Die Ambivalenz der Natur in Adalbert Stifters "Bergkristall"

Zur Darstellung von Natur und ihrem Verhältnis zum Menschen


Hausarbeit, 2020

29 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Natur als Teil des alltäglichen Lebens
2.1 Versorgung und Landwirtschaft
2.2 Der Berg Gars
2.2.1 Der Berg als Grenze
2.2.2 Der Berg als Verbindung

3. Natur als Bedrohung
3.1 Orientierungsverlust im Schnee
3.2 Die Gletscherlandschaft als unüberwindbares Hindernis

4. Natur als schützende und helfende Instanz
4.1 Die Höhle als natürlicher Schutzraum
4.2 „Die Natur in ihrer Größe“ – Faszinierende Naturphänomene
4.2.1 Das Krachen der Gletscher
4.2.2 Das Nordlicht

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Hausarbeit befasst sich mit der Erzählung Bergkristall 1 des österreichischen Schriftstellers Adalbert Stifter, welche mit dem Titel Der heilige Abend zwischen dem 20. und dem 27. Dezember 1845 in der Zeitschrift Die Gegenwart. Politisch-literarisches Tageblatt erstmals veröffentlicht wurde.2 Eine überarbeitete Fassung erschien schließlich unter neuem Titel gemeinsam mit anderen – teils neu verfassten, teils ebenfalls umgearbeiteten – Erzählungen in der 1853 in zwei Bänden herausgegebenen Sammlung Bunte Steine.3

Zentrale Handlung der Erzählung ist ein Erlebnis der Kinder Susanna – die, genau wie ihre Mutter, Sanna genannt wird – und Konrad: Aufgrund von starkem, anhaltendem Schneefall verirren sie sich auf dem Rückweg von einem Besuch bei den Großeltern über den Berg in ihr Heimatdorf. Die Wetterlage zwingt sie, die Nacht im Gebirge zu verbringen, bevor sie am folgenden Tag die Suche nach dem Heimweg fortsetzen können, wobei sie schließlich von einem Suchtrupp gefunden und wohlbehalten nach Hause gebracht werden.

Nicht nur, dass die Kinder in dieser Nacht die Natur in all ihrer Macht erfahren: Vielmehr ist der gesamte Text geprägt von Beschreibungen der die Figuren der Erzählung umgebenden Natur sowie von Schilderungen von Naturphänomenen – die Natur scheint geradezu als handlungskonstituierendes Element herausgestellt.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Natur und ihrer Darstellung innerhalb der Erzählung: Wie wird die Natur an sich im Text präsentiert; in welchen Formen tritt sie in Erscheinung? Welches Verhältnis besteht zwischen der Natur und den in ihr lebenden Menschen, besonders im Hinblick auf die unterschiedlichen Facetten und Gesichter, die Natur und ihre Elemente zeigen? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Vertreten wird dabei die Hypothese, dass die Natur aufgrund ihrer vielseitigen Beschaffenheit, ihres Potentials, sowohl gefährdend als auch helfend in Erscheinung zu treten, in ein ambivalentes Verhältnis mit dem Menschen tritt und unter jeweils anderen Aspekten betrachtet verschiedene Bedeutungen für ihn haben kann.

Drei verschiedene Gesichter der Natur, denen in Bergkristall eine wichtige Bedeutung zukommt, sollen hierzu im Rahmen der Analyse herausgearbeitet und näher beleuchtet werden: Natur als Bestandteil des Alltags, Natur als Bedrohung oder sogar direkte Gefährdung sowie Natur als helfende Instanz in Notlagen.

Als erster Aspekt soll der nächstliegendste untersucht werden: die direkte Umgebung der Bewohner des Dorfes Gschaid – dem Heimatdorf Konrads und Sannas – als ihr alltäglicher Lebensraum. Neben der Natur als Quelle landwirtschaftlicher und anderer alltäglicher Versorgung soll hier vor allem die Bedeutung des Berges betrachtet werden, die ihm im Rahmen des alltäglichen Lebens der Menschen zukommt. Bereits hierbei bieten sich mehrere Deutungsmöglichkeiten an: Zwar stellt der Berg einerseits eine Grenze zwischen den Dörfern Gschaid und Millsdorf dar, anderseits fungiert er zugleich auch als Verbindungsstück zwischen beiden Orten.

