehrerinnen und Lehrern auseinandersetzen. Auch die eigene psychische Verfassung und der (daraus resultierende) Umgang mit der lebenslang bestehenden Krankheit spielen eine große Rolle. Ein weiteres Risiko stellen Komorbiditäten dar. Diese wurden teilweise in Kapitel 2.5 thematisiert. Bisher unerwähnt blieben psychische Erkrankungen, die mit dem Diabetes assoziiert sind. Diabetes-Patienten erkranken beispielsweise häufiger an Depressionen als Stoffwechselgesunde [Kopf, Müssig in: Schatz, Pfeiffer 2014, 324]. Ein Grund dafür ist die wechselseitige Beziehung zwischen „psychosozialer Rahmenbedingungen und der Qualität der Stoffwechseleinstellung“ [Danne et al. 2015, 406]. Weiterhin können diabetesbedingte Einschränkungen im Alltag, Misserfolge bei der Behandlung, Ängste bezüglich Komplikationen und Folgeerkrankungen, das Gefühl der Andersartigkeit, familiäre Probleme, sozioökonomische Belastungen und fehlende Unterstützung des sozialen Umfeldes als Auslöser für psychische Krisen genannt werden, wobei diese Liste nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 9: Komplexe Interaktion zwischen psychischen Belastungen, Therapieverhalten, neuroendokrinologischen Reaktionen und kognitiver Leistungsfähigkeit [Danne et al. 2015, 407]

Nicht nur die Patienten selbst erleiden aufgrund der hohen Belastungen, die der Diabetes mit sich bringt, an psychischen Störungen, oft sind es auch die Eltern und insbesondere die Mütter, die durch die Diagnose an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit gebracht werden. Eine 2004 durchgeführte Querschnittstudie an vier großen deutschen pädiatrischen Diabeteszentren, bei der 580 Familien mittels halbstandardisierter Fragebögen interviewt wurden, ergab folgendes:

Tabelle 2: Anteile von allen befragten Müttern (Berufstätige und Hausfrauen), die ihre Berufstätigkeit nach der Diabetesmanifestation ihres Kindes aufgaben, die Tätigkeit einschränkten oder ihre berufliche Zukunftspläne revidierten [nach Lange et al. 2004, 1131]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Zahl der Väter, die angaben, aufgrund der Diabeteserkrankung ihres Kindes die Berufstätigkeit verändert (4,2%) oder beendet zu haben (1,9%) war gering [Lange et al. 2004, 1132]. Daran kann man ablesen, dass die Hauptlast der Versorgung bei den Müttern liegt und diese gleichzeitig die größten Einschnitte im Hinblick auf ihre berufliche Tätigkeit hinnehmen, was wiederum negative Auswirkungen auf ihre finanzielle Situation hat. Dieser Umstand indiziert psychischen und emotionalen Stress, der unter Umständen auf das erkrankte Kind übertragen wird, was zu weiteren Problemen hinsichtlich der Diabetestherapie führen kann. Zwar ist die zitierte Studie schon 16 Jahre alt, aber die Grundproblematik besteht auch heute noch: „Posttraumatische Belastungsstörungen [..] werden vor allem bei Müttern jüngerer Kinder oft noch nach Jahren beobachtet“ [Danne et al. 2015, 396]. Lohaus und Heinrichs [2013, 22] bezeichnen die Diagnose einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung des Kindes als „hochgradigen Belastungsfaktor für Eltern“, wobei „Mütter stärkere Beeinträchtigungen [.] als Väter“ erleben. In diesem Zusammenhang kann auf die Aussagen der Mütter der Probanden 1 und 3 verwiesen werden. Die Mutter von Melina konnte aufgrund der Diabetesdiagnose und dem damit einhergehenden Versorgungsaufwandes nicht wie geplant ihre Arbeitsstelle antreten [vgl. Probandin 1, Z. 660ff.]. Beide Mütter berichten von enormem psychischen Stress, der eine akute schwere Stoffwechselentgleisung mit sich bringt: „Danach habe ich echt gezittert und geheult“ [Probandin 1, Z. 506]. Auch die Angst vor nächtlichen unbemerkten Hypoglykämien und deren Folgen wird erwähnt [vgl. Proband 3, Z. 484ff.].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Da psychische Belastungen und Störungen eng mit einer unzureichenden Stoffwechseleinstellung assoziiert sind (s. Abb. 9), „empfehlen internationale wie auch nationale Leitlinien die kontinuierliche Erfassung der psychosozialen Situation und des Befindens von jungen Patienten mit Typ-1-Diabetes“ [Danne et al. 2015, 412]. Die verwendeten Screeningsinstrumente wurden in Kapitel 2.4.1. bereits angesprochen. Danne et al. fordern [2016, 393], dass „das psychische Befinden der primären Betreuungspersonen ebenso regelmäßig erfragt werden sollte“, um mögliche Problematiken aufzudecken, die sich negativ auf den Patienten und die Therapie auswirken.

