Ist das noch ein Brief? Moderne Formen des Nachrichtenaustausches im Roman

Eine Analyse von "Vor der Zunahme der Zeichen" von Senthuran Varatharajah


Seminararbeit, 2019

16 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das Format

Die Sprache

Eine Prüfung der Vergleichbarkeit

Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das 21. Jahrhundert hat einige revolutionäre technische Neuerungen hervogebracht. Darunter fallen die Erfindung des Smartphones, die Weiterentwicklung des Computers und auch die Einführung neuer digitaler Kommunikationsmittel, die durch diese neue Hardware ermöglicht wird. Eines der heute am meistgenuzten neuen Kommunikationsformen ist das sogenannte Instant Messaging. Es ist seit den späten 1990er Jahren insbesondere unter Teenagern populär.1 Inzwischen haben die Instant Messaging-Dienste auch Einzug in moderne Literatur erhalten. In E-Mail Romanen wie Gut gegen Nordwind2 von Daniel Glattauer bilden diese neuen Kommunikationsmittel einen elementaren Bestandteil. Senthuran Varatharajahs 2016 erschiener Roman Vor der Zunahme der Zeichen 3 führt den E-Mail Roman im Format der Sofortnachricht weiter. Den Rahmen für Vor der Zunahme der Zeichen liefert dabei der Messenger des US-Amerikanischen Internetkonzerns Facebook. 4 Bereits auf der ersten Seite des Romans lassen sich die Besonderheiten dieser Kommunikationsform erkennen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Durch die individuelle Formatierung des Romans erhält der Leser wie in einem Tagebuch eine minutengenaue Übersicht über den Sendungsverlauf der Nachrichten. Darüber hinaus gibt es keinen übergeordneten Erzähler. Die Dialogform des Facebook-Messengers (im folgenden mit FM abgekürzt) erinnert durch die synchrone1 2 3 4 Abfolge der Nachrichten zusätzlich an die dialogische Erzählweise von Dramen,5 jedoch ohne weitere Elemente dieser Literaturform aufzugreifen. Zum Beispiel werden keine Regieanweisungen übernommen. Die größte Ähnlichkeit hat diese Form des Romans mit dem Briefroman und seiner Weiterentwicklung, dem E-Mail-Roman. Bereits beim E-Mail Roman stellt sich die Frage, ob dieser eine Weiterentwicklung des Briefromans dasrstellt.6

Vor der Zunahme der Zeichen führt diese Frage durch seine Form als Messenger-Romans weiter. Welche Wirkung seine Gestaltung entfaltet und wie er von der mündlichen Sprachform geprägt wird die in Messengern wie FM und anderen Sofortnachrichtendiensten vorherrscht, ist noch nicht näher untersucht.

Um den Einfluss vom FM auf Vor der Zunahme der Zeichen als Roman zu klären, ist eine genaue Analyse des Formats und der Sprache des Romans vorzunehmen. Darüber hinaus können Vergleiche zu Briefromanen sowie neueren, aus modernen Kommunikationsmitteln inspirierten Romanen, wie dem bereits erwähnten Gut gegen Nordwind, Anhaltspunkte über mögliche Ähnlichkeiten und eine daraus resultierende Einschätzung liefern.

2. Das Format

Das Format des FM ist für einen Roman zunächst ungewöhnlich. Um seine Wirkung zu verstehen und den Inhalt des Romans analysieren zu können, muss das Format der Realisierung des Messengers anaylsiert werden. Komplexere Formatfragen die keine direkte Auswirkung auf das Format haben, werden ausgeblendet.7

Das Gespräch der beiden Protagonisten, Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi, beginnt in einem für das Format des FM typischen Rahmen, der für Romane jedoch unübliche ist. Der Austausch von FM-Nachrichten funktioniert ähnlich wie das Schreiben von E-Mails. Eine Nachricht wird von einer Person versendet und kommt kommt im virtuellen Postfach einer anderen Person an, die diese Nachricht nun sofort lesen und darauf antworten kann. Bei Messengern gibt es viele verschiedene Anbieter deren Software unterschiedliche Funktionen, Designs und Funktionen aufweisen.

Angeleitet durch den Algorithmus von Facebook und dessen Freundesvorschläge beginnt das Gespräch zwischen Valmira und Senthil. Später stellen beide fest, dass sie sich wahrscheinlich im wahren leben noch nicht begegnet sind. Damit bleibt der Diskurs im digitalen Raum. Um das digitale Format zu veranschaulichen, ist grundsätzlich jede Textstelle des Romans geeignet, da sich das Format während des gesamten Romans nicht verändert. Die folgende Stelle zu Beginn des Romans wird hier zur Illustration zitiert:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Generell besteht jede Nachricht aus 3 Elementen. Erstens: Dem Namen des Schreibenden, der hier als Klarname definiert werden kann und neben dem manchmal ein Smartphone Symbol angibt, dass eine Nachricht über das Smartphone abgeschickt wurde. Zweitens: Dem Zeitstempel, der die Erzählzeit der Geschichte kenntlich macht und somit dem Diskurs einen zeitlichen Rahmen gibt. Drittens: Die eigentlichen Nachricht, die die grundlegende Basis der Erzählung liefert. Darüber hinaus sind die Kapitelüberschriften eine ergänzende Zeitangabe, da sie die Wochentage der Unterhaltungen aufzeigen. Damit ergibt sich eine klare Einrahmung des Erzählten und der Leser kann zu jeder Zeit differenzieren, wer welche Nachricht gesendet hat.