Im darauf folgenden Abschnitt soll die Bedrohlichkeit, die von der Natur und ihren Elementen ausgehen kann, untersucht werden. Betrachtet wird hierbei die Gefahr, in die die jungen Protagonisten der Erzählung geraten, als sie sich auf ihrer Wanderung über den Berg verlaufen und sich der immensen Macht der Natur und deren Elementen ausgesetzt sehen: Nicht nur, dass der permanent fallende Schnee den beiden eine räumliche Orientierung nahezu unmöglich macht, zusätzlich wird die eisige Gletscherlandschaft zum unüberwindbaren Hindernis für die Kinder, sodass sie ihre Versuche, nach Hause zu gelangen, schließlich vorübergehend einstellen müssen.

Daran anknüpfend wird anschließend ein zum vorangegangenen Abschnitt scheinbar kontrastierender Aspekt der Natur betrachtet – ihre Funktion als helfende beziehungsweise schützende Instanz, auch als Beistand gegen die von ihr selbst und ihrer Macht ausgehenden Gefahren: Mit der Höhle auf dem Berg, in der die verirrten Kinder schließlich Zuflucht vor Kälte und Schnee finden, bietet die Natur einen Schutzraum vor sich selbst und ihrer Bedrohlichkeit. In diesem Abschnitt werden auch die Naturphänomene betrachtet, die dazu beitragen, die erschöpften Kinder am Einschlafen zu hindern und somit vor dem Tod durch Erfrieren zu bewahren: die faszinierenden Lichter am Himmel und das mächtige Krachen der Gletscher des Berges.

Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und ein Fazit bezüglich des Verhältnisses von Mensch und Natur im Zusammenhang mit den verschiedenen Facetten der Natur und deren Darstellung im Text gezogen.

2. Natur als Teil des alltäglichen Lebens

Bereits vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung finden sich in Stifters Bergkristall umfassende Natur- und Landschaftsschilderungen: Der Binnenhandlung vorangestellt ist – neben einigen kurzen Ausführungen zu christlichen Festtagen im Allgemeinen und Heiligabend, dem Tag, an dem die zentrale Handlung stattfindet, im Besonderen (Vgl. S.173-175) – eine Rahmengeschichte. Diese beinhaltet eine ausführliche und detaillierte Beschreibung der Landschaft, innerhalb derer sich die spätere Handlung abspielt sowie eine Vorgeschichte zum späteren Geschehen, die die Hintergründe erläutert (S.175-192).

Die minutiöse Landschaftsschilderung dient einem bestimmten Zweck:

Die Stiftersche Landschaft ist keine absolute Landschaft; sie wird nirgends um ihrer selbst Willen beschrieben. Die topographischen Beschreibungen des Erzählers dienen der Orientierung des Lesers. Die Landschaften werden […] dem Leser beschrieben, sie besitzen eine auf ihn bezogene Funktion, nämlich die der fiktiven räumlichen Orientierung.4

Die exakten Beschreibungen des Erzählers sind notwendig für das Verständnis der späteren Ereignisse: Ohne Kenntnis der räumlichen Gegebenheiten des Handlungsschauplatzes – des Berges sowie des Dorfes Gschaid, aus dem die Kinder stammen, und dessen näherer Umgebung – fällt es schwer, nachzuvollziehen, wie und warum genau sich die Kinder im Gebirge verirren; an welchem Punkt ihre Orientierung im ihnen eigentlich vertrauten Naturraum aussetzt.

Hinzu kommt allerdings noch eine weitere Funktion: Neben dem reinen Orientierungsaspekt bietet der die Erzählung einleitende Abschnitt auch Einsicht in das alltägliche Leben der Menschen in Gschaid, ihr Verhältnis zur sie umgebenden Natur sowie die Art und Weise, wie sie mit ihr umgehen; wie sie sich mit ihr arrangieren und sie sich auch zunutze machen.

