Die Theorien der Tabula rasa von John Locke und Helvétius

Wie sind sie im Kontext der heutigen Entwicklungswissenschaften des Menschen zu bewerten?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2020

13 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Wie gelangt der Mensch zu Wissen?
2.1 John Lockes Ideenlehre und seine Theorie der Wissensgewinnung
2.2 Helvétius zur geistigen Voraussetzung und Tätigkeit
2.3 Ab wann ein Mensch wahrnimmt

3. Der Einfluss der Schwangerschaft und Geburt auf das Kind

4. Der Einfluss von Erziehung und Umwelt auf den Menschen

5. Schluss

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der Wissenschaft gibt es verschiedene Ansätze rund um das Thema Charakterbildung und Entwicklung. Heute wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch bis zu einem gewissen Grad schon vor der Geburt geprägt ist1 und dass äußere Einflüsse ebenso wie Veranlagung zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen. Darüber, wie genau sich der Einfluss von Umwelt und Genen auf die Prägung verhält, wird immer noch diskutiert.

Ab wann und wie entwickeln sich Geist und Charakter eines Menschen? Wie groß sind die Einflüsse genetischer Voraussetzungen auf den Charakter einzuschätzen? Hat der Verlauf der Schwangerschaft einen Einfluss auf den Menschen? In welchem Zustand befinden sich Geist und Bewusstsein bei der Geburt? Mit diesen Fragen setzten sich auch John Locke (1632-1704) und Claude Adrien Helvétius (1715-71) auseinander. Beide gehen von der Theorie einer Tabula rasa aus. Seit den Stoikern wird der Begriff „Tabula rasa“ häufig für den Zustand der Seele bei der Geburt im Rahmen sensualistischer und empiristischer Erkenntnistheorie verwendet und bedeutet übersetzt „unbeschriebene Tafel“2. Nach Helvétius beginnt die Charakterbildung mit der ersten Gewohnheit eines Menschen3. Locke vertritt die These, dass der Charakter durch Ideen, also Erfahrung und das dadurch erlangte Wissen gebildet wird. Was Locke unter Ideen versteht, wird noch genauer erläutert.

Gegenstand dieser Arbeit ist es die Fragen zu klären, inwiefern die Theorien von Locke und Helvétius schlüssig sind, worin sie sich gleichen oder unterscheiden und wie ihre Theorien der Tabula rasa nach heutigem Stand der Wissenschaft (im Bereich der Psychologie/ Erziehungswissenschaft) einzuschätzen sind. Zunächst werde ich die Argumentation von Locke und Helvétius nachzeichnen und Unterschiede und Ähnlichkeiten ihrer Theorien aufweisen. Dabei liegt der Fokus erst auf der Wissensgewinnung, dann wird untersucht, welchen Einfluss der Verlauf einer Schwangerschaft und die Geburt auf den Menschen hat und ob der Mensch zu diesem Zeitpunkt tatsächlich als Tabula rasa bezeichnet werden kann. Anschließend wird die Wirkung der Erziehung aus Sicht von Locke, Helvétius und heutigen WissenschaftlerInnen untersucht.

In Weiteren wird diskutiert, weshalb der Mensch nicht als Tabula rasa zur Welt kommt, sondern durch Veranlagungen vorgeprägt ist. Genetik und Physiologie bestimmen diese Veranlagung unter anderem. Die Theorie der Tabula rasa wird kritisch hinterfragt und in bestimmten Punkten mit den neuesten Kenntnissen der heutigen Wissenschaft widerlegt.

2. Wie gelangt der Mensch zu Wissen?

Helvétius vertritt, ebenso wie Locke, den Ansatz, dass Ideen und somit Wissen ausschließlich durch die Sinne gewonnen werden4. Nach ihm kann dabei die Unterschiedlichkeit hinsichtlich der Beschaffenheit der Organe und des Geistes zwischen den einzelnen Menschen keine Rolle spielen. Es ist die Feinheit der Sinne, welche laut Helvétius dafür verantwortlich ist, wie und in welchem Umfang der Mensch Ideen und somit Wissen aufnehmen kann. Locke ist der Meinung, dass der Mensch durch Erfahrung von äußeren Umständen und Reflexion an Wissen gewinnt.

