Der Advocacy-Coalition-Ansatz von Paul A. Sabatier als Konzept zur Analyse des EU-Systems. Möglichkeiten und Grenzen


Hausarbeit, 1998

20 Seiten


Leseprobe


Der Advocacy-Coalition-Ansatz von Paul A. Sabatier als Konzept zur Analyse des EU-Systems: Möglichkeiten und Grenzen

1. Einleitung

Seit nunmehr 50 Jahren befaßt sich die Politikwissenschaft mit der europäischen Integration. Während bei der Untersuchung dieses Gegenstands lange Zeit Modelle aus der Teildisziplin Internationale Beziehungen vorherrschend waren, werden in neuerer Zeit verstärkt auch Ansätze aus der Vergleichenden Systemforschung herangezogen.1 Ein interessantes Konzept aus dieser Teildisziplin ist der Advocacy-Coalition-Ansatz von Paul A. Sabatier. Wie alle gängigen Ansätze aus der Vergleichenden Systemforschung wurde er ursprünglich für die Analyse nationaler politischer Systeme entwickelt1, eine Anwendung bei der Untersuchung eines supranationalen Systems wie der EU war zunächst nicht geplant. Die Fragestellung dieser Arbeit lautet deshalb: Kann der Advocacy-Coalition-Ansatz auch mit Gewinn zur Analyse von Politik und Politikfeldern in der EU angewandt werden? Was sind die Möglichkeiten und Grenzen einer Nutzung des Ansatzes von Sabatier im EU-System? Zur Beantwortung der Frage wird der Advocacy-Coalition-Ansatz (in der Folge: ACA) zunächst in seinen Grundzügen vorgestellt. Daran anschließend werden die Möglichkeiten und Grenzen des Ansatzes unter Berücksichtigung der Besonderheiten des EU-Systems diskutiert. Ein Eingehen auf einzelne Politikfelder oder gar eine empirische Füllung des analytischen Modells mit dem Ziel der Hypothesenbildung bzw. -überprüfung wird im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht möglich sein. In diesem Sinne versteht sie sich als ausgearbeitete Vorüberlegung zu einer möglichen Anwendung.

2. Der Advocacy-Coalition-Ansatz (ACA)

Paul A. Sabatier publizierte seine Überlegungen zu einem „advocacy coalition framework“ erstmals 1987 und 1988 in den Aufsätzen „Knowledge, Policy-Oriented Learning and PolicyChange“ (SABATIER 1987) und „An Advocacy Coalition Framework of Policy-Change and the Role of Policy-Learning Therein“ (SABATIER 1988). 1993 erschien unter der Herausgeberschaft von Sabatier und Hank C. Jenkins-Smith die Monographie „Policy Change and Learning. An Advocacy Coalition Approach“ (SABATIER/JENKINS-SMITH 1993), für die der Ansatz auf der Basis von sechs Fallstudien leicht modifiziert wurde. Ein deutscher Text, der im wesentlichen das erste Kapitel der oben genannten Monographie wiedergibt, in dem der Ansatz entwickelt wird, erschien im selben Jahr unter dem Titel „Advocacy-Koalitionen, Policy-Wandel und Policy-Lernen. Eine Alternative zur Phasenheuristik“ (SABATIER 1993) in dem Buch „Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung“, herausgegeben von Adrienne Héritier. 1998 schließlich publizierte Sabatier mit „The advocacy coalition framework: revisions and relevance for Europe“ (SABATIER 1998) eine weitere Überarbeitung des Ansatzes, in der er abschließend auch kurz auf die Anwendbarkeit innerhalb des EU-Systems eingeht. Die beiden letztgenannten Aufsätze bilden im wesentlichen die Grundlage der folgenden Darstellung.

Grundlage des ACA bildet der Policy-Netzwerkansatz (VGL. KENIS/SCHNEIDER 1991; HÉRITIER 1993), der allerdings entscheidend modifiziert wird, indem als maßgeblicher Faktor der Politikgestaltung die Werte und handlungsleitenden Orientierungen der Akteure gesehen werden. Das Erklärungsmodell des rationalen Handelns wird als nicht ausreichend betrachtet. So handelt es sich bei Sabatiers Ansatz um einen „akteursbezogenen, handlungstheoretisch orientierten Policy-Ansatz mit strukturalistischen Elementen, der das Verhalten von Akteuren bei der Produktion von öffentlichen Maßnahmen vor allem durch die Orientierung an Werten und handlungsleitenden Orientierungen erklärt“ (KATZ 1995: 56)

2.1 Prämissen

In der Auseinandersetzung mit dem weit verbreiteten Phasenmodell des Policy-Cycle entwickelte Sabatier seinen alternativen politikfeldanalytischen Ansatz. Seine fünf Prämissen resultieren direkt aus der Kritik an der „Phasenheuristik“:

1. Die Rolle von technischen Informationen muß bei der Erklärung des Policy-Prozesses mit einbezogen werden.
2. Um den Policy-Prozeß zu verstehen bedarf es einer Zeitperspektive von einem Jahrzehnt oder mehr - was deutlich über die Dauer eines Policy-Zyklus hinausgeht
3. Zweckmäßigste Analyse-Einheit sind nicht spezielle Institutionen, sondern vielmehr Policy-Subsysteme. „Ein Subsystem besteht aus Akteuren aus einer Vielzahl von öffentlichen und privaten Organisationen, die aktiv mit einem Problem oder einer Angelegenheit, wie zum Beispiel Landwirtschaft, befaßt sind und die regelmäßig danach streben, die Politik in diesem Bereich zu beeinflussen.“ (SABATIER 1998: 99, Übersetzung v. J. B.)
4. In den Subsystemen spielen Akteure von verschiedenen Regierungsebenen innerhalb eines Landes und zunehmend von internationalen Organisationen und anderen Ländern eine Rolle.
5. Staatliche Maßnahmen und Programme enthalten implizite Theorien darüber, wie ein Ziel erreicht werden kann, Annahmen über Kausalbeziehungen und Wertvorstellungen. Sie können deshalb wie Belief Systems konzeptualisiert werden. (VGL. SABATIER 1998: 99)

Erklärt werden soll in Sabatiers Modell Policy-Lernen und Policy Wandel über einen Zeitraum von einem Jahrzehnt und mehr. Die Akteure innerhalb eines Subsystems schließen sich zu Koalitionen zusammen und versuchen, ihre handlungsleitenden Orientierungen in konkrete politische Entscheidungen umzusetzen. Die Belief Systems der dominierenden Koalition bilden also eine zentrale Determinante des Policy-Prozesses und seines Wandels. Darüber hinaus existieren (stabile und dynamische) externe Faktoren, die die Handlungschancen der Akteure beeinflussen und somit ebenfalls auf den Policy-Prozeß einwirken.