Abbildung 10: Prävalenz psychischer Belastungen und Störungen unter Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes (T1DM) [Danne et al. 2015, 412]

Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass sich für Deutschland „keine empirische Evidenz für gehäuft klinisch relevante Störungen und Verhaltensprobleme bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes belegen lässt“ [Danne et al. 2015, 411].

Bei Kindern sind psychische Belastungsreaktionen selten zu beobachten. Dies ist eher bei Jugendlichen DMT1-Patienten der Fall, was verschiedene Ursachen hat. Zum einen stellt sich der Körper und damit der Stoffwechsel in der Pubertät um, was zur Folge hat, dass ursprüngliche Behandlungsmuster nicht mehr (so gut) greifen wie zuvor und der Blutzucker anders reagiert. Der Insulinbedarf erhöht sich und erfordert eine Therapieanpassung. Zum anderen kämpfen zuckerkranke Jugendliche, wie alle anderen Heranwachsenden, mit den Umbrüchen, die das Erwachsenwerden mit sich bringen. Dies kann zur Folge haben, dass das Diabetesmanagement vernachlässigt wird. Als Gründe können verstärkte Autonomiebestrebungen bei fehlender Verlässlichkeit exemplarisch genannt werden [vgl. Bartus und Holder 2015, 102f.; Danne et al. 2015, 412]. Dann gilt es, den Patienten verständnisvoll zu unterstützen, wobei die elterliche Betreuung eine Gratwanderung zwischen Hilfe und Kontrolle ist. Es hat sich als konfliktvermeidend erwiesen, Jugendliche in die Entscheidungsfindung (z.B. bei der Wahl der Insulindosis) mit einzubeziehen, anstatt Anweisungen zu erteilen [vgl. Bartus und Holder 2015, 108].

Die folgende Aussage von Wiedebusch und Ziegler [2013, 37] fasst dieses Kapitel zusammen:

„Aus psychologischer Sicht sind das Erleben der Erkrankung, die krankheits- und therapiebezogenen Einstellungen und die Bewältigungsreaktionen aller Familienmitglieder entscheidend dafür, ob das Therapieziel, Kindern mit Typ-1-Diabetes eine weitgehend normale Entwicklung und Integration in ihr soziales Umfeld zu ermöglichen, erreicht wird.“

Abschließend sollte deshalb „nicht unerwähnt bleiben, dass es vielen betroffenen Kindern und Jugendlichen trotz einer Konfrontation mit (z. T. schwerwiegenden) chronischen Erkrankungen gelingt, eine erstaunliche psychische Robustheit bzw. Resilienz an den Tag zu legen“ [Lohaus und Heinrichs 2013, 19]. „[E]rhöhte soziale Unterstützung und der zunehmende Aufbau adaptiver Bewältigungsstrategien“ [ebd.] stellen hierfür begünstigende Faktoren dar.

