Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Biografisches zu Tacitus. Generelles zur Germania
2 Die Tracht der Germanen in Tacitus’ Germania
2.1 Kleidung der Männer
2.2 Kleidung der Frauen
2.3 Materialkunde der germanischen Tracht
3 Bedeutungspotenzial des Kapitels 17 und der gesamten Germania
4 Bibliografie
5 Anhang: Übersetzung des Kapitels 17
1 Biografisches zu Tacitus. Generelles zur Germania
Als die französische Schriftstellerin Baronin Germaine de Staël zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihr meistgelesenes Buch Über Deutschland (De l’Allemagne) veröffentlichte, in welchem sie ein stark idealisiertes Bild von den Deutschen zeichnete, das sich in einigen Teilen bis heute erhalten hat, konnte sie auf ein Vorbild in der römischen Antike zurückblicken: Tacitus’ Germania. Publius (oder Gaius) Cornelius Tacitus (geboren um 55 n. Chr., gestorben um 120 n. Chr.) war ein römischer Historiker, der als Gerichtsredner den cursus honorum durchlief und gegen Lebensende Statthalter in der Provinz Kleinasien war. Vermutlich im Jahre 98 verfasste er seine ethnografische Prosaschrift über das germanische Volk, die „als Spezialschrift über ein fremdes Volk ein Unikum“1 ist. Sie trägt wahrscheinlich den Titel De origine et situ Germanorum und wird in 46 Kapitel gegliedert. Dass Tacitus nicht selbst in Germanien war, sondern sich in der Hauptsache auf Caesars Commentarii de bello Gallico, Livius und auch auf ein verlorenes Werk von Plinius über die römischen Schlachten mit den Germanen beruft, muss den Leser zu einer kritischen Lektüre veranlassen. Andere schriftliche Zeugnisse jener Zeit sowie Moorfunde und archäologische Bestimmungen der Neuzeit belegen einen Teil der taciteischen Aussagen ebenso, wie sie andere als zu generalisiert, missverstanden oder gar haltlos erscheinen lassen.
So wie sich der Ursprung von den Deutschen zugeschriebenen Eigenschaften wie das schon sprichwörtlich gewordene Attribut, die Deutschen seien ‚das Volk der Dichter und Denker‘, in Germaine de Staëls Über Deutschland finden lässt, erlaubt Tacitus’ Germania in ihrem ersten Teil bedeutsame Rückschlüsse auf privates und öffentliches Leben, Kampfweise, Religion und freilich das Aussehen der Germanen um die Zeitenwende. Tacitus beschreibt dabei nicht nur die verschiedensten Lebensbereiche des Nachbarvolks der Römer, sondern stellt auch Vergleiche mit den Wesensarten und Zuständen in Rom an, wobei sich zugespitzte Darstellungen finden, „mit denen der Autor die eigenen Landsleute bedenkt“2. Als Leitmotive entwickeln sich dabei Reinheit und Natürlichkeit der Germanen, denen in Rom Oberflächlichkeit, Genusssucht und so etwas wie Dekadenz gegenüberstehen. Die zweite Hälfte der so genannten ‚kleinen Schrift‘ des Tacitus enthält ihrerseits Beschreibungen einzelner germanischer Stämme.
Es ist die Epoche der silbernen Latinität, in die die Germania einzufügen ist. Kennzeichnend ist etwa die diffuse Grenze zwischen Poesie und Prosa, was sich im vorliegenden Werk beispielhaft an den Prinzipien brevitas, varietas und inconcinnitas3 verdeutlicht. Eigenheiten, die vor Tacitus nur in der Dichtung anzutreffen waren, z. B. Dativ des Urhebers anstatt der Präposition ab mit dem Ablativ, und Abweichungen vom regelmäßigen Gebrauch der Modi begegnen nun gehäuft.