Die Macht der Natur und ihr Einfluss auf das Leben der Menschen wird bereits früh deutlich: Über diejenigen Menschen, die in noch oberhalb des eigentlichen Dorfes befindlichen Gegenden leben, heißt es, dass sie „im Winter oft ihre Toten aufbewahren müssen, um sie nach dem Wegschmelzen des Schnees zum Begräbnisse bringen zu können“ (S.176). Dieses Beispiel verdeutlicht die Kraft der Natur und ihre Möglichkeiten, die Menschen sowie ihr Leben und Handeln einzuschränken – der in der Natur lebende Mensch muss sich an die dort herrschenden Verhältnisse anpassen und sich der Übermacht der Natur zuweilen unterwerfen.

Ein besonderes Verhältnis zur Natur haben vor allem die Protagonisten, Sanna und Konrad:

Sie saßen gerne an dem Haselnußgehege, das auf dem Halse ist, und schlugen mit Steinen Nüsse auf, oder spielten, wenn keine Nüsse waren, mit Blättern oder mit Hölzlein oder mit den weichen braunen Zöpfchen, die im ersten Frühjahre von den Zweigen der Nadelbäume herab fielen. (S.192)

Durch regelmäßiges Überqueren des Berges ist den beiden der dortige Naturraum sehr vertraut geworden; er ist Ursprung von Freude und Unterhaltung, stellt gewissermaßen eine Art Spielplatz für die Kinder dar, einen Raum, in dem sie gerne eine gewisse Zeit verweilen und sich vergnügen.

Zudem bietet die Natur den Dorfbewohnern auch Vorteile und stellt eine bedeutende Quelle der grundlegenden Versorgung mit dem zum Leben Notwendigen dar. Wie die Menschen von ihrer natürlichen Umgebung profitieren, sie sich beispielsweise im Rahmen von landwirtschaftlichem Betrieb zunutze machen, soll im folgenden Abschnitt dargestellt werden, bevor daran anschließend der Berg als zentrales Element im Leben der Dorfbewohner betrachtet wird.

2.1 Versorgung und Landwirtschaft

Als Beispiel für die alltägliche Nutzbarmachung der Natur und ihrer Elemente sei an dieser Stelle die Beschreibung des Hauses des Dorfschusters – der zugleich der Vater der Hauptfiguren, Sanna und Konrad, ist – angeführt:

Das Schusterhaus hat nach rückwärts Stall und Scheune, denn jeder Talbewohner ist, selbst wenn er ein Gewerbe treibt, auch Landbebauer und zieht hieraus seine gute und nachhaltige Nahrung. Hinter diesen Gebäuden ist endlich der Garten, der bei fast keinem besseren Hause in Gschaid fehlt, und von dem sie ihre Gemüse, ihr Obst und für festliche Gelegenheiten ihre Blumen ziehen. Wie oft im Gebirge so ist auch in Gschaid die Bienenzucht in diesen Gärten sehr verbreitet. (S.184)

Der kurze Abschnitt verdeutlicht den hohen Stellenwert, den die Natur – sei es auch in domestizierter Form – im Leben der Menschen einnimmt. Ein eigener Garten ist ein angesehenes Gut und anerkannte Nahrungsquelle. Das gleich zu Anfang der Landschaftsschilderung vom Erzähler erwähnte „Grün vieler Obstbäume“ (S.175) erweckt zudem den Eindruck, dass ein großer Teil der Dorfbewohner eine solche Lebensweise praktiziert; dass es üblich scheint, sich weitgehend selbst zu versorgen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Betonung der Tatsache, dass eben auch die Betreiber eines eigenen Gewerbes nebenher noch ihrer privaten landwirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen.

