Der Kindsmordprozeß gegen Susanna Margaretha Brandt und sein Einfluß auf die Gretchentragödie in Goethes Faust
(Referat, Christina Felschen, 12.1.2000)
1: These
Zu den Gretchenszenen sind keine Äußerungen Goethes enthalten Spätestens seit 1773 liegen die wichtigsten Teile vor.
Wir können davon ausgehen, dass die wirkliche Exekution einer Kindsmörderin namens Susanna Margaretha Brandt im Jahre 1772 direkten Einfluss auf Teile der Gretchenhandlung hatte und vielleicht sogar Anlass für ihre Entstehung war.
2: Susanna Margaretha Brandt
Die 24jährige Dienstmagd des Gasthauses „Zum Einhorn“ wurde von einem durchreisenden holländischen Kaufmann verführt. Ihre Umgebung täuscht sie über die Schwangerschaft hinweg, bringt heimlich das Kind zur Welt und tötet es. Auf ihrer Flucht wird die junge Frau aufgegriffen und in den Kerker geworfen. Nach etlichen Verhören und einem langen Prozeß fällt das Urteil: Susanna Margaretha soll „zum abscheulichen Exempel mit dem Schwerdt vom Leben zum Todt“ gebracht werden. Dies geschah öffentlich unter begeisterter Anteilnahme der Bevölkerung am 14. Januar 1772 in Frankfurt.
3: Indizien
a:Der Name „Margaretha“ bzw. die Koseform „Gretchen“ könnte dem Zweitnamen der Frankfurterin entlehnt sein.
b:Im vierten Buch von Goethes autobiographischen Werk „Dichtung und Wahrheit“
nimmt er implizit auf die Hinrichtung der Brandt Bezug: „(...) es fehlt mitten in der bürgerlichen Ruhe und Sicherheit nicht an gräßlichen Auftritten. Bald weckt ein näherer oder entfernterer Brand uns aus unserem häuslichen Frieden, bald setzt ein entdecktes großes Verbrechen, dessen Untersuchung und Bestrafung die Stadt auf viele Wochen in Unruhe. Wir mußten Zeugen von verschiedenen Exekutionen sein (...)“
Da es während Goethes Lebensabschnitt in Frankfurt dort nur zwei Exekutionen gab - 1758 wurde Anna Maria Fröhlich, ebenfalls eine Kindsmörderin, hingerichtet - kann sich Goethe nur auf diese beiden Fälle beziehen.
c:Die Veröffentlichung der Gretchentragödie begann 1773, ein Jahr nach der Hinrichtung S. M. B. ’s.
d:Goethes Onkel wirkte bei den Verhören mit, so dass auch er persönlich mit dem
Prozeß konfrontiert wurde. Tatsächlich muss Goethe sich persönlich intensiv mit dem Verfahren auseinandergesetzt haben, fand man doch später in seinem Haus Abschriften der Prozeßakten.
e:Zu guter Letzt finden wir im Drama in Form von wörtlichen Übernahmen und Anspielungen Parallelen zu den Akten:
e1:S. 128, Z. 4: „Sie ist die erste nicht.“
Dieser Ausspruch tritt gleich an drei Stellen in den Protokollen auf. Sowohl eine der Schwestern Susannas als auch die Dienstmagd, die später ihre Stelle übernahm gaben in der Befragung an, ihr geraten zu haben, ihre Schwangerschaft einzugestehen, denn „sie wäre nicht die erste und würde auch nicht die letzte seyn“. Susanna selbst bestätigt den Zuspruch der beiden Frauen in einem Verhör.
e2:Kerker, V. 4590f: „Die Glocke ruft, das Stäbchen bricht./ Wie sie mich binden und packen.“
Über die Urteilverkündung wird durch die Akte folgendes bekannt: Nachdem der Kindsmörderin ihr Urteil vorgelesen worden war, zog der oberste Richter den kleinen roten Stab hervor, brach ihn und warf ihn ihr zu Füßen - eine symbolische Einverständniserklärung wie heute der Hammerschlag. Die Angeklagte sei darauf so erschrocken, „daß ihr minutenlang alle Glieder gezittert“ haben.