Diagramm des Advocacy-Coalition-Ansatz (S ABATIER 1993: 122)

2.2 Das Policy-Subsystem als Analyse-Einheit

2.2.1 Definition des Policy-Subsystems und Identifikation relevanter Akteuren

„Policy-Subsystem wird hier definiert als Set von Akteuren, die sich mit einem PolicyProblem [...] auseinandersetzen.“ (SABATIER 1993: 126)

Sabatiers Definition seiner Analyse-Einheit Policy-Subsystem bleibt zunächst recht offen.

Eine exakte Anleitung zur Identifizierung relevanter Akteure liefert er nicht, stellt allerdings

fest, daß es analytisch zweckmäßig ist, mit einem Netzwerkansatz zu beginnen. Dabei müssen allerdings auch latente Akteure berücksichtigt werden, die bisher nicht aktiv sind, allerdings „eingreifen würden, wenn sie ausreichend Informationen hätten“ (EBD.). In dem Aufsatz von 1993 nennt Sabatier exemplarisch die Akteure des von ihm untersuchten amerikanischen Luftreinhalte-Subsystems. Diese lassen sich im wesentlichen auf die verschiedenen Akteursformen abstrahieren, die PRITTWITZ (1994: 14F) unterscheidet:

- politische Funktionsträger
- politische Parteien
- Verbände
- Bürgerinitiativen
- Journalisten, Publizisten, wissenschaftliche Experten
- andere Individuen und Gruppen mit Einfluß auf Politik

Bedeutend ist festzustellen, daß diese Akteure „auf unterschiedlichen räumlich- institutionellen Ebenen des politischen Systems, von der Gemeinschaftsebene (Hausgemeinschaft, Betrieb) über die lokale, regionale, nationale, inter- und supranationale Ebene bis zur globalen Ebene auftreten“ (EBD.: 15)

Im ACA werden also nicht nur diejenigen Akteure betrachtet, die direkt an Entscheidungen beteiligt sind, sondern auch diejenigen, die Handlungsalternativen vorschlagen, ohne sich (zunächst) durchsetzen zu können. Es kann sich dabei um staatliche und nicht-staatliche, um individuelle, kollektive und korporative Akteure handeln. SABATIER (1998: 107) betont dabei, daß es in bezug auf das Engagement innerhalb des Subsystems keinen Unterschied zwischen den verschiedenartigen Akteuren gibt. Beamte, Wissenschaftler und Journalisten verhielten sich nach demselben Muster (z. B. bei der Koalitionenbildung) wie politische Funktionsträger oder Verhandlungsführer von Interessenverbänden.

Zur Präzisierung seiner Definition unterscheidet SABATIER (1998: 111F) entstehende (nascent) und reife (mature) Subsysteme. Für ein reifes Subsystem sind folgende Kriterien zu erfüllen:

1. Die Teilnehmer betrachten sich als eine semi-autonome Gemeinschaft, die einen gewissen Grad an Sachverstand besitzt.
2. Die Teilnehmer versuchen bereits seit sieben bis zehn Jahren, die Politik in ihrem Bereich zu beeinflussen.
3. Es gibt auf allen relevanten Regierungsebenen spezielle Abteilungen, die sich mit dem betreffenden Thema befassen; das Bestehen eines reifen Subsystems muß sich also in staatlichen Institutionen niederschlagen.
4. Es gibt auch Interessengruppen und -verbände oder zumindest Untereinheiten in solchen, die das betreffende Thema als ihr Hauptbetätigungsfeld betrachten.

Neue Subsysteme können aus etablierten entstehen, wenn eine Gruppe von Akteuren

unzufrieden ist mit der mangelhaften Behandlung eines (Teil-) Problems und sich deshalb vor allem darauf spezialisiert. Andererseits können neue Subsysteme auch aus einem neu auftretenden Problem bzw. seiner Wahrnehmung erwachsen.

Eine weitere bedeutende Ergänzung ist die Feststellung, daß Subsysteme miteinander verknüpft sein können. Das eine kann - insbesondere bei der Entstehung von neuen Subsystemen aus etablierten - in das andere eingelagert sein, indem manche Akteure nur Teilprobleme behandeln, während andere sich mit allen Fragen eines Bereichs befassen (vgl. Subsystem „Luftverschmutzung durch Individualverkehr“ eingelagert in Subsystem „Luftverschmutzung“). Oder Subsysteme überlappen sich, indem eine Anzahl von Akteuren beiden Subsystemen angehört (vgl. „Luftverschmutzung durch Individualverkehr“ und „Regelung von Beförderung und Transport“).

2.2.2 Die Struktur des Policy-Subsystems: Advocacy-Koalitionen und Policy Broker

Zur Strukturierung des Policy-Subsystems werden die Akteure mit Hilfe des analytischen Konzepts der „Advocacy-Koalition“ zusammengefaßt. „Diese besteht aus Personen in unterschiedlichen Positionen (gewählten Beamten, Politikern und Verwaltungsbeamten, Vorsitzenden von Interessengruppen, Wissenschaftlern), die ein spezifisches „belief system“ teilen - d.h. ein Set von grundlegenden Wertvorstellungen, Kausalannahmen und Problemperzeptionen - und die über längere Zeit einen durchschnittlichen Grad koordinierter Handlungen aufweisen.“ (SABATIER 1993: 127) Pro Subsystem lassen sich in der Regel eine bis vier Koalitionen ausmachen (VGL. SABATIER 1998: 103)

Die Identifizierung widerstreitender Koalitionen ist eine zentrale Bedingung für einen erfolgreichen Einsatz des ACA. Vor allem in Politikfeldern mit redistributivem Charakter und damit hohem Konfliktniveau stellt dies jedoch kein Problem dar. Die größere Fragmentierung von Wertvorstellungen in entstehenden im Gegensatz zu reifen Subsystemen führt in der Regel zu relativ vielen Koalitionen. Diese Koalitionen sind allerdings nicht so stabil wie in reifen Subsystemen (VGL. SABATIER 1998: 114).