Bereits die Kinder des Dorfes scheinen – zumindest ab einem gewissen Alter – mit der Landwirtschaft auf vertrautem Fuße zu stehen. So ist Konrad beispielsweise in der Lage, seiner jüngeren Schwester Sanna, wenn die beiden bei einem ihrer Besuche an den Feldern und Wiesen ihres Großvaters im Nachbardorf vorbeikommen, die verschiedenen Getreidearten zu erklären (S.191), was von einer gewissen Kenntnis seinerseits zeugt, die sich wahrscheinlich auf die anderen Einwohner seines Dorfes – beziehungsweise deren Kinder – übertragen lässt. Zudem weist die Textstelle darauf hin, dass auch im Nachbarort Millsdorf landwirtschaftlicher Betrieb herrscht, wenn auch wahrscheinlich in anderem und größerem Stil als in Gschaid üblich, so wie sich die Dörfer in vielem unterscheiden.5 Ein weiterer Hinweis darauf ist die Erwähnung der „ausgebreitete[n] Feldwirtschaft“ des Großvaters, der in Millsdorf als Färber tätig ist (S.185).

Neben dem Aspekt der reinen Versorgung mit Nahrungsmitteln liefert die Natur den Dorfbewohnern auch andere Rohstoffe, wie beispielsweise Holz. Die Aussage, dass „das Holz in Gschaid nicht teuer ist“ (S.184) deutet darauf hin, dass dieser Rohstoff in für jedermann ausreichender Menge zur Verfügung steht und zur weiteren Verarbeitung oder zum Heizen der Behausungen genutzt werden kann.

Indem die Bewohner von Gschaid sich weitestgehend mithilfe der sie umgebenden Natur versorgen und versuchen, deren Gegebenheiten so weit wie möglich zu ihrem Vorteil einzusetzen, nehmen sie also, was ihre alltägliche Lebensführung betrifft, „eine praktisch ökonomische Haltung gegenüber der Natur“6 ein und „führen […] ein Leben ganz im Zeichen der Natur.“7

Welche Rolle in diesem von der Natur geprägten Leben der Berg, der Gschaid vom Nachbarort Millsdorf trennt, spielt und welche teilweise ambivalenten Funktionen ihm zukommen, soll im Folgenden untersucht werden.

2.2 Der Berg Gars

„Das Dörflein heißt Gschaid, und der Schneeberg, der auf seine Häuser herabschaut, heißt Gars.“ (S.182). Dieser Satz, der den ersten Teil der umfänglichen Landschaftsschilderung zu Beginn der Erzählung abschließt, nennt erstmals die Namen des zuvor beschriebenen Dorfes sowie des sich daneben – beziehungsweise darüber – befindenden Berges. Für die Einwohner von Gschaid hat Gars eine besondere Bedeutung, wie bereits an der ersten Beschreibung des Berges abzulesen ist:

Gegen Mittag sieht man von dem Dorfe einen Schneeberg, der mit seinen glänzenden Hörnern fast oberhalb der Hausdächer zu sein scheint, aber in der Tat doch nicht so nahe ist. Er sieht das ganze Jahr, Sommer und Winter, mit seinen vorstehenden Felsen und mit seinen weißen Flächen in das Tal herab. Als das Auffallendste, was sie in ihrer Umgebung haben, ist der Berg Gegenstand der Betrachtung der Bewohner, und er ist Mittelpunkt vieler Geschichten geworden. Es lebt kein Mann und Greis in dem Dorfe, der nicht von den Zacken und Spitzen des Berges, von seinen Eisspalten und Höhlen, von seinen Wässern und Geröllströmen etwas zu erzählen wüßte, was er entweder selbst erfahren, oder von andern erzählen gehört hat. Dieser Berg ist auch der Stolz des Dorfes, als hätten sie ihn selber gemacht, und es nicht so ganz entschieden […], ob sie nicht zuweilen zur Ehre und zum Ruhme des Berges lügen. (S.177)

Die Dorfbewohner sind stolz auf ihren Berg und hegen besondere Gefühle für ihn – ungeachtet der Tatsache, dass „er als Eigentum einzig eines Tales gar nicht angesprochen werden kann, denn er ist ebenso der Berg anderer anliegender Täler.“8 Er ist ein naturgeschaffener Blickfang, gewissermaßen die Hauptattraktion der Umgebung, und jederzeit ein gutes Gesprächsthema, zu dem jeder etwas zu sagen hat und das somit kollektiv- und identitätsstiftend für die Dorfgemeinschaft wirkt.