In der vorliegenden Arbeit soll das Kapitel 17 der Germania, in dem Tacitus eine Beschreibung der Kleidung der germanischen Männer und Frauen bietet, einer inhaltlichen Analyse unterzogen werden. Ausgangspunkt bildet dabei die von Gerhard Perl edierte Textausgabe; der textkritische Apparat wird dabei nicht in Betracht gezogen, da der Schwerpunkt nicht auf der Analyse sprachlicher Varianten liegen, sondern die inhaltliche Seite ins Auge gefasst werden soll. Jedoch sollen stilistische Auffälligkeiten wie die Verknüpfung mit vorangehendem und nachfolgendem Kapitel einbezogen werden. Für die inhaltliche Deutung werden die Kommentare von Rudolf Much, Georg Ammon und J. G. C. Andersen herangezogen. An geeigneter Stelle soll der Blick auch auf ausgewählte Werke anderer römischer und griechischer Autoren, die Referenzstellen zum behandelten Kapitel liefern, gerichtet werden. Ein Übersetzungsvorschlag des Kapitels 17 findet sich im Anhang auf Seite 16 und soll den Abschluss der Arbeit bilden.
2 Die Tracht der Germanen in Tacitus’ Germania
2.1 Kleidung der Männer
Ging es im vorangehenden Kapitel 16 der Germania noch um germanische Siedlungsformen, für den Hausbau verwendete Materialien und das Wesen unterirdischer Gruben, so findet Tacitus einen gekonnten Übergang zu Kapitel 17, wie es so typisch für dieses sein Werk ist: Die einzelnen Kapitel sind durch ihren inhaltlichen Zusammenhang mal mehr, mal weniger eng miteinander verknüpft und bilden so eine Einheit ohne überraschende Zäsuren. Verbindendes Element zwischen diesen beiden Kapiteln kann in der Darstellung von bloßen Äußerlichkeiten bestehen, die von der Behausung nun auf die Kleidung fokussiert.4
Da Tacitus die zweite Sinneinheit des Kapitels 17 mit den Worten nec alius feminis quam viris habitus einleitet, kann davon ausgegangen werden, dass es sich beim Text zuvor vordergründig um eine Beschreibung der Eigenarten der Männertrachten handelt, genauer „der Germanen im Frieden“5. So tragen also alle Männer ein sagum (σάγος), worunter aus römischer Sicht ein „viereckiges Stück groben Wolltuches“6 als „deckenartiger Umhang“7 zu verstehen ist. Dieses Stück Stoff wird wie ein Mantel gebraucht und muss – ähnlich der römischen Toga, nur nicht so lang – um den Körper gewickelt und mit einer Spange (Fibel) oder einem Dorn befestigt getragen worden sein.8 Der Begriff selbst ist keltischen Ursprungs und bezeichnet in Rom den Soldatenmantel als Zeichen des Krieges im Unter- schied zur Toga als Zeichen des Friedens. Somit liegt hier ein weiterer Verweis auf den ausgesprochen kriegerischen Wesenszug der Germanen vor. Mit der Tatsache, dass im Bedarfsfall auf einen Dorn zur Fixierung zurückgegriffen wird (der mit einer Schlinge versehen sein muss, um ausreichend Halt gewährleisten zu können), führt Tacitus ein Beispiel der Genügsamkeit, der simplicitas, auch der Nähe zur Natur an. Much widerspricht allerdings der allgemein formulierten Aus- sage, die Fibel sei gängiger Bestandteil der Kleidung und „durch eine Unzahl von Funden“9 belegt; vielmehr bemerkt er, dass „der Besitz von Fibeln in der Tat selten war“10 und wohl eher der hölzerne (und nicht erhalten gebliebene) Dorn weiter verbreitet gewesen sein muss. Metallfibeln würde er wegen ihrer Nähe zum Kopf bei den Grabfunden eher zum Haarschmuck oder zur Kopfbedeckung zählen und nicht zu den Bestandteilen des Mantels.