In den Koalitionen bündeln die Akteure ihre Ressourcen, um Entscheidungen entsprechend ihres gemeinsamen Belief Systems zu beeinflussen. Es muß dabei allerdings betont werden, daß es sich bei den Koalitionen um sozialwissenschaftliche Konstrukte handelt, in der Realität also keine tatsächlichen Bündnisse bestehen müssen. Die Aggregation der Akteure in unterschiedliche Advocacy-Koalitionen erfolgt zunächst nur zu Analysezwecken. Der empirische Gehalt dieser idealtypischen Koalitionen hängt von der präzisen Rekonstruktion der Belief Systems ab (VGL. KATZ 1995: 60).

Neben den verschiedenen Advocacy-Koalitionen gibt es im Subsystem normalerweise noch eine weitere Gruppe von Akteuren: die Policy Broker. Ihre Aufgabe ist es zwischen den widerstreitenden Koalitionen zu vermitteln und einen vernünftigen Kompromiß zu finden, um die Intensität des Konflikts zu begrenzen. Policy Broker könnten Verwaltungsbeamte sein, aber auch Gerichte oder andere. Eine an Funktionen festgemachte Differenzierung von Policy Brokers und Mitgliedern von Koalitionen ist analytisch nicht möglich. Diese muß von Fall zu Fall empirisch geleistet werden (VGL. SABATIER 1988: 141).

2.2.3 Konstitutives Element der Advocacy-Koalitionen: Belief Systems

Belief Systems definiert SABATIER (1993: 127) als „ein Set von grundlegenden Wertvorstellungen, Kausalannahmen und Problemperzeptionen“, das über längere Zeit stabil bleibt und die Handlungen von Akteuren mitbestimmt. Als Synonym gebraucht Sabatier auch den Begriff „handlungsleitende Orientierungen“.

„Der Advocacy-Koalitionsansatz weist explizit die Sicht zurück, daß Akteure primär durch ihre kurzfristigen Eigeninteressen motiviert werden“ (SABATIER 1993: 130), sein Modell des Individuums orientiert sich weit mehr an der Kognitions- und Sozialpsychologie als an der Ökonomie. Ebenso wie ein Rational Choice-Ansatz wird die „These vom Ende der Ideologien“ (Bell) zurückgewiesen. Sabatier vermeidet im Zusammenhang mit seiner Definition von Belief systems allerdings den Begriff „Ideologie“. Von einem engen, etwa an eine bestimmte Bewegung geknüpften Verständnis von „Ideologie“ und einer pejorativen Konnotation befreit, trifft sich dieser Begriff m.E. jedoch durchaus mit Sabatiers „Belief System“. So definiert DRUWE (1993: 219) Ideologie etwa als „Ausdruck verfestigter politischer Normen und Überzeugungen, mit denen sich ein politisch-normativer Gestaltungsanspruch bzw. Ordnungswunsch verbindet“.

Bei der Konzeption seines Modells des Individuums geht SABATIER (1993: 135) davon aus, „daß Policy-Eliten eine Vorliebe für instrumentelle Rationalität und kognitive Konsistenz haben. Der Advocacy-Koalitionsansatz nimmt an, daß Policy-Eliten sich bemühen, die Welt innerhalb eines spezifischen Policy-Bereichs besser zu verstehen, um Mittel und Wege zu identifizieren, die geeignet sind, fundamentale Ziele zu erreichen.“ Die Belief Systems zeigen dabei starke Tendenzen der Selbstverteidigung und damit Widerstand gegenüber Wandel. Dabei kann es zu internen Inkonsistenzen in Form von dem eigenen Belief System widersprechenden Daten kommen, was zu Verdrängung, Verharmlosung und Verschleierung von neuen Informationen führen kann. „Kurz gesagt, Akteure nehmen die Welt immer durch einen Filter wahr, der aus ihren bereits bestehenden Überzeugungen besteht.“ (SABATIER 1998: 109, ÜBERSETZUNG V. J. B.)

Es darf allerdings nicht angenommen werden, daß alle Koalitionsmitglieder genau dieselben Belief Systems haben und daß alle Elemente davon in gleicher Weise resistent gegenüber Wandel sind. Zum Zweck der analytischen Klarheit teilt Sabatier die Belief Systems deshalb in drei Kategorien auf: Hauptkern (deep core), Policy-Kern (policy core) und sekundäre Aspekte (secondary aspects). In dieser Reihenfolge zeigen die Kategorien abnehmenden widerstand gegenüber Wandel. Für die Bildung von Advocacy-Koalitionen ist eine weitgehende Übereinstimmung im Policy-Kern erforderlich.

2.2.3.1 Hauptkern

Der Hauptkern eines Belief Systems enthält fundamentale normative und ontologische

Axiome, die über alle Politikfelder hinweg gültig sind. Im Bereich des Hauptkerns stößt man auf Fragestellungen der Politischen Philosophie, hier geht es um Annahmen bezüglich der Natur des Menschen, der relativen Priorität verschiedener Werte (Freiheit, Sicherheit, Wissen,...) und der Verteilungsgerechtigkeit.

Dieser Teil des Belief Systems ist ähnlich stabil wie eine religiöse Überzeugung und damit

kaum wandelbar. Für die Bildung von Koalitionen innerhalb eines Policy-Subsystems ist der Hauptkern allerdings nicht direkt Einfluß relevant. So ist es denkbar, daß sich Akteure aufgrund weitgehender Übereinstimmung im Policy-Kern in eine Advocacy-Koalition einordnen lassen, während im Hauptkern grundsätzliche Unterschiede bestehen. (Beispiel: Christlich-Konservative Ökologen und Ökosozialisten)

2.2.3.2 Policy-Kern

Der Policy-Kern enthält grundsätzliche Posititonen in bezug auf die Strategien, mittels derer fundamentale Wertvorstellungen innerhalb eines Subsystems verwirklicht werden sollen. Hierbei geht es zum Beispiel um die Priorität von Werten wie ökonomischer Entwicklung versus Umweltschutz. Der Policy-Kern beinhaltet auch Annahmen über die Größenordnung eines Problems und über die Wirksamkeit von verschiedenen Steuerungsinstrumenten (z.B. Markt versus Staat).