Dem Berg scheint etwas Allgegenwärtiges anzuhaften: Bereits die Aussage, dass er „fast oberhalb der Hausdächer zu sein scheint, aber in der Tat doch nicht so nahe ist“ (S.177) erweckt den Anschein, dass er aus der Ferne unablässig über das Dorf, beziehungsweise die gesamte umliegende Landschaft, wacht. Dieser Eindruck wird verstärkt durch eine anhaltende Anthropomorphisierung, die der Berg durch Aussagen des Erzählers erfährt. Der gehäufte Gebrauch von verba sentiendi wie ‚sehen’ oder ‚blicken’ im Kontext der Beschreibung von Gars vermittelt die Vorstellung, der Berg als zentrales Objekt der Anschauung blicke seinerseits in der Gegend umher und betrachte Mensch und Natur.

Derartige Formulierungen durchziehen den gesamten Text, von der ersten Erwähnung, dass der Berg „das ganze Jahr […] in das Tal herab [sieht]“ (S.177) bis zum Ende der Erzählung, die mit der Aussage schließt, dass der Berg weiterhin auf das Tal und seine Bewohner „hernieder schaut“ (S.229). „Die Einwohner sehen ihren Berg ständig an; und sie haben das Gefühl, daß auch sie von ihm betrachtet werden.“9 Dieses fortwährende „Sehen und Gesehenwerden“10 verdeutlicht, wie sehr die Einwohner von Gschaid auf ‚ihren’ Berg fixiert sind und in welchem Maß ihr Leben von dessen steter Präsenz geprägt ist.

Diese Bedeutung als beständiger Bezugspunkt wird zudem deutlich an der Beschreibung des Berges während unterschiedlicher Jahreszeiten; des Wandels, den er in einem Jahr durchläuft. So erscheint etwa im Winter, vollends eingeschneit und vereist, „die ganze Masse wie ein Zauberpalast“ (S.178) während Eis und Schnee sich im übrigen Teil des Jahres stellenweise zurückziehen und das darunter Liegende offenbaren (Vgl. S.178f.). An diesen beständigen und stets gleich bleibenden Veränderungen der Natur orientieren sich die Dorfbewohner „und berechnen an ihnen den Fortschritt des Jahres“ (S.179).

Zusätzlich zu seinen Eigenschaften als Anziehungs- und Orientierungspunkt bietet der Berg den Einwohnern von Gschaid auch noch „wirklichen Nutzen“ (S.177). Beispielsweise „sendet der Berg von seinen Schneeflächen Wasser herab“ (S.178), das den das Tal durchfließenden Bach speist. Hierdurch wird die Trinkwasserversorgung für Mensch und Vieh gewährleistet sowie der Antrieb von für verschiedene Gewerbe notwendigen Mühlen ermöglicht.

Auch das zum Leben benötigte Holz11 stammt von Gars: „Von den Wäldern des Berges kömmt das Holz und sie halten die Lawinen auf.“ (S.178). Zusätzlich zur Versorgung mit Brenn- und Baumaterial kommt dem Bewuchs des Berges also auch noch eine Schutzfunktion zu.

Zudem erhalten die Dorfbewohner eine zusätzliche Arbeit beziehungsweise Aufgabe, „denn wenn eine Gesellschaft von Gebirgsreisenden herein kömmt, um von dem Tale aus den Berg zu besteigen, so dienen die Bewohner des Dorfes als Führer“ (S.177), was ihrerseits als angesehene Auszeichnung betrachtet wird und zusätzlichen Anlass und Gesprächsstoff für die allseits beliebten Unterhaltungen über den Berg liefert.

Neben den bereits angeführten Aspekten erfüllt der Berg noch eine weitere Funktion, und zwar eine doppelte: Durch seine geografische Lage genau zwischen den Dörfern Gschaid und Millsdorf erscheint er einerseits als – sowohl topografische wie auch als symbolische – Grenze zwischen den beiden Orten. Durch den über den Bergrücken führenden Weg von einem Dorf ins andere fungiert er aber zugleich auch als verbindendes Element. Wie diese beiden Funktionen innerhalb der Erzählung konstituiert werden und wie sie miteinander einhergehen soll in den folgenden Abschnitten untersucht werden.