3 Diabetes mellitus Typ 1 im schulischen Umfeld

3.1 Grundsätzliches zum Umgang mit betroffenen Schülerinnen und Schülern

Zunächst ist festzuhalten, dass Kinder mit Diabetes geistig und körperlich genauso leistungsfähig wie gesunde Kinder sind [vgl. Hürter et al. 2016, 344]. Es gibt somit keinen Grund, die Schulwahl von der Krankheit abhängig zu machen. Trotzdem gibt es Besonderheiten, die im Zusammenhang mit dem Diabetes stehen und die beachtet werden müssen.

Das Kind verbringt einen Großteil des Tages in der Schule, weshalb diese einen großen Einfluss auf die eigene Befindlichkeit, den Umgang mit DMT1 und dessen Akzeptanz hat. Es sollte nicht durch übertriebene Vorsicht oder unnötige Verbote zusätzlich belastet werden. Wird der Diabetes diagnostiziert, sind die Eltern verpflichtet, die Lehrkräfte darüber zu informieren. Es bietet sich an, dies in einem persönlichen Gespräch zu tun. Sind die Eltern dazu nicht in der Lage, da sie emotional überfordert sind, erklären sich oftmals Ansprechpartner aus dem behandelnden Diabetesteam der Kinderklinik dazu bereit. Es ist nicht nötig, dass sich Lehrer Detailwissen aneignen, aber sie sollten über die Grundzüge der Krankheit im Bilde sein. Insbesondere das Erkennen von Hyper- und vor allem Hypoglykämien und die dann nötigen Interventionen müssen besprochen werden. Zur Unterstützung bieten sich Infomaterialien, beispielsweise der AGPD13, sowie Kopiervorlagen mit Handlungsanweisungen für den Notfall (s. Anhang, S.74f.) an. Wissenswert ist für die Lehrkräfte auch, dass Stoffwechselentgleisungen die kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Diese Episoden sollten daher nicht in die Notengebung mit einfließen. Andererseits darf der Diabetes nicht als Ausrede für Minderleistungen dienen. Dies führt zur Selbstdiskriminierung des Kindes. Auch sollte die Beurteilung des Schülers/der Schülerin nicht durch Mitleid beeinflusst werden. Der Diabetes sollte kein Anlass sein, dem Kind eine Sonderstellung im Klassenverband zuzuweisen. Weiterhin ist zu sagen, dass die Therapieverantwortung insgesamt bei den Eltern liegt. Diese kann nicht komplett an die Schule übertragen werden [Danne et al. 2015, 303ff.; Danne et al. 2016, 435; Hürter et al. 2016, 344ff.].

Da die Reaktionen der Mitschüler eine große Rolle für das betroffene Kind spielen, ist es bedeutsam, diese von der Krankheit behutsam ins Bild zu setzen. Den Mitschülern sollte der Diabetes kurz und altersgemäß erklärt werden, wichtiger allerdings ist es, die zu erwartenden Veränderungen im Tagesablauf des erkrankten Kindes zu thematisieren. Die Klassenkameraden müssen wissen, warum das Kind während des Unterrichts essen und trinken darf, warum und wie es Blutzuckerkontrollen und Insulininjektionen durchführt und dass es zu weiteren Besonderheiten kommen kann. Damit ist exemplarisch gemeint, dass die Lehrkraft im Unterricht mit den Eltern via Handy in Kontakt tritt, um Auffälligkeiten (wie z.B. schwankende Blutzuckerwerte) zu besprechen. Probandin 4 schildert solche Situationen und merkt an, dass dies für die Kinder kein Problem darstellte, da sie von Anfang an darauf hingewiesen wurden [vgl. Z. 41f.]. Es macht außerdem Sinn den Kindern zu erklären, wann sie Hilfe holen müssen. Diese Aufklärungsarbeit kann von den Eltern (wie bei Probandin 1) oder von den Lehrern (wie bei Proband 2 und 3) geleistet werden. Ziel des Ganzen sollte sein, „Verständnis [zu] wecken und für Sicherheit [zu] sorgen“ [Hürter et al. 2016, 349].