Das Layout des Romans versucht die reale Form des FM zu imitieren und entspricht in der Formatierung ihres Textes dem FM mit kleinen designtechnischen Abweichungen. Dabei ist zu beachten, dass diese interaktive Form der Kommunikation in einem gedruckten Roman nie komplett abgebildet werden kann. Aktualisierungen, die eine andere Repräsentationsform und eine verbindene Ebene wie das Internet benötigen, können in Buchform aus verschiedenen Gründen nicht wiedergegeben oder abgebildet werden. Darunter zählen zum Beispiel Statusaktualisierungen des Online-Status der Gesprächsteilnehmer sowie andere Interaktionen mit dem Dienst Facebook. Dennoch finden manche dieser spezifischen Formen des FM Einzug in die Strukturen von Vor der Zunahme der Zeichen. Zu nennen seien hier zum Beispiel eine Nachricht Valmiras: „Valmira Surroi 10:38 Ich sitze in der Bibliothek. Der grüne Punkt neben Deinem Namen fehlt." (Z 60). Damit integriert Valmira die Interaktivität des FM in ihren Diskurs und lässt erkennen, dass sie sich über die Interaktivität des Messengers als Kommunikationsform im Klaren ist. Der besagte grüne Punkt signalisiert beim FM, ob die potentielle Gesprächspartner gerade eine aktive Internetverbindung hat, eine Facebook-Anwendung benutzt und somit sofort antworten könnte. 8

Zudem, kann der Gesprächspartner erkennen, ob sein Gegenüber gerade eine Nachricht verfasst (Vgl. Z 82). Diese Funktion beeinflusst sowohl den Schreibenden als auch den Empfänger. Das Wissen um diese Funktion setzt ein gewisses digitales Wissen voraus und übt auf die Person, die eine Nachricht verfasst, Druck aus. Beim Empfänger wandelt sich dieser Druck zu einer Erwartungshaltung.

Da diese Besonderheiten des FM, die auch bei anderen Messengern vorhanden ist, nicht über die Form des Buchs als Medium ausgedrückt werden kann, wird sie, wenn sie für den Diskurs relevant ist, durch die Figuren ausgedrückt. Damit kommt diese Form der Erzählung auch ohne leitenden Erzähler aus. Das Format des Romans erfüllt somit verschiedene Funktionen: Es bietet eine besondere Grundlage des Erzählens durch eine fast reine Dialogform, die nur durch die automatisierten Zeit- und Namensangaben sowie den Umbruch der Wochentage unterbrochen wird. Jonas Teupert bemerkt zu dieser modernen Form des Dialogs in Vor der Zunahme der Zeichen: „Facebook-dialogue provides the promise of this fugitive form of communication in which two stories relate to one another in their similarities without being reduced to simple analogies."9 Durch den direkten Kommunikationskanal entsteht die ungewohnte Situation einer unmittelbaren Informationsvermittlung, die ohne eine weitere Erzählinstanz auskommt.10 Somit bleibt die Fokalisierung bei den Protagonisten und ihre Wahrnehmungen werden ungefiltert geschildert. Die Perspektive wird dauerhaft verschoben und erzielt damit einen Effekt auf den Leser.Die Figuren charakterisieren sich durch ihren Dialog selbst, anstatt von anderer Stelle zum Besipiel durch eine Erzählerinstanz charakterisiert zu werden.11 12 13 14

Ein Schlüsselmoment in Vor der Zunahme der Zeichen, der neue Bedeutungsebenen öffnet und dem Roman gleichzeitig seinem Namen verleiht, bedient sich einer weiteren Besonderheit des FM. Eine Nachricht, die Senthil verfasst und abgeschickt hat, kommt nicht bei der Empfängerin,Valmira, an (Vgl. Z 81). Die Kommunikation ist gestört. Daraufhin verändert Senthil seine Nachricht, indem er eine Stelle kürzt, die vor der Zunahme der Zeichen warnt und damit ein Paradox im digitalen Raum kreiert. Die Nachricht ist zwar für den Leser und für Senthil noch sichtbar, für Valmira jedoch nicht. Die Zunahme der Zeichen wird zu einer Wegnahme. Die Zeichen entziehen sich ihrem Empfänger und Senthil entzieht ihnen zwar nicht ihr Dasein, jedoch ihre Relevanz. Sie bleiben eine bloße Notiz, die nur für den Leser Bedeutung hat. Der Rahmen des zeitversetzten digitalen Dialogs entfernt sich durch seine Eigenheiten und sein spezielles Format vom Briefroman.. Weiterführend wird diese Andersartigkeit auch in der Sprache deutlich.