2.1 John Lockes Ideenlehre und seine Theorie der Wissensgewinnung

John Locke nimmt an, das Bewusstsein eines Menschen entspricht ursprünglich einer Tabula rasa, es könne also mit einem weißen Blatt Papier verglichen werden. Jeder Mensch, der neu geboren wird, ist im übertragenen Sinn frei von jeglichen Schriftzeichen oder von dem, was Locke als Ideen bezeichnet und wird im Laufe des Lebens in Form von Ideen beschriftet5. Ideen sind nach Locke die im Geist vorhandenen Objekte6. Dabei ist anzumerken, dass es sich auch um imaginäre Objekte handeln kann und Locke den Begriff Idee nicht nur für das wahrgenommene Objekt nutzt, sondern auch für das Wahrnehmen an sich7. Locke fasst den Begriff Ideen somit sehr weit, was durchaus kritisiert wurde8.

Die meisten Ideen der Menschen entstehen durch Sinneseindrücke, die nur durch Sinneswahrnehmung in den Verstand gelangen9. Die Ideen beschreiben Erfahrungen mit dem Äußeren (Sinneseindrücke) und dem Inneren (Beobachtung und Reflexion des eigenen Geistes). Aus diesen Erfahrungen bildet sich das Wissen eines Menschen10. Indem der eigene Geist beobachtet und reflektiert wird, gelangt der Mensch zu Wissen, was er nicht allein durch äußere Eindrücke hätte gewinnen können11. Es gibt nach Locke ausschließlich Ideen, die aus einer dieser Erfahrungsquellen gewonnen werden.

Diese Arten von Ideen unterteilt Locke in einfache und komplexe. Die einfachen Ideen, welche nicht durch Gedanken im Geist entstehen oder zerstört werden können, nennt Locke den „Rohstoff [...] unseres Wissens“ und sie werden ausschließlich durch Sinneswahrnehmung und Selbstbeobachtung erlangt12. Die einfachen Ideen sind in äußere und innere Erfahrung gegliedert, wobei äußere Erfahrung aus primären und sekundären Qualitäten in den Dingen gewonnen wird. Primäre Qualitäten umfassen die objektive Wahrnehmung, die es dem Menschen ermöglichen, sich (durch seinen Verstand) die Fähigkeit anzueignen, sich (objektive) Gedanken zu machen. Die resultierenden Ideen beruhen auf objektiven, messbaren Zuständen bzw. Erfahrungen, wie z.B. Zahlen und Gestalt13. Die sekundären Qualitäten bezeichnet Locke als subjektiv in Bezug auf die Wahrnehmung. Diese Art der subjektiven Wahrnehmung ermöglichen es dem Menschen, sich mit der Erfahrung und dem Verstand Ideen von Dingen zu machen, die nicht direkt messbar sind, wie zum Beispiel Farbe, Geschmack, und Geruch. Komplexe Ideen werden durch das Verknüpfen von diesen einfachen Ideen erreicht, dadurch können jedoch keine neuen einfachen Ideen gewonnen werden. Alle Ideen werden so im Laufe eines Menschenlebens erworben und sind nicht angeboren14. Locke geht davon aus, dass der Mensch sein Wissen einzig und allein durch eigene Ideen gewinnen kann15. Eine Erkenntnis wird nach Locke durch die Wahrnehmung eines Zusammenhangs zweier Ideen gewonnen. Der Mensch muss feststellen, ob eine Übereinstimmung zwischen zwei Ideen vorliegt oder nicht, um zu Erkenntnis zu gelangen16. Locke formuliert vier Arten von Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung: „Gleichheit oder Verschiedenheit, Beziehung, Koexistenz oder notwendiger Zusammenhang, reale Existenz“17. Darüber hinaus definiert Locke verschiedene Grade des Wissens: Der Mensch verfügt über aktuelles und habituelles Wissen18. Von Aktuellem wird gesprochen, „wenn der Geist die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung irgendwelcher seiner Ideen oder ihre gegenseitige Bezogenheit gegenwärtig wahrnimmt“19. Habituelles Wissen ist hingegen im Gedächtnis gespeichert und kann jederzeit abgerufen werden und muss nicht jedes Mal erneut hinterfragt werden20. Von habituellem Wissen spricht man noch heute in der Entwicklungspsychologie21.