Der Policy-Kern eines Belief Systems stellt das entscheidende Kriterium für die Zuordnung einzelner Akteure zu den Advocacy-Koalitionen dar. Ihm kommt im ACA also zentrale Bedeutung zu. Der Policy-Kern ist gegenüber Veränderung ebenfalls weitgehend resistent, diese ist allerdings „möglich, wenn die Erfahrung schwerwiegende Anomalien zeigt“. (SABATIER 1993: 132).

2.2.3.3 Sekundäre Aspekte

Sekundäre Aspekte eines Belief Systems bestehen aus einer Vielzahl von instrumentellen Entscheidungen, die darauf abzielen, die Policy-Kern-Überzeugungen durchzusetzen. Es handelt sich hierbei um Implementationsaspekte und Positionen zu Problemen, die nur spezielle Teile des Subsystems betreffen.

Sie sind relativ leicht veränderbar und können im Policy-Gestaltungs-Prozeß z.B. bei Auftreten neuer Informationen relativ schnell und ohne Schaden für die Stabilität des Belief Systems angepaßt werden. Sekundäre Aspekte sind wie der Hauptkern nicht entscheidend für die Einteilung der Advocacy-Koalitionen und können bei Akteuren derselben Koalition unter Umständen differieren.

2.3. Externe Faktoren

Für den Policy-Prozeß sind in der Modellogik des ACA nicht nur subsystemische Prozesse (Belief Systems, Auseinandersetzung zwischen Koalitionen...) von Bedeutung, sondern auch externe Faktoren - von SABATIER (1993: 121) auch „exogene Variablen“ genannt. Diese stehen weitestgehend außerhalb der Kontrolle von Akteuren des Subsystems, bei der Erklärung des Policy-Wandels nehmen sie aber eine prominente Stellung ein (vgl. 2.4). Sie können den Policy-Prozeß direkt beeinflussen oder die Ressourcen der Subsystem-Akteure - und damit auch der Advocacy-Koalitionen - verändern und somit indirekt wirken. Sabatier unterscheidet dabei relativ stabile und dynamische Parameter.

2.3.1 Stabile externe Parameter

SABATIER (1993: 123 FF) definiert relativ stabile externe Parameter als solche, die sich über mehrere Jahrzehnte hinweg nicht ändern. Sie bedingen die grundsätzliche Struktur des Problembereichs sowie die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Subsystems.

Es werden folgende Kategorien unterschieden:

- Grundlegende Merkmale des Problembereichs/wesentliche Eigenschaften des Gutes: Es

wird davon ausgegangen, daß bestimmte Eigenschaften eines Gutes (z. B. Nicht-

Ausschließbarkeit von der Nutzung, ) bestimmte Steuerungsinstrumente nahelegen (z. B. staatliche statt marktmäßige Regelung). Auch die quantitative Meßbarkeit des Problems und die Möglichkeit, brauchbare Kausalmodelle zur Erklärung zu finden, sind für den

Policy-Prozeß bedeutend, indem sie die Wahrscheinlichkeit von Lernprozessen bedingen.

- Grundlegende Verteilung der natürlichen Ressourcen: Sie bedingt (durch den Reichtum einer Gesellschaft) die Handlungsoptionen in vielen Politikbereichen.

- Grundlegende sozio-kulturelle Wertvorstellungen und Sozialstruktur: Durch sie werden ebenfalls Handlungsalternativen vorgegeben (So ist z. B. laut Sabatier die Verstaatlichung von Produktionsmitteln in den USA anders als in vielen europäischen Ländern keine denkbare Option.)

- Grundlegende Merkmale der Verfassungsstruktur: Grundlegende rechtliche Strukturen legen als institutioneller Rahmen die Handlungsspielräume der Akteure fest. Sie sind in der Regel gegenüber Wandel relativ resistent. Bei dezentralen politischen Systemen mit relativ autonomen lokalen politischen Systemen kann Lernen und Wandel, laut Sabatier, jedoch leichter stattfinden, weil diese realistische Vergleichsmöglichkeiten für PolicyInstrumente bieten und Policy-Experimente motivieren.

Impulse für Policy-Wandel werden aufgrund der relativen Stabilität dieser Parameter in der Regel nicht gesetzt. Der Einfluß auf ein Politikfeld ist eher grundsätzlicher Art, indem handlungsleitende Orientierungen der Akteure geformt werden.

2.3.2 Dynamische externe Parameter

Dynamische externe Parameter (auch „externe Systemereignisse“ genannt) können sich im Verlauf von einigen Jahren oder einem Jahrzehnt wesentlich wandeln und ein Subsystem wesentlich beeinflussen. Hier werden Einflüsse aus anderen Subsystemen wirksam (horizontale Politikverflechtung), es können sich aber auch einmalige Ereignisse niederschlagen.

Sabatier unterscheidet auch hier vier verschiedene Kategorien:

- Wandel in den sozio-ökonomischen Bedingungen und der Technologie: Durch technologische Innovationen kann z. B. die gegenwärtige Problemlösungsstrategie in Frage gestellt werden; andererseits können wirtschaftliche Konjunkturveränderungen oder Ereignisse wie die Ölkrise auch die Stellung verschiedener Koalitionen verändern

- Wandel in deröffentlichen Meinung: Kann die Ressourcen (z. B. politische Unterstützung), z. B. aus lange währender Unzufriedenheit oder nach Ereignissen wie Tschernobyl, wesentlich verändern.