Zusammenfassend kann man konstatieren [nach Etschenberg 2009, 34]:

Kinder mit DMT1 brauchen Mitschüler,

- die verstehen, warum für sie andere Regeln bei der Nahrungsaufnahme (z.B. während des Unterrichts, Verspeisen von Süßigkeiten) gelten als für gesunde Kinder,
- die ein betroffenes Kind unbehelligt seine Messungen und Injektionen durchführen lassen.
- und wissen, wann sie für das Kind Hilfe holen müssen (vor allem bei Hypoglykämie).

DMT1-Patienten brauchen Lehrer,

- die sie bei der Einhaltung ihrer „Spielregeln“ unterstützen,
- bei Planungen von besonderen Unternehmungen (wie Tagesausflüge, Klassenfahrt) die speziellen Bedürfnisse des Kindes mit bedenken,
- die Symptome von Über- und vor allem Unterzuckerung wahrnehmen
- und wissen, wie sie dem Kind in Krisensituationen helfen können.

3.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

Dieses Kapitel möchte die rechtlichen Rahmenbedingungen zwischen Schule und Diabetes beleuchten. Sie haben weitreichende Auswirkungen für alle Beteiligten - die erkrankten Kinder, ihre Sorgeberechtigten und ihre Lehrer.

Zu den rechtlichen Grundlagen der Diabetesbetreuung in der Schule gehört Artikel 2, Absatz 3 des Grundgesetzes. Es schreibt vor, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Aus diesem Grund sollen gemäß Paragraph 4, Absatz 3 des Sozialgesetzbuches IX Leistungen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder so geplant und gestaltet werden, dass die Kinder nach Möglichkeit nicht von ihrem sozialen Umfeld getrennt und gemeinsam mit nicht behinderten Kindern betreut werden können. Dies hat zur Folge, dass es den Eltern freisteht zu entscheiden, ob ihr Kind eine Regel- oder Förderschule besucht.

Damit wird dem offenen, an Teilhabe orientierten Behinderungsbegriff der UN-Behindertenrechtskonvention Rechnung getragen. In Artikel 24, der sich mit dem Thema Bildung befasst, heißt es:

„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel, a) die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken; b) Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen; c) Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen“ [UN 2008].

Dazu ist es nötig, dass „ Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben“ [ebd].

Paragraph 3, Absatz 5 des Schulgesetzes in Rheinland-Pfalz sagt aus, dass „[b]ei der Gestaltung des Unterrichts und bei Leistungsfeststellungen [.] die besonderen Belange von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen zu berücksichtigen [sind] und ihnen der zum Ausgleich ihrer Behinderung erforderliche Nachteilsausgleich zu gewähren [ist]“. Der Begriff soll im nachfolgenden Kapitel genauer untersucht werden. Die Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung erfolgen gemäß § 25 Abs. 1 des Schulgesetzes „in pädagogischer Verantwortung der Lehrkräfte“. Die GrundschullehrerInnen erhalten einen besonders großen Spielraum bei der Umsetzung dieser Formulierung. Die Schulordnung für öffentliche Grundschulen 2008 führt unter § 33 eine Vielzahl möglicher Formen zur Leistungsbeurteilung an. Exemplarisch seien an dieser Stelle Beiträge zum Unterrichtsgespräch, Erzählen und Berichten, mündliche oder schriftliche Überprüfungen, praktische Arbeiten im künstlerisch-musischen und technischen Bereich sowie Lern- und Leistungsergebnisse im Sport genannt. Die Lehrkraft entscheidet über die Art und Anzahl der Leistungsfeststellung, wobei letztere nicht bei allen Schülerinnen und Schülern gleich sein muss [vgl. §33, Absatz 3].

3.2.1 Nachteilsausgleich

Das rheinland-pfälzische Ministerium für Bildung definiert Nachteilsausgleich als „alle notwendigen und geeigneten Maßnahmen, die es Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen ermöglichen, Zugang zum Unterricht, zu Leistungsfeststellungen und Prüfungen zu finden und ihr tatsächliches Leistungsvermögen nachzuweisen, ohne dass die Lernanforderungen reduziert werden und von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbeurteilung abgewichen wird“ [Ministerium für Bildung RLP 2017].