Helvétius ist diesbezüglich Lockes Meinung. Auch er geht davon aus, dass ein Urteil nur die Zusammenfassung von zwei Empfindungen ist, die entweder in diesem Moment gefühlt werden oder im Gedächtnis aufbewahrt wurden22. Über abstrakte Begriffe, die keine Substanz oder Körper bezeichnen (wie zum Beispiel Schwäche, Stärke, Größe, Verbrechen) kann nach Helvétius nur ein Urteil gefällt werden, wenn sie auf einen sichtbaren, bestimmten Gegenstand bezogen werden23. Je größer die Aufmerksamkeit, desto genauer die Erkenntnis, so Helvétius24. Er führt das Szenario eines Kindes an, welches einen Stein beobachtet, der ins Wasser fällt und sofort zu Boden sinkt und gleichzeitig ein Stück Holz sieht, welches auf dem Wasser treibt und nicht versinkt. Durch diese Beobachtung soll das Kind nach Helvétius eine Vorstellung von Schwere gewinnen25. Ob das Kind sich allein durch die Beobachtung das Prinzip der Schwere erschließen kann bleibt jedoch fraglich. Es könnte diesen Sachverhalt auch auf andere Umstände zurückführen.

2.2 Helvétius zur geistigen Voraussetzung und Tätigkeit

In einigen Punkten stimmen Helvétius und Lockes Ansichten der Gewinnung von Wissen überein und Helvétius beruft sich in seinen Schriften oft auf die Argumentation Lockes. Es scheint, als wolle er seine Erkenntnisse mit Lockes Argumenten stützen. Beide gehen davon aus, dass ein Kind durch Erfahrung und Verknüpfung von Sinneseindrücken lernt26. Helvétius argumentiert dafür, dass geistige Ungleichheit zu einem Großteil an der ungleichen Feinheit der menschlichen Sinne beruht und alle Ideen nur durch die Sinne gewonnen werden können27. Er misst den Sinnen zwar einen immanenten Teil der Erkenntnisgewinnung bei, ist aber der Meinung, dass die Erziehung ausschlaggebend für die Verschiedenheit der Menschen ist. Helvétius geht davon aus, dass alle Menschen über die gleiche Vollkommenheit an Organen verfügen, mit der Begründung, dass Gott nicht allen Menschen dasselbe Gesetz, aber verschiedene Voraussetzungen geben würde. Was ist jedoch mit körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen? Unumstritten haben Menschen eine Anatomie, die wenig Abweichungen innerhalb dieser Gattung hat. Siamesische Zwillinge oder Fehlbildungen wie beispielsweise weniger oder mehr angeborene Finger oder Zehen gibt es, stellen aber eine Seltenheit dar. Somit stimme ich Helvétius in dem Punkt zu, dass die Menschen zwar denselben „Bauplan“ an Organen haben, aber nicht darin, dass dadurch allen die gleichen Mittel gewährt sind, da es Abweichungen gibt, die teils große Einschränkungen beinhalten, wie Lähmung, Blindheit, Taubheit, Nervenleiden und vieles mehr. Locke und Helvétius scheinen eine durchschnittliche Gesundheit vorauszusetzen, da sie nicht auf gesundheitliche Einschränkungen eingehen. Schon das unterschiedliche Erbgut spricht gegen die jedem gegebene Vollkommenheit der Organe, von der Helvétius ausgeht. Auch seine Annahme, dass die Gottheit alle Menschen mit „denselben Geistesanlagen“28 ausstattet, ist kritisch zu betrachten. Mit dieser Aussage scheint Helvétius nicht zu bedenken, dass es Menschen gibt, die in ihrer geistigen Kognition eingeschränkt sind oder einen unterschiedlich hohen IQ haben, welcher auch erblich bedingt ist. Hier stellt sich die Frage, wie Menschen mit Einschränkungen zu Wissen gelangen. Es gibt gebildete Menschen, die über viel Wissen und auch Erfahrung verfügen, die in der Wahrnehmung durch ihre Sinne jedoch deutlich eingeschränkt sind (Blindheit, Taubheit, Lähmung, ...). Macht es demnach einen Unterschied, ob ein Mensch eine geistige oder körperliche Einschränkung hat? Wie wichtig ist das Sehen oder Hören, um Wissen zu erlangen? Nach Helvétius könnten Menschen mit Einschränkungen ihrer Sinne betreffend niemals ebenso viel wissen, wie Menschen, deren Sinne normal ausgeprägt sind. Denn er geht davon aus, dass die Überlegenheit des Geistes von der „mehr oder weniger großen Vollkommenheit der Sinne abhängt“29.