- Wandel in der regierenden Koalitionübergeordneter politischer Ebenen

- Policy-Entscheidungen und Policy-Wirkungen aus anderen Subsystemen: Subsysteme können sich gegenseitig beeinflussen, z. B. Energiepolitik und Umweltpolitik. Dynamische externe Faktoren können die Ressourcen und Restriktionen der Subsystem- Akteure also in relativ kurzer Zeit wesentlich verändern. Damit stellen sie eines der grundlegenden Elemente dar, die den Policy Wandel beeinflussen, wie im nächsten Kapitel deutlich wird.

2.4. Policy-Wandel

Die Erklärung von Policy-Wandel über einen Zeitraum von mindestens einem Jahrzehnt steht beim ACA im Mittelpunkt des Interesses. Sabatier nennt zwei Prozesse, die zu Policy-Wandel innerhalb eines Subsystems führen können:

1. „Bestrebungen der Advocacy-Koalitionen innerhalb des Subsystems die Policy-Kerne und die sekundären Aspekte ihrer handlungsleitenden Orientierungen in politische Maßnahmen zu übersetzen“ (SABATIER1993: 135). Die meisten Policies stellen dabei bis zu einem gewissen Grad Kompromisse zwischen den Koalitionen dar, in der Regel bestimmt jedoch eine dominante Koalition über längere Zeit die Richtung.

2. Externe Effekte (wie z. B. Veränderungen in den sozio-ökonomischen Bedingungen, Veränderung in der regierenden Koalition auf übergeordneter politischer Ebene (vgl. 2.3.2), aber auch personelle Umschichtungen durch den Einfluß externer Effekte oder einfach durch Pensionierung oder Tod), die die Ressourcen und Restriktionen der Akteure im Subsystem beeinflussen und zu einem Wechsel der dominanten Koalition führen können.

Im ACA wird dabei bedeutender („major“) und weniger bedeutender Policy-Wandel („minor policy change“) unterschieden (VGL. SABATIER 1998: 118).

Bedeutender Policy-Wandel ist gegeben, wenn bei einer politischen Maßnahme, die Policy- Kern-Aspekte verändert werden. Dies kann nur unter dem Einfluß externer Faktoren stattfinden. Dieser Einfluß externer Faktoren ist dabei notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Er führt nicht zwangsläufig zu bedeutendem Policy-Wandel, bietet aber die Gelegenheit dafür, die allerdings von einer der bisherigen Minderheitskoalitionen genutzt werden muß.

Als weniger bedeutender Policy-Wandel werden Veränderungen einer Policy bezeichnet, die sich nur auf deren sekundäre Aspekte beziehen. Dieser „minor policy change“ kann auch ohne den direkten Einfluß externer Faktoren stattfinden, über kognitive Aktivitäten innerhalb der dominanten Koalition, die Sabatier „policy-orientiertes Lernen“ nennt.1 Es handelt sich dabei um „relativ stabile Veränderungen des Denkens oder von Verhaltensintentionen (...), die aus Erfahrungen resultieren und die sich mit der Realisierung oder der Veränderung von Policy-Zielen befassen“ (SABATIER 1993: 121F). Angestoßen werden kann „Policyorientiertes Lernen“ durch drei Momente:

- „feedback loops“, d.h. Informierungsprozesse über Policy-Entscheidungen und ihre Wirkungen, innerhalb eines Subsystems
- die Perzeption der externen Dynamik und
- das verbesserte Wissen über den Zustand der Problemparameter.

Im ACA wird angenommen, daß dieses Lernen instrumentell ist, d.h. von den Akteuren dazu genutzt wird, um auf der Grundlage eines besseren Verständnisses der Welt ihre Ziele besser durchsetzen zu können. Policy-Kern-Aspekte werden davon allerdings nicht berührt: „Obwohl externe Ereignisse oder die Aktivitäten von Gegnern allmählich die Überprüfung von Kern-Wertvorstellungen erzwingen können, hat die Abneigung, dies zu tun, zur Folge, daß das meiste Lernen sich in den sekundären Aspekten von Wertvorstellungen und/oder staatlichen Maßnahmen vollzieht.“ (SABATIER 1993: 138)

Zusammenfassend stellt SABATIER (1993: 123) fest: „Das Hauptargument dieses analytischen Ansatzes ist es, daß das policy-orientierte Lernen zwar ein wichtiger Aspekt des Policy- Wandels ist und die sekundären Aspekte des ‚belief system‘ einer Koalition oft verändern kann, daß die Veränderungen in den Kernaspekten einer Policy jedoch in der Regel das Resultat von Veränderungen oder ‚pertubations‘ in nicht-kognitiven Faktoren darstellen, die außerhalb des Subsystems existieren“.

3. Möglichkeiten und Grenzen einer Nutzung des ACA im EU-System

Der ACA wurde ursprünglich für die Analyse nationaler politischer Systeme entwickelt und zwar auf Grundlage von Forschungen, die in den USA gemacht wurden. Daß der Ansatz auch im europäischen Kontext gewinnbringend eingesetzt werden kann, belegt SABATIER (1998: 120) mit dem Verweis auf verschiedene Studien. Zur Analyse des supranationalen Systems der Europäischen Union wurde der Ansatz meines Wissens jedoch noch nicht verstärkt herangezogen. Hier soll nun untersucht werden, was den ACA prinzipiell für eine Anwendung im EU-Systems geeignet erscheinen läßt bzw. wo eine Arbeit mit ihm Vorteile bringen könnte. Auf der anderen Seite wird auch danach gefragt, ob es Aspekte gibt, die eine Nutzung im EU-Kontext problematisch machen bzw. an welchen Stellen das Modell unter Umständen modifiziert werden müßte.