Die reichsten unter den Germanen unterscheiden sich nach Tacitus durch ein enganliegendes Untergewand; demnach hat „die große Masse […] nichts als den Mantel“11, wobei der Mantel per se wiederum kein Unterscheidungsmerkmal darstellt. In der Sekundärliteratur besteht keine einhellige Meinung über die exakte Bedeutung dieser Textpassage, was Andersen auf eine fehlende Definition des Begriffs vestis zurückführt. Seiner Ansicht nach trugen einerseits nur die Wohlhabenden Untergewänder, was sich auch in Kapitel 6, 2 widerspiegelt, in dem Tacitus bemerkt, dass die germanischen Soldaten nackt kämpfen oder nur mit einem leichten Umhang (sagulum als Diminutiv zu sagum) bekleidet sind.12 Andererseits ist „in einem Land wie Germanien im Winter mit dem sagum allein unmöglich auszukommen“13. Die Klärung dieser Uneinigkeit muss eben in der Bedeutung des Worts vestis liegen, was nämlich neben „Leibkittel“14 als Kleidungsstück für den Oberkörper auch „Langhose“14 bedeutet und sich dann mit dem von Tacitus angeführten Unterschied zu den wehenden Gewändern der Parther und Sarmaten wie auch mit den Funden von germanischen Moorleichen der Neuzeit deckt. Hosen waren bei den Germanen viel eher im Gebrauch als bei den Römern; deshalb erwähnt Tacitus dieses für seine Begriffe besondere Kleidungsstück auch und be- schreibt es als stricta et singulos artus exprimente, was tatsächlich auf Beinkleider schließen lässt, denn am Oberkörper tragen die Germanen ja den Mantel, sodass die Sicht auf einzelne Glieder verdeckt sein dürfte.
Die Verbreitung von Kittel und Hose ist im Übrigen regionalen Unterschieden unterworfen; der Kittel scheint „im dänisch-skandinavischen Gebiet zu fehlen […] und nur in Nord- und Nordwestdeutschland“15 aufzutreten. Die Ursache hier- für wie auch für die begrenzte Verbreitung der Hose ist unsicher:
Unter den sehr zahlreichen Trachtenfunden bei Moorleichen (…) und sonstigen Moorfunden begegnen Hosen nur in Nordwestdeutschland, obwohl mindestens auch für Dänemark (…) vorzügliche Erhaltungsbedingungen vorliegen. Ob hier ein […] begrenztes lokales Trachtengebiet vorliegt, oder woraus sich sonst diese regionale Eingrenzung der Hosenfunde erklärt, läßt sich noch nicht mit Sicherheit erkennen.16
Das enge Anliegen der Unterkleider hatte natürlich den Zweck, einen Wärmeschutz gegen das recht raue Klima zu bieten. So erklärt sich auch, dass die südlicher und damit wärmer siedelnden Völker wie die Parther und Sarmaten eher wallende Gewänder benutzen, um die Kühlung der Haut zu ermöglichen.
Neben sagum und Unterkleidern sind – als logische Reaktion auf die niedrigen Temperaturen – Pelze getragen worden, „in gleicher Form von Männern und Frauen“17. Folgender Typ Kleidungsstück ist denkbar:
Im Norden scheint allgemein ein capeartiger – also ärmelloser – Pelzumhang üblich gewesen zu sein, der entweder vorn auf der Brust oder auf der rechten Schulter geschlossen war. Die Länge des Umhangs war verschieden. In der Regel reichte er wohl nur bis zur Hälfte der Oberschenkel.18
Much zeigt sich verwundert, dass dieser Umstand „auf den antiken Bilddarstellungen fast völlig fehlt“19 und folgert daraus, dass es unzulässig sei, „eine weiter verbreitete Pelztracht anzunehmen“20. Tacitus erwähnt den Gebrauch von Pelzen auch schon in einem früheren Werk und bemerkt im Zusammenhang mit germanischen Kriegern, dass diese mit Produkten wilder Tiere bedeckt sind.21 Von Mänteln ist nicht ausdrücklich die Rede; auch eine Stelle bei Isidor, bei der germanische Kleidungstücke beschrieben sind, die von der Schulter über die Brust bis zum Nabel reichen22, lässt den Schluss zu, dass es sich eher um „eine Art Wams“23, und nicht um bis zur Hüfte reichende Mäntel handelt. Diese Vermutung wird gestützt durch zwei Stellen bei Caesar, die ebenfalls Pelzbekleidung der Germanen thematisieren, die so kurz ist, dass sie große Teile des Körpers nackt lässt.24 Dies mag selbstverständlich je nach Gebiet unterschiedlichen Gepflogenheiten unterworfen sein. Ebenso ist denkbar, dass im Alltag längere Mäntel benutzt wurden, im Kampfe jedoch – schlichtweg zu Gunsten der besseren Handhabe und Beweglichkeit – kürzere, dennoch wärmende Kleidungsstücke.