Weiter heißt es, dass „währenddem Läuten der Vater - Unser Glock in der Barfüßer Kirche die Sturm Glocke (...) angeschlagen worden“ sei. Der armen Sünderin seien „die Hände durch den Stöcker und seinen Knecht gebunden“ worden.
e3:Trüber Tag, Feld, S.127 - 128: „Bösen Geistern übergeben und der richtenden gefühllosen Menschheit.“
Dieser Vorwurf Fausts an Mephisto wird erschreckend verdeutlicht durch einen Bericht über die Henkersmahlzeit und das Protokoll der Untersuchung gegen die Sargträger. Die für den Prozeß verantwortlichen Personen schienen diese Gelegenheit zu nutzen, kurz vor der Hinrichtung in ausgelassener Festtagsstimmung an diesem maßlosen Bankett teilzunehmen. An den enormen Speiseresten bereicherten sich schließlich die Richter. Selbst Susanna wurde herzlich eingeladen, sich reichlich zu bedienen, sie trank aber nichts als ein Glas Wasser, bevor sie kurz darauf enthauptet wurde.
Als die Sensationslust der gaffenden Menge auch nach diesem Schauspiel noch nicht gestillt war, öffneten die Sargträger den Sarg, um ihnen die Leiche zu zeigen - gegen ein entsprechendes Trinkgeld.
4: Fazit
Im offensichtlichen Gegensatz zu seinen Zeitgenossen zeigt Goethe eine alternative Verstehensweise des Verbrechens auf. Gretchen ist ohne Zweifel eine Mörderin, doch er belegt sie an keiner Stelle mit negativen Attributen, im Gegenteil verkörpert sie die reine Unschuld wie kaum eine andere Figur. Damit übt der Dichter indirekt Kritik am Rechtssystem, das nur das endgültige Faktum, nie aber die Entwicklung dahin berücksichtigt.
Ähnlich wie in Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“ wird der Verbrecher - streng genommen ein Antiheld - zur Identifikationsfigur gemacht. Anders als bei üblichen Krimis bleibt die Tat selbst unklar, nie wird darauf explizit verwiesen. Schiller erläutert seine Intention im Vorwort folgendermaßen: „An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und doch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten.“ (S. 4, Z. 30 - 32) sowie Z. 35 - 38.
Diese Parallelen in den ungewöhnlichen literarischen Ansichten der Zeitgenossen sind wahrscheinlich durch ihren regen Briefwechsel entstanden. Da stellt sich die Frage, wer die Idee als erster aufgriff oder ob sie sich ergänzten. Genaugenommen ist es aber gleichgültig, da auch hier nicht die Entwicklung, sondern ihr Erfolg wichtig ist. So sagt Schiller in „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“, S. 5, Z. 20 - 23: „Unsere Gelindigkeit fruchtet ihm nichts mehr, denn er starb durch des Henkers Hand - aber die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und es ist möglich auch die Gerechtigkeit.“ Leider wurde die Gretchen - Szene aus Faust nicht zu ihrer Entstehungszeit ein Jahr nach der Hinrichtung aufgeführt - sie hätte ihre Wirkung auf die Zuschauer nicht verfehlt. Erst 180 Jahre nach diesen fortschrittlichen Gedanken - im Jahre 1948 - wurde die letzte zum Tode verurteilte Kindsmörderin in Deutschland rechtzeitig freigesprochen.
1 - 3:(Quelle: „Leben und Sterben der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt“, Siegfried Birkner)
- Arbeit zitieren
- Christina Felschen (Autor:in), 2001, Goethe, Johann Wolfgang von - Faust - Der Kindsmordprozeß gegen Susanna Margaretha Brandt und sein Einfluß auf die Gretchentragödie in Goethes Faust, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100979
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