3.1 Vorteile des ACA

3.1.1 auf der Theorieebene

- Der ACA versucht längerfristige Entwicklung zu erfassen: Gerade bei der Analyse des EU-Systems, bei der es ja verstärkt um die Erklärung des Integrationsprozesses geht, ist die Konzentration auf einen Policy-Zyklus vielfach zu kurz. Eine längerfristige Perspektive, wie sie im ACA gewählt wird, kann da die Entwicklung besser erfassen (VGL. SCHUMANN 1996: 171).
- Der ACA setzt an einzelnen Politikfeldern an: Dies ist ein wesentlicher Vorteil des ACA, der sich wegen der Sektoralisierung von Politik und der funktionellen Differenzierung und Fragmentierung (VGL. SCHUMANN 1993: 419) im EU System besonders positiv ausprägt. Durch die Wahl des Policy-Subsystems als Analyse-Einheit können die verschiedenen Ebenen (nationale vs. supranationale) des EU-Systems und Ebenenwechsel im Verlauf des Policy-Prozesses analytisch integriert werden. Diesen Vorteil übernimmt der ACA mit seiner Verarbeitung des Policy-Netzwerk-Ansatzes.
- Der ACA bezieht politikfeldexterne Faktoren in die Analyse ein: Bei der Analyse von Policies im EU-System spielen politikfeldexterne Faktoren eine große Rolle; die im Vergleich zum nationalen Rahmen „häufigeren und intensiveren Wechselwirkungen zwischen Netzwerken und ihrer Außenwelt“ (SCHUMANN 1996: 213) stellen geradezu ein Charakteristikum des EU-Systems dar. So sind z. B. sozio-ökonomische Aspekte, insbesondere die unterschiedlichen ökonomischen Strukturen der Mitgliedstaaten, für die Analyse der Policy-Gestaltung zentral (VGL. SCHUMANN 1991: 237). Sie können im ACA gut eingebracht werden.
- Der ACA berücksichtigt die Rolle von Ideen, Überzeugungen und Werten: Werte und Überzeugungen spielen bei der Policy-Gestaltung eine bedeutende Rolle. Da in der EU 15 Nationalstaaten zusammenarbeiten, die zumindest partiell differierende normative Grundlagen haben -was dazu führen kann, daß ein Problem teils nicht einmal von allen als solches wahrgenommen wird -, ist es für die Analyse des EU-Systems überaus wertvoll, daß der ACA Werten und Überzeugungen eine so prominente Rolle zuweist. Darüber hinaus gelingt es in diesem Ansatz, die Belief Systems differenziert zu modellieren. Insgesamt schafft der ACA so eine Alternative zu rational-choice- orientierten Ansätzen.
- Der ACA bezieht die Rolle von technischen Informationen in die Analyse ein: Dem „häufig technizistischen und hochkomplexen Charakter der zu regelnden Materien“ (HÉRITIER 1994: 11) in der EU kommt diese Perspektive sehr entgegen.
- Der ACA faßt Wissenschaftler, Beamte und Journalisten als potentielle Mitglieder von Advocacy-Koalitionen auf: Wissenschaftler, Beamte und Journalisten haben Überzeugungen, die sie auf ihre spezifische Art in den Policy-Gestaltungsprozeß einbringen. Aus diesem Grund können sie im ACA auch Teil von Koalitionen sein (VGL. SABATIER 1998: 107). Mit Blick auf den Wirtschafts- und Sozialausschuß und besonders auf die große Rolle, die der Ausschuß der Ständigen Vertreter (COREPER) spielt, erscheint dies für eine Analyse von Policy-Wandel im EU-System fruchtbar.
- Der ACA berücksichtigt und erklärt Policy-Lernen: Gerade in der EU gibt es eine große Konstanz, was viele am Policy-Gestaltungsprozeß beteiligten Akteure angeht (Man denke an die „großen Europäer“, wie Jacques Delors oder Helmut Kohl, aber auch an die teils langjährige Zusammenarbeit und persönlichen Bekanntschaften in Ausschüssen und in der Verwaltung.). Policy-Lernen als eine Motivation für langsamen und begrenzten Policy- Wandel gewinnt dadurch an Bedeutung und kann im ACA gut verarbeitet werden.

3.1.2 bei der empirischen Anwendung

- Die Analyse-Einheit „ Policy-Subsystem “ läßt sich auf das EU-System anwenden: Im EU- System haben sich inzwischen „wie in ausdifferenzierten (nationalen) liberal- demokratischen Systemen relativ autonome Policy-Subsysteme (Netzwerke) herausgebildet“ (MÜLLER 1997: 99). Es lassen sich also verschiedene Subsysteme identifizieren, für die die in Kapitel 2.2.1 aufgestellten Kriterien für ein „reifes“ Subsystem zutreffen (vgl. Agrar- oder Währungspolitik). Daneben gibt es aufgrund des geringen Alters des EU-Systems jedoch zweifellos viele Bereiche, in denen Subsysteme erst entstehen.
- Advocacy-Koalitionen können in den EU-Subsystemen identifiziert werden: Es stellt offenbar keine große Schwierigkeit dar, in den EU-Subsystemen Akteure analytisch zu Advocacy-Koalitionen zusammenzufassen. MÜLLER (1997: 99F) hat dies für die Europäische Währungspolitik gezeigt, und SABATIER (1998: 121) nennt hierzu Studien zu verschiedenen anderen Politikfeldern.
- Der ACA lenkt die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung von Subsystemen: Die Differenzierung zwischen „entstehenden“ und „reifen“ Subsystemen hilft, laut SABATIER (1998: 111 U. 121), die „Reifung“ eines Subsystems zu verfolgen und zu verstehen. Dieser Punkt ist bei der Analyse des EU-Systems von großer Bedeutung, kann doch die Herausbildung von immer mehr „reifen“ Subsystemen geradezu als der Integrationsprozeß begriffen werden. Allerdings muß sich m. E. erst noch empirisch zeigen, ob der ACA hier tatsächlich seine Stärke hat, wie Sabatier behauptet. Die Aufstellung von Kriterien für „reife“ Subsysteme kann jedoch zumindest helfen, das Problem zu strukturieren und Klarheit zu schaffen.
- Im ACA können komplexeste Vorgänge modelliert werden: Die Differenzierung zwischen „minor“ und „major policy change“ und die Erfassung ineinander verschachtelter Subsysteme ermöglichen eine präzise Abbildung.
- „ Venue-Shopping “ wird im ACA konsistent erklärt: „Venue-Shopping“ stellt eine Akteurs- bzw. Koalitionsstrategie dar, die gerade im EU-System von großer Relevanz ist: Die Koalitionen versuchen auf der Systemebene mit ihren Bemühungen anzusetzen, auf der sie sich den größten Erfolg für die Durchsetzung ihrer Ziele erhoffen. Durch die Integration der verschiedenen Systemebenen im ACA stellt die Modellierung diese Prozesses kein Problem dar.
- Der ACA läßt Raum für Flexibilität: Es besteht die Möglichkeit, einzelne Elemente des ACA an die realen Erfordernisse anzupassen, ohne sofort das Raster zu verlassen. So dürfte beispielsweise der externe Faktor „Grundlegende Rechtsstrukturen“ im EU-System weit weniger stabil und einheitlich sein als in nationalen politischen Systemen. Das muß allerdings nicht zum Nachteil des Modells sein. Im Sinne von SABATIER (1993: 125) könnte dies vielmehr genutzt werden, indem man die Uneinheitlichkeit als Faktor für erleichtertes Policy-Lernen versteht.