Konkret werden folgende Maßnahmen vorgeschlagen, die zum Beschwerdebild des Diabetes mellitus passen:

- Zeitverlängerung für die Bearbeitung von Aufgaben oder Aufteilen der Aufgaben auf verschiedene Tage als Ausgleich von reduzierter Belastbarkeit und erhöhter Müdigkeit,
- individuell terminierte und dimensionierte Pausenzeiten, Bewegungsmöglichkeiten oder Zeiten der Nahrungsaufnahme,
- Verlegung von Klassenarbeiten und Prüfungen in die Phasen eines Tages, in denen die Erkrankung sich (noch) nicht so stark auswirkt
- alternative Formen der Leistungsfeststellung und Ausnahmen bei den Hausaufgaben, z.B. nach Krankenhausaufenthalten [ebd. 2020]

3.2.2 Medizinische Interventionen

Viele Lehrkräfte haben Sorge, sich im Notfall falsch zu verhalten und möglicherweise rechtlich belangt zu werden. Hier kann eine Schulung durch ein Mitglied des behandelnden Diabetesteams sehr hilfreich sein (vgl. Kapitel 2.4.1 und Interview Probandin 4). Klare Absprachen mit den Eltern mindern ebenfalls Unsicherheiten. Die Lehrer müssen wissen, was in bestimmten Situationen zu tun ist. Insbesondere bei Über- oder Unterzuckerung sollten konkrete Handlungsanweisungen vorliegen, damit schnell, aber ohne Panik gehandelt werden kann. Dazu bietet es sich an, die Kopie eines Notfallblattes (s.Anhang, S. 73) greifbar zu haben. Rechtlich sind Lehrkräfte zu Hilfe bei einem Notfall verpflichtet und über die gesetzliche Unfallversicherung abgesichert (gemäß §2 Absatz 1 Nr. 13a SGB VII).

Lehrer können hingegen nicht zur Mithilfe beim alltäglichen Diabetesmanagement (Blutzucker messen, Insulinberechnung und -verabreichung) verpflichtet werden. Viele Lehrkräfte sind in dieser Hinsicht sehr engagiert und assistieren ihren Schützlingen, insbesondere im 1. oder 2. Schuljahr. Sie sind in diesen Fällen über ihren Arbeitgeber bzw. Dienstherrn über die gesetzliche Unfallversicherung versichert [Hürter et al. 2016, 347]. Die Interviews haben auch gezeigt, dass alle Lehrer ihre privaten Handynummern mit den Eltern ausgetauscht hatten, um bei Fragen schnell erreichbar zu sein. Das ist nicht selbstverständlich, da es für die Lehrkräfte das Risiko birgt, durch die permanente Erreichbarkeit über Gebühr beansprucht zu werden. Andererseits zeigte sich in den Interviews, dass es für sie umgekehrt eine enorme Erleichterung bedeutete, bei Unsicherheiten die Eltern jederzeit anrufen zu können.

Wenn Schüler in den ersten Schuljahren mit der Therapie überfordert sind und es den Eltern nicht möglich ist, sie vor Ort zu unterstützen, kann eine Eingliederungshilfe (§53 SGB XII) beantragt werden [ebd., 348]. Viele Kinder lehnen dies allerdings ab, da sie befürchten, diskriminiert zu werden, wenn ihre Erkrankung durch die Assistenz eines Außenstehenden in den Vordergrund tritt (vgl. Interview Proband 3).

Auf dem Bildungsserver des Landes Rheinland-Pfalz wurden viele hilfreiche Informationen für Lehrer zusammengetragen. Unter anderem finden sich hier diverse Handreichungen, Vordrucke und Links rund um das Thema Diabetes und Schule (https://gesundheitsfoerderung.bildung-rp.de/chronische-erkrankungen/somatische-erkrankungen/diabetes.html). Es gibt auch die Möglichkeit, an einer Online-Schulung teilzunehmen.