2.2.1 Der Berg als Grenze

[G]egen Mittag, wo das Tal durch steilrechte Mauern fast geschlossen scheint, geht […] ein Weg über den obbenannten Hals. Das Dörflein heißt Gschaid, und der Schneeberg, der auf seine Häuser herab schaut, heißt Gars. Jenseits des Halses liegt ein viel schöneres und blüherendes Tal, als das von Gschaid ist, und es führt […] der gebahnte Weg herab. Es hat an einem Eingange einen stattlichen Marktflecken Millsdorf […]. (S.182)

Diese in Teilen bereits zuvor zitierte Textstelle bringt – in sehr knapper Form – die räumlichen Gegebenheiten, die die Grundlage der Erzählung bilden, zum Ausdruck: Zwei Dörfer in verschiedenen Tälern eines Gebirges, Millsdorf und Gschaid genannt, dazwischen liegt der Berg Gars. Dieser Berg kann zwar überquert werden, stellt aber durch seine geografische Position zwischen den Dörfern und dem damit einher gehenden visuellen Hindernis zunächst einmal eine gewisse Grenze dar.

Der Eindruck einer Grenzfunktion wird dadurch erhärtet, dass die Bergwände als „steilrechte Mauern“ (S.182) bezeichnet werden, als würde es sich um menschengemachte Steinmauern handeln, errichtet in der zielgerichteten Absicht, eine Grenze zu ziehen. Die Bezeichnung ‚Mauer’ wird nicht bloß vom Erzähler verwendet, auch die Dorfbewohner selbst gebrauchen den Ausdruck, um den Rand ihres Tales zu beschreiben; so ist bereits an früherer Stelle die Rede von den „steilrechten Wände[n], die die Bewohner Mauern heißen“ (S.178). Hierdurch verstärkt sich der Anschein zweier durch den Berg voneinander isolierter Dörfer.

[...]


1 Der Arbeit zugrunde liegend ist folgende Textausgabe: Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Ein Festgeschenk von Adalbert Stifter. Zweiter Band. In: Bachmaier, Helmut (Hg.): Adalbert Stifter. Bunte Steine. Stuttgart: Reclam 2016, S.173-229. Verweise auf den Primärtext werden im Folgenden in Klammern in den Fließtext integriert.

2 Vgl. Begemann, Christian/Giuriato, Davide (Hg.): Adalbert-Stifter-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2017, S.83.

3 Vgl. ebd. S.9.

4 Küpper, Peter: Literatur und Langeweile. Zur Lektüre Stifters. In: Stiehm, Lothar (Hg.): Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Heidelberg: Stiehm 1968, S. 171-188 (hier: S.183).

5 Vgl. hierzu Kapitel 2.2.1.

6 Berendes, Jochen: Ironie – Komik – Skepsis. Studien zum Werk Adalbert Stifters. Tübingen: Niemeyer 2009, S.190.

7 Begemann, Christian: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart: Metzler 1995, S.315.

8 Berendes, S.189.

9 Swales, Martin: Historizität, Modernität, Postmodernität. Überlegungen zu Bedeutung von Stifters Prosa mit Bezug auf eine Textstelle in ‚Bergkristall’. In: Doppler, Alfred et al (Hg.): Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert. Biographie – Wissenschaft – Poetik. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 227-233 (hier: S.230).

10 Ebd.

11 Vgl. hierzu Kapitel 2.1

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Die Ambivalenz der Natur in Adalbert Stifters "Bergkristall"
Untertitel
Zur Darstellung von Natur und ihrem Verhältnis zum Menschen
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
29
Katalognummer
V1009849
ISBN (eBook)
9783346399113
ISBN (Buch)
9783346399120
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ambivalenz, natur, adalbert, stifters, bergkristall, darstellung, verhältnis, menschen
Arbeit zitieren
Mareike Heins (Autor:in), 2020, Die Ambivalenz der Natur in Adalbert Stifters "Bergkristall", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1009849

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