3.2 Grenzen des ACA

- Zunächst stellt sich die Frage nach der Reichweite des Modells. Während SABATIER (VGL. 1998: 122F) davon ausgeht, daß sein Ansatz grundsätzlich auf alle Politikfelder anwendbar ist, ist KATZ (1995: 80) in dieser Hinsicht skeptischer. Seiner Ansicht nach gibt es Politikfelder, für die der ACA nicht geeignet ist, z.B. solche mit geringem Konfliktniveau und einer Verhandlungslogik des Kompromisses, weil sich dort keine klar unterscheidbaren Koalitionen herausbildeten. Richtig ist, daß der Ansatz konfligierende Koalitionen braucht, ob es tatsächlich Politikfelder gibt, in denen diese sich nicht finden lassen, müssen empirische Studien zeigen.
- Im seinem neuesten Aufsatz versucht SABATIER (1998: 115) unter anderem das Profil seiner Analyse-Einheit Policy-Subsystem zu schärfen, was an einer Stelle, die insbesondere bei der Anwendung im EU-Kontext relevant würde, m. E. eher Unklarheit schafft. Er schreibt: „Policy domains that are intergovernmental in scope (...) raise important issues about subsystem delineation: does one put all of the actors - irrespective of governmental level - into a single (undifferentiated) subsystem, or does one assume that each territorial level is a separate subsystem?“ Für die Anwendung seines Ansatzes zur Analyse des EU-Systems schlägt er explizit vor, verschiedene (allerdings miteinander verknüpfte) Subsysteme anzunehmen, die die verschiedenen Gebietseinheiten bzw. Systemebenen repräsentieren. Dieser Vorstoß muß insofern verwundern, als gerade in der analytischen Integration verschiedener Systemebenen ein wesentlicher Vorteil des ACA (hier aufbauend auf dem Netzwerkkonzept) liegt. Darüber hinaus werden in dem Aufsatz keine Kriterien für die Entscheidung „Gesamtsubsystems oder territoriale Subsysteme“ ausgearbeitet. Gerade für eine Anwendung des ACA im EU-Kontext müßte diese Stelle „nachgebessert“ und präzisiert werden.
- SABATIER (1998: 120) stellt bei dem Vorhaben, seinen Ansatz „EU-tauglich“ zu machen, sehr richtig fest, daß es in verschiedenen Ländern verschiedene politische Kulturen gibt und daß dem auch in seinem Modell Rechnung getragen werden müßte. Der Versuch, diese Differenzen allein über die intervenierende Variable „Notwendiges Maß an Übereinstimmung für die Erreichung von major policy change“ zu integrieren, erscheint allerdings zu kurz gegriffen. Zweifellos mit diesem Kriterium ein Teil dessen, was politische Kultur ausmacht, abgebildet werden. Daneben gibt es aber noch weitere, die Sabatier mit seiner „Schönheitsoperation“ nicht berücksichtigt.
- Die grundsätzlichen Einstellungen gegenüber der EU und Europa überhaupt, die in den verschiedenen Ländern herrschen, müßten so ebenfalls dringend ins Modell integriert werden, um eine sinnvolle Anwendung des ACA im EU-Kontext zu ermöglichen. Eine weitere intervenierende Variable? Oder gar die Einführung eines „EU-core“, der das Zustandekommen von Koalitionen in Kombination mit dem Policy-Kern (in der Form einer Vier-Feld-Matrix) determiniert? An dieser Stelle kann dies allerdings nicht beantwortet, sondern nur auf die Notwendigkeit einer weiteren Modifikation hingewiesen werden.1
- SABATIER (1998: 121) betont, daß der ACA die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung von Subsystemen lenkt (vgl. 3.1.2). Die Entstehung von Subsystemen wird allerdings nicht genügend beachtet - der Ansatz braucht für sein Funktionieren bereits bestehende. Der Wandel in diesen und auch die Entwicklung derselben wird also erklärt, aber was die Gründe und Bedingungen für das Auftreten von Subsystemen mit partiell supranationalem Charakter überhaupt sind, wird außer acht gelassen. Die Frage also, warum verschiedene Nationalstaaten überhaupt zusammenarbeiten - die Frage, die eigentlich am Beginn und im Zentrum der Integrationsforschung steht - wird vom ACA nicht fokussiert.

4. Einschätzung zum Nutzen des ACA im EU-Kontext

Abschließend soll - basierend auf den dargestellten Möglichkeiten und Grenzen des ACA - versucht werden einzuschätzen, ob der Einsatz des Modells von Sabatier für die Analyse von Politik und Politikfeldern in der EU insgesamt Erfolg verspricht, ob sich eine empirische Anwendung lohnen würde.

Meiner Einschätzung nach stellt eine Anwendung des ACA zur Analyse eines EU-Politikfelds durchaus ein lohnendes Projekt dar. Es ist zu erwarten, daß sich relativ gut mit dem Ansatz arbeiten läßt, d.h. daß eine empirische Füllung des analytischen Modells ohne größere Probleme möglich ist (vgl. 3.1.2). Aufgrund der dennoch komplexen Modellierung, die an verschiedenen Stellen gerade den spezifischen Merkmalen des EU-Systems (z.B. funktionelle Differenzierung und Fragmentierung, mehrere Ebenen, große Rolle von technischen Informationen (vgl. 3.1.1)) in besonderem Maße gerecht wird, können gute Ergebnisse erwartet werden, d.h. daß wohl viele Phänomene erklärt werden können. Auf der anderen Seite ist m. E. ebenfalls zu erwarten, daß sich an verschiedenen Stellen Probleme ergeben werden. Gravierend dürfte das sein bei der bisher mangelhaften Abbildung von verschiedenen Grundeinstellungen zur EU im Modell, vielleicht auch schon bei der Wahl des Politikfelds. Die Frage, ob der ACA tatsächlich für alle oder nur für bestimmte Arten von Politikfeldern tauglich ist, ist für mich weiterhin nicht entschieden (vgl. 3.2).