[...]


1 im Folgenden DMT1 abgekürzt

2 In dieser Arbeit wird zur Erleichterung des Leseflusses i.d.R. das generische Maskulinum verwendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.

3 z.B. psychosoziale Faktoren, Besonderheiten im Schulalltag (Sportunterricht, Klassenfahrten, etc.)

4 Dieser Bereich wird auch als „Nierenschwelle“ [Bartus, Holder 2015, 21] bezeichnet.

5 Neuere Untersuchungen zeigen allerdings eine besorgniserregende Tendenz bezüglich der zunehmenden Fälle von Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes.

6 Göke et al. [2002, 5] definieren diesen Zustand wie folgt: „Der DM Typ 1 wird dann manifest, wenn mindestens 80% aller β-Zellen zerstört sind.“

7 Danne et al. [2015, 5] sprechen von „exogenen Triggern“.

8 Weiterhin führt der Bericht aus, dass „[b]ei den meisten mikrobiologischen und chemischen Qualitätsparametern [.] über 99,9 % der untersuchten Proben die gesetzlichen Anforderungen ein[hielten], d. h. die Grenzwerte wurden nicht überschritten.“

9 Die konventionelle Insulintherapie (CT) ist immer noch „die am häufigsten eingesetzte Insulintherapie“, allerdings hauptsächlich bei „älteren insulinbedürftigen Typ-2-Diabetiker[n], wenn z.B. eine normnahe Blutzuckereinstellung nicht mehr das primäre Therapieziel ist“ [Hien et al. 2013, 156]. Sie ist gekennzeichnet durch ein starres Schema, nachdem zweimal täglich eine Mischung aus Normal- und Verzögerungsinsulin gespritzt wird. Dieses erfordert häufige Mahlzeiten, um Hypoglykämien zu vermeiden, was oftmals zu unerwünschter Gewichtszunahme führt. Außerdem sind Essensunregelmäßigkeiten, sportliche Betätigung oder Veränderung des Tag-Nacht-Rhythmus kaum möglich, sodass der Patient in seiner Lebensführung wenig flexibel ist. Die Blutzuckereinstellung ist i.d.R. schlechter als bei Patienten, welche mit der ICT behandelt werden. Diese Nachteile werden in Kauf genommen, wenn für den Patienten die Vorteile der CT (einfache Handhabung, wenige Blutzuckerkontrollen) überwiegen bzw. eine Kontraindikation vorliegt [vgl. ebd., 157ff.].

10 NPH steht für Neutrales Protamininsulin Hagedorn. Neutral bezeichnet hierbei den Säuregrad der Suspension. Protamin ist die Verzögerungssubstanz, Hagedorn ist der Name des dänischen Forschers, der das NPH-Insulin 1936 eingeführt hat [vgl. Danne et al. 2016, 112].

11 Nähere Erläuterungen siehe Folgekapitel

12 Mindestens sechs Mal pro Tag

13 Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie; auf deren Website www.diabetes-kinder.de kann eine Informationsbroschüre für Lehrkräfte kostenfrei heruntergeladen werden.

Ende der Leseprobe aus 142 Seiten

Details

Titel
Ätiologie und Pathogenese von Diabetes mellitus Typ 1 und dessen Einfluss auf den Schulalltag von Kindern. Eine Untersuchung aus Schüler- und Lehrerperspektive
Hochschule
Universität Koblenz-Landau
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
142
Katalognummer
V1007116
ISBN (eBook)
9783346395047
ISBN (Buch)
9783346395054
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Diabetes mellitus Typ 1, Grundschule, Stigmata, Vorurteile
Arbeit zitieren
Ariane Malm (Autor:in), 2020, Ätiologie und Pathogenese von Diabetes mellitus Typ 1 und dessen Einfluss auf den Schulalltag von Kindern. Eine Untersuchung aus Schüler- und Lehrerperspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1007116

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