3. Die Sprache

Die Sprache in Vor der Zunahme der Zeichen wird stark durch das bereits erläuterte Format des Romans beeinflusst. Die Kommunikation im Internet weist Eigenheiten auf, die auch auf die Benutzung des FM abfärben. Darunter zählen z. B die Verwendung von Emojis12 und die Vermischung der mündlichen und schriftlichen Sprache. Heinrich Löffler spricht in diesem Kontext von einer Form der Oralliterarität und bezeichnet die Internetsprache als Mediolekt.13 Dabei mischen sich Formen der mündlichen Sprache mit der Schriftsprache. Durch diesen fließenden Übergang kann auch eine Verschriftlichung von mündlicher Sprache stattfinden, wie sie Konstanze Marx im Rahmen digitaler Kommunikation feststellt.14 In Varatharajahs Roman finden sich sowohl Formen dieser speziellen digitalen Kommunikation, als auch Passagen, die als rein schriftypische Sprache identifiziert werden können.

Grundlegend werden sowohl von Valmira als auch von Senthil die Normen der deutschen Rechtschreibung eingehalten. Dabei fällt jedoch schnell auf, dass Senthil eine Eigenheit in seine Schriftsprache einbringt. Er verzichtet durchgehend auf die Großschreibung von Nomen (Vgl. Z 65). Teupert stellt dazu fest:„ In contrast to the German capitalization of nouns and proper names, all words in the virtual space carry the same weight."15 Die fehlende Kapitalisierung von Senthil ist also sowohl ein gezieltes Stilmittel, als auch eine Reaktion auf den digitalen Raum der Begegnung. Durch die Auslassung der Großschreibung, erhalten viele Textstellen von Senthil eine unübersichtliches Schriftbild. Senthils Nachrichten bestehen zudem häufig aus Hypotaxen und bilden damit eher ein Merkmal der Schriftlichkeit (Vgl. Z 21 f.). Kontrastierend dazu stehen die vielfache Wiederholung von Satzanfängen und einzelnen Wörtern wie ,Vielleicht' (Vgl. Z 2, Z 29, Z 64), die eher für einen mündlichen Sprachgebrauch typisch sind.16

[...]


1 Vgl. Cynthia Lewis u. Bettina Fabos. Instant messaging, literacies,and social identities. In: Reading Research Quarterly Vol. 40, No. 4 (2015) S. 472f.

2 Vgl. Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind. Roman. München: Wilhelm Goldmann 2008.

3 Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen. Roman. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer 2017 ( Im Folgenden zitiert und paraphrasiert mit der vorangestellten Sigle ‘Z’ und Seitenzahl in Klammern direkt im Fließtext).

4 Der Begriff Messenger wird im Folgenden als Synonym für Sofortnachrichtendienst und Instant-Messaging-Dienst verwendet.

5 Vgl. Sabrina Kusche: Der E-Mail-Roman. Zur Medialisierung des Erzählens in der zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Literatur. Diss. masch. Stockholm 2012, S. 242.

6 Vgl. ebd. S.147.

7 Vgl. Hier wären z.B die Unterscheidung von Direktnachrichten und Chatnachrichten aufzuführen wie Sie von Facebook beschrieben definiert wird: o.A: Facebook-Hilfebereich.Wie erkenne ich, welche Freunde im Chat aktiv sind? https://de-de.facebook.com/help/149081061827062 ( 11.09.2019).

8 Vgl. ebd.

9 Jonas Teupert: Sharing Fugitive Lives: Digital Encounters in Senthuran Varatharajah's Vor der Zunahme der Zeichen. In: Transit Vol. 11 No. 2 (2018), S. 3.

10 Kuschke: Der E-Mail-Roman. S. 243.

11 Reinhard M.G. Nickisch: Brief. Stuttgart: Metzler 1991 (Band 260), S. 161.

12 Konstanze Marx: "Es ist kompliziert". Facebook-Kommunikation über Gefühle als Diskussionsgegenstand im Kompetenzbereich Sprachreflexion. In: Der Deutschunterricht 67 (2015) S. 34f.

13 Heinrich Löffler: Germanistische Soziolinguistik. 5. neu bearbeitete Auflage. Berlin: Erich Schmidt 2016 (Grundlagen der Germanistik Band 28), S. 68 f.

14 Konstanze Marx: "Es ist kompliziert. S. 35 f.

15 Teupert: Sharing fugitive lives. S. 4.

16 Heinrich Löffler: Germanistische Soziolinguistik. S. 68.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Ist das noch ein Brief? Moderne Formen des Nachrichtenaustausches im Roman
Untertitel
Eine Analyse von "Vor der Zunahme der Zeichen" von Senthuran Varatharajah
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Philosophische Fakultät)
Veranstaltung
Schreiben SIe mir: Briefseminar
Note
2,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
16
Katalognummer
V1009537
ISBN (eBook)
9783346396457
ISBN (Buch)
9783346396464
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Briefe, Whatsapp, Instant Messaging, Kleist, Von der Zunahme der Zeichen, Senthuran Varatharajah, Moderner Roman
Arbeit zitieren
Jonas Labudda (Autor:in), 2019, Ist das noch ein Brief? Moderne Formen des Nachrichtenaustausches im Roman, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1009537

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