Überhaupt – und dies gilt auch für die folgenden Ausführungen zur Tracht der germanischen Frau – erscheint es unmöglich, mit der Knappheit, mit der Tacitus an dieser Stelle operiert, universelle, allgemeingültige Angaben über das Kleidungswerk zu liefern. Die heutige Bundesrepublik Deutschland ist gebietsmäßig erheblich kleiner als das Germanien zur Zeit Tacitus’ – und dennoch wird sich wohl heute ein Mecklenburger dagegen erheben, wenn er von außerhalb den Satz ‚die deutschen Männer tragen Lederhosen und einen grünen Filzhut‘ zu hören bekommt.
2.2 Kleidung der Frauen
Wenn Tacitus nun über die Frauenkleider spricht, so beginnt er unverzüglich mit einer Behauptung, die von den Kommentatoren kritisch bewertet und viel diskutiert wird. Die Kleidung der Frauen sei nicht anders als die der Männer, schreibt Tacitus – „man hat Anstoß genommen, daß die Frauen die gleiche Kleidung sollten getragen haben wie die Männer“25, schreibt Ammon, „eine sicherlich unrichtige Behauptung“26, schreibt Fuhrmann, und Much vermerkt ebenfalls eine Unstimmigkeit:
[Das] widerspricht den bildlichen Darstellungen und auch den archaeologischen Befunden. Soweit das Material zugänglich ist, scheint sich zu ergeben, daß Hosen niemals im Zusammenhang mit Frauenleichen gefunden wurden. […] Nach Aussage des archaeologischen Materials stellt die Hose eine reine Männertracht dar.27
[...]
1. M. Fuhrmann: Tacitus, Germania, Stuttgart 2000, S. 101.
2. Fuhrmann, S. 99.
3. Unter brevitas versteht man Kürze im Ausdruck, beispielsweise die Tilgung leicht zu ergänzender Satzbestandteile wie der Kopula esse und häufig verwendeter Verben sowie den Gebrauch von Partizipial- und Präpositionalausdrücken anstelle längerer Nebensätze. Reicher Formenschatz und unklassische syntaktische Verknüpfungen werden unter dem Begriff varietas zusammengefasst, und inconnitas schließlich verweist auf anakoluthische Satzgefüge.
4. Es soll hier nicht Thema sein, auf das Hendiadyoin focum atque ignem einzugehen, also die Feuerstelle, an der die Germanen nach Tacitus mehrere Tage nackt zugebracht haben sollen.
5. G. Ammon: Germania von Cornelius Tacitus, Bamberg 1927, S. 124.
6. R. Much: Die Germania des Tacitus, Heidelberg 1g67, S. z6o.
7. Much, S. z61.
8. Abbildungen finden sich bei J. G. C. Andersen: Cornelii Taciti De origine et situ Germanorum, Oxford 1938, Abb. 14, 15 und 16 nach S. 106 sowie bei K. Schumacher: Germanendarstellungen, Mainz 1935.
9. Ammon, S. 125.
10. Much, S. 263.
11. Much, S. 264.
12. Vgl. Andersen 1938, S. 106.
13. Much, S. 265.
14. Ammon, S. 126.
15. Much, S. 267.
16. Much, S. 266.
17. Much, S. 269.
18. Ebd.
19. Much, S. 268.
20. Much, S. 269.
21. Vgl. Hist. 2, 88.
22. Etym. 19, 23, 4.
23. Much, S. 272.
24. Bell. Gall. 4, 1 und 6, 21.
25 Ammon, S. 127.
26 Fuhrmann, S. 78.
27 Much, S. 274.