Allerdings werden sich diese abstrakten Überlegungen nur in einer größeren und empirisch gestützten Studie bestätigen lassen (oder eben nicht). Eine solche Anwendung des Advocacy- Coalition-Ansatzes von Sabatier könnte somit sowohl wertvolle Erkenntnisse über den EU- Integrationsprozeß liefern, als auch einer fruchtbaren Überprüfung des Modells dienen, weiteren Modifikationsbedarf feststellen oder Lösungen für bestehende „Schwachstellen“ nahelegen.

5. Literaturverzeichnis

DREHER, CHRISTINE/KATZ, JOACHIM/KÖHLER, STEFAN 1995: Politikfeldanalytischer Vergleich der Stadtverkehrspolitik in Stuttgart und Zürich, Magisterarbeit, Stuttgart.

DRUWE, ULRICH 1993: Politische Theorie, München.

HÉRITIER, ADRIENNE 1993: Policy-Netzwerkanalyse als Untersuchungsinstrument im europäischen Kontext: Folgerungen aus einer empirischen Studie regulativer Politik, in: Héritier, Adrienne (Hg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung (PVS-Sonderheft 24), Opladen, 432-447.

DIES. ET AL. 1994: Die Veränderung von Staatlichkeit in Europa. Ein regulativer Wettbewerb: Deutschland, Großbritannien und Frankreich in der Europäischen Union, Opladen.

KATZ, JOACHIM 1995: Theoretischer Rahmen für einen Vergleich der Stadtverkehrspolitik in Stuttgart und Zürich, in: Dreher, Christine/Katz, Joachim/Köhler, Stefan: Politikfeldanalytischer Vergleich der Stadtverkehrspolitik in Stuttgart und Zürich, Magisterarbeit, Stuttgart.

KENIS, PATRICK/SCHNEIDER, VOLKER 1991: Policy Networks and Policy Analysis:

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MÜLLER, RAGNAR 1997:Europäische Währungspolitik. Eine Anwendung des Modells von Schumann, Zulassungsarbeit, Tübingen.

PRITTWITZ, VOLKER VON 1994: Politikanalyse, Opladen.

SABATIER, PAUL A. 1987: Knowledge, Policy-Oriented Learning and Policy Change, in: Knowledge, Creation, Diffusion, Utilization 8, 649-692.

DERS. 1988: An Advocacy Coalition Framework of Policy Change and the Role of Policy- Oriented Learning Therein, in: Policy Sciences 21, 129-168.

DERS. 1993: Advocacy-Koalitionen, Policy-Wandel und Policy-Lernen: Eine Alternative zur Phasenheuristk, in: Héritier, Adrienne (Hg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung (PVS-Sonderheft 24), Opladen, 116-148.

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DERS./JENKINS-SMITH, HANK C. 1993: Policy Change and Learning. An Advocacy Coalition Approach, Boulder/San Francisco/Oxford.

SAUER, JOHANNES FRITZ 1997: Politische Ideen, Handlungsorientierungen und ’advocacy coalitions‘ - aufgezeigt am Beispiel der Diskussion um eine ‘Reform der Reform‘ der Gemeinsamen Agrarpolitik, Diplomarbeit, Hamburg.

SCHUMANN, WOLFGANG 1991: EG-Forschung und Policy-Analyse. Zur Notwendigkeit, den ganzen Elefanten zu erfassen, in: Politische Vierteljahresschrift, 32. Jg., Heft 2/1991, 232-257.

DERS. 1993: Die EG als neuer Anwendungsbereich für die Policy-Analyse: Möglichkeiten und Perspektiven der konzeptionellen Weiterentwicklung, , in: Héritier, Adrienne (Hg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung (PVS-Sonderheft 24), Opladen, 394-431.

DERS. 1996: Neue Wege in der Integrationstheorie. Ein policy-analytisches Modell zur Interpretation des politischen Systems der EU, Opladen.

[...]


1 Für einen Überblick über die Entwicklung der integrationstheoretischen Diskussion VGL. SCHUMANN 1996: 12- 54.

1 Hierbei konnten bereits gute Ergebnisse erzielt werden, VGL. DREHER/KATZ/KÖHLER 1995. Einen Überblick über zahlreiche Studien, in denen der Ansatz (laut Sabatier) erfolgreich zur Anwendung kam VGL. SABATIER 1998: 100F.

1 In der Beschreibung und Erklärung des „policy-orientierten Lernens“ sieht Sabatier einen der Schwerpunkte seiner Arbeit, VGL. SABATIER 1993B: 137-141 und DERS. 1998: 104F UND 117F. Hier kann darauf nur relativ kurz eingegangen werden.

1 Schumann (1996) hat in seinem „Policy-analytischen Modell zur Interpretation des politischen Systems der EU“ - gerade auch in Auseinandersetzung mit dem ACA - versucht, diese Schwäche zu beheben. Allerdings geht dieser neue Ansatz über eine reine Modifikation des ACA weit hinaus.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Der Advocacy-Coalition-Ansatz von Paul A. Sabatier als Konzept zur Analyse des EU-Systems. Möglichkeiten und Grenzen
Hochschule
Universität Stuttgart
Autor
Jahr
1998
Seiten
20
Katalognummer
V100902
ISBN (eBook)
9783638993241
Dateigröße
386 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Advocacy-Coalition-Ansatz, Paul, Sabatier, Konzept, Analyse, EU-Systems, Möglichkeiten, Grenzen
Arbeit zitieren
Johannes Baurer (Autor:in), 1998, Der Advocacy-Coalition-Ansatz von Paul A. Sabatier als Konzept zur Analyse des EU-Systems. Möglichkeiten und Grenzen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100902

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