Wenn man Lockes und Helvétius Theorien vergleicht, lässt sich feststellen, dass nach Lockes Einschätzungen in Helvétius Theorie ein entscheidender Punkt fehlt. Die komplexen Ideen, welche durch Reflexion und dem Verknüpfen von einfachen Ideen zu Wissen führen, können nach Locke nicht auf anderem Wege verinnerlicht werden. Helvétius führt an, dass es auf die Konzentration und Sorgfalt ankommt, mit dem eine Sache betrachtet wird, das scheint zwar in die gleiche Richtung zu gehen, explizit von Reflexion spricht er jedoch nicht.

[...]


1 Lagercrantz, H.: Die Geburt des Bewusstseins. Springer Verlag, S.103.

2 Vgl. Apel, M.: Philosophisches Wörterbuch. De Gruyter Verlag, S.276.

3 Helvétius, Anwendungen des Empirismus. S.366.

4 Helvétius: Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung, Hrsg. v. Mensching, S.85.

5 Vgl. Locke, J., Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, S. 78 §2.

6 Mall, R., Der operative Begriff des Geistes, S.58.

7 Vgl. ebd., S.58.

8 Vgl. ebd., S.58.

9 Vgl. Locke, J., Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, S.79, §3.

10 Vgl. ebd. S.78, §2.

11 Vgl. ebd. S.79, §4.

12 Vgl. Locke, J., Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, S.84.

13 Vgl. ebd. S.86, Beispiel; Schneeball §8.

14 Vgl. Mall, R., Der operative Begriff des Geistes S.57.

15 Vgl. Locke, J., Versuch über den menschlichen Verstand, Band II, S.167.

16 Vgl. ebd. S.167.

17 Ebd. S.168.

18 Vgl. ebd. S.170.

19 Ebd., S.170.

20 Ebd., S.171.

21 Siehe: Lagercrantz, H.: Die Geburt des Bewusstseins, Pauen,S. (Hg.) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter.

22 Helvétius: Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung, S.96.

23 Ebd., S.96.

24 Ebd., S.95.

25 Ebd., S.47.

26 Ebd., S.46 ff.: „Da es immer wieder auf dieselben Sinnesempfindungen stößt, wenn es denselben Gegenständen begegnet, wird es von ihnen eine um so klarere Erinnerung erwerben, je öfter die Einwirkung der Gegenstände auf seine Sinne sich wiederholt. Man muß diese Einwirkung als den umfangreichsten Teil seiner Erziehung ansehen“.

27 Ebd., S.85.

28 Helvétius: Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung, S.480.

29 Ebd., S.85ff

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Die Theorien der Tabula rasa von John Locke und Helvétius
Untertitel
Wie sind sie im Kontext der heutigen Entwicklungswissenschaften des Menschen zu bewerten?
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,7
Jahr
2020
Seiten
13
Katalognummer
V1009645
ISBN (eBook)
9783346392237
ISBN (Buch)
9783346392244
Sprache
Deutsch
Schlagworte
theorien, tabula, john, locke, helvétius, kontext, entwicklungswissenschaften, menschen
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Die Theorien der Tabula rasa von John Locke und Helvétius, